Jagdszenen aus Niederbayern

Eine Erinnerung an Martin Sperrs Bühnenstück und Peter Fleischmanns Film aus aktuellen Anlässen

Von Bernd NitzschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Nitzschke

In Peter Fleischmanns Film Jagdszenen aus Niederbayern, der im Sommer 1968 in Unholzing, einem Dorf in der Nähe der tschechischen Grenze, gedreht wurde, donnert ein Starfighter über den weißblauen Himmel, während unten in idyllischer Landschaft Bauern die Ernte einfahren. Die Sowjets waren damals gerade in Prag einmarschiert. Also musste die Nato Kampfbereitschaft demonstrieren.

Hier das Schlachtfeld – dort das Schlachtfest. Hier die sittenstrenge Dorfgemeinschaft – dort die geilen Gaffer. Hier die frommen Beter – dort die Menschenjäger. Der Film lebt von solchen Gegensätzen – und doch stellt er die Grenze zwischen Gut und Böse im Verlauf der Handlung immer mehr infrage. Er wurde 1969 in Cannes uraufgeführt. Bei diesen Filmfestspielen gewann Dennis Hopper mit Easy Rider den Preis für das beste Erstlingswerk. Sein Hippie-Road-Movie thematisiert ja bekanntlich auch den Gegensatz zwischen der mörderischen Rechtschaffenheit einer kompakten Majorität – in diesem Fall sind es patriotische US-Bürger, die am Nationalfeiertag zur Marschmusik paradieren – und einer anarchisch gesinnten Minderheit, deren bloße Existenz das Selbstverständnis der Anständigen bedroht.

Die deutsche Erstaufführung des Films Jagdszenen aus Niederbayern fand wenig später in Landshut statt. Martin Sperr, auf dessen gleichnamigem Bühnenstück der Film beruht und der im Film den schwulen Mechaniker Abram spielt, ist in der Nähe dieser Stadt aufgewachsen. Im wahren Leben war er Zögling eines Internats der Barmherzigen Brüder bei Algasing, ein Heim, in dem heute behinderte Männer untergebracht sind. Bei der Eröffnung der 17. Landshuter Literaturtage im November 2014, die Martin Sperr gewidmet waren, hob der Oberbürgermeister der Stadt den früh verstorbenen Dramatiker und Schauspieler neben Rainer Werner Fassbinder und Franz Xaver Kroetz als einen der wichtigsten Vertreter des in den 1960er Jahren zu neuem Leben erweckten bayrischen Volkstheaters hervor. Mit Jagdszenen aus Niederbayern, die er als Siebzehnjähriger zu schreiben begann, habe Sperr seine Heimat „unsterblich gemacht“.

Auf diesen Ruhm hätten die braven Bürger gerne verzichtet, die sich nach der Premiere des Films in Leserbriefen an die Landshuter Zeitung Luft machten. Ein „heimattreuer Niederbayer“ reagierte damals mit „heiligem Zorn“, denn dieser Film „mit schmutzigem Inhalt“ verletze alle, „die sich gesundes Empfinden bewahrt haben und zu alter Vätersitte stehen“. Gerade deshalb erhielt der Film, der die dunklen Abgründe scheinheiliger Wohlanständigkeit ans Tageslicht bringt, das Prädikat „besonders wertvoll“. Denn das Problem, um das es geht, ist nicht von gestern, es ist von heute; das heißt, es ist zeitlos.

Anlässlich der Neuinszenierung des Stückes von Martin Sperr, die im Februar 2015 an den Münchner Kammerspielen Premiere hatte, erinnerte sich Martin Kušej, der Regisseur der Aufführung, an seine eigene Kindheit: „Ich komme aus exakt einem solchen Dorf und kenne das alles zu genau. Ich habe diese drückende Atmosphäre mit der Milch mitbekommen: die bedrohliche Enge, die ewig gleichen Vorurteile, die korrupte Verlogenheit, die bigotte Frömmigkeit.“ Und Gundi Ellert, die in der Münchner Aufführung die Mutter spielt, die ihren schwulen Sohn Abram verstößt, sagte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (20. 2. 2015): „Eben deshalb ist das Stück exemplarisch, weil es um Ausgrenzung allgemein geht. Das Dorf will nicht, dass die bestehende Ordnung gestört wird. Die Welt soll bleiben, wie sie ist. … Ausgrenzung aber macht Menschen zu Monstern, das erleben wir ja heute immer noch.“

In der französischen Zeitschrift Telerama konnte man vierzig Jahre nach der Uraufführung des Films von Peter Fleischmann lesen: „Wir wetten unsere Hand dafür, dass Jagdszenen aus Niederbayern der Lieblingsfilm von Michael Haneke ist.“ Gemeint ist der Regisseur des Films Das Weiße Band, der in Cannes 2009 die Goldene Palme erhielt. Jagdszenen aus Niederbayern finden eben nicht nur im katholischen Süden, sie finden auch im protestantischen Norden Deutschlands statt. In der Filmzeitschrift Cahiers du Cinema hieß es dazu 1969: „Jagdszenen aus Niederbayern ist vielleicht der erste wirklich deutsche Film seit Kriegsende, nicht weil es ein Film über Deutschland wäre oder über typisch deutsche Verhaltensweisen: Rassismus, Faschismus, irrationale Ausgrenzungen gibt es überall; sondern weil er tief verwurzelt ist in seinem Land, seiner Kultur, seinem Alltag.“ Ja, das niederbayrische Dorf, um das es in dem Stück von Martin Sperr und in dem Film von Peter Fleischmann geht, ist der Mikrokosmos, indem sich die ganze Welt spiegelt. Oder, um es mit Verweis auf eine Parabel des Dramatikers Max Frisch zu sagen: Andorra ist überall.

Wem ein Kainszeichen auf die Stirn gemalt wird, der wird zum schwulen Mechaniker Abram aus Niederbayern. Und die Meute hetzt ihn – mit gutem Gewissen. Das Thema ist brandaktuell. Denken wir nur an den Gegensatz, den Autoren wie Thilo Sarrazin und Henryk M. Broder konstruiert haben – und der von „Wir-sind-das-Volk“ brüllenden Spießern allwöchentlich neu in Szene gesetzt wird: Hier stehen wir, die anständigen Bürger, und können nicht anders, als vor arbeitsscheuen Migranten zu warnen, die in Moscheen den Untergang des Abendlandes vorbereiten. Lutz Bachmann, der Initiator der Bewegung Patriotische Europäer gegen die Islamisierung, ist dreifach vorbestraft: wegen Diebstahl, Einbruch und Körperverletzung. In einem Facebook-Eintrag bezeichnete er Asylbewerber als „Viehzeug“, „Dreckspack“ und „Gelumpe“. Auf einem Foto posierte er als Adolf Hitler. Das sei ein Scherz gewesen, meinte er später. Dieser Scherz hatte eine tiefere Bedeutung: Adolf Hitler, der Lumpenproletarier aus dem Wiener Obdachlosenmilieu, brachte, nachdem er zum „Führer“ der „deutschen Herrenrasse“ aufgestiegen war, seinesgleichen – Bettler und Kriminelle – hinter Schloss und Riegel, sprich: ins KZ. Und deshalb konnte die deutsche Frau – wie es der Volksmund bis heute behauptet – nachts wieder allein ohne Angst nachhause gehen.

„Die sollen alle ins Arbeitslager. Dann is a Ruh.“ So antwortet ein Passant in dem von Peter Fleischmann gedrehten Dokumentarfilm Herbst der Gammler, der 1968 mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, auf die Frage, wie man mit den jungen Leuten umgehen solle, die, anstatt den von ihren Vätern und Großvätern vorgezeichneten Weg zu gehen und fleißig zu arbeiten, mit langen Haaren herumliefen und auf Straßen und Plätzen Musik machten. Herbst der Gammler– das war ein prophetischer Titel. Zehn Jahre später kam Deutschland im Herbst (1978) ins Kino, eine Collage aus Spiel- und Dokumentarfilmszenen, an der sich die Elite des Neuen Deutschen Films – darunter Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff und Alexander Kluge – beteiligte. Der Film beginnt und endet mit dieser Texteinblendung: An einem bestimmten Punkt der Grausamkeit angekommen, ist es schon gleich, wer sie begangen hat: sie soll nur aufhören.

Der Satz bezog sich auf die Selbstverblendung der Desperados, die sich als Rote Armee Fraktion ausgaben, und auf die Selbstgerechtigkeit der kompakten Majorität, deren Sprachrohr, die Bild-Zeitung, zum Halali geblasen hatte. Heinrich Böll erkannte – wie er 1972 im Spiegel schrieb – in einem dieser Bild-Artikel den Aufruf zur Lynchjustiz, was ihm, der im selben Jahr mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, den Titel „Sympathisant des Terrors“ einbrachte.

1974 erschien Heinrich Bölls Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum, die davon handelt, wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann, beziehungsweise davon, wie die Hetzkampagne einer Boulevardzeitung zum Auslöser eines Mordes wird. In der von Volker Schlöndorff verfilmten Erzählung spielt Angela Winkler die Katharina Blum, wofür sie 1976 das Filmband in Gold erhielt. Als damals noch vollkommen unbekannte Schauspielerin trat Angela Winkler erstmals in Jagdszenen aus Niederbayern auf; hier spielt sie das Dienstmädchen Hannelore, das sich eine Freiheit herausnimmt, die in dem von Doppelmoral beherrschten Dorf nur Männern zusteht: Sie schläft, mit wem sie will, und bestimmt den Preis dafür selbst. Der Preis, den sie dafür bezahlt, besteht darin, dass sie von den Männern des Dorfes zum Freiwild gemacht wird, denn sie gilt als Schlampe, als Hure, über die jedermann verfügen kann.

Auch für Hanna Schygulla, die in Jagdszenen aus Niederbayern die Fabrikarbeiterin Paula spielt, war das der erste Kinofilm. Neben diesen beiden Debütantinnen treten Laiendarsteller vor die Kamera. Ernst Wagner zum Beispiel, im wirklichen Leben ein Landstreicher, den der Regisseur auf der Fahrt zum Drehort in einem Schnellimbiss getroffen hatte, wo er von ihm wegen einer Tasse Kaffee angebettelt wurde. Der Mann bekam, was er wollte, und noch zwei Semmeln dazu, musste dafür aber in Fleischmanns Film die Rolle des Knechts Volker übernehmen, der bei der Witwe Maria Dienst tut. Und Ernstl, der Sohn der Witwe, der den schwachsinnigen Dorftrottel spielt, kam im wirklichen Leben aus einem katholischen Erziehungsheim, in dem ihn seine alkoholkranke Mutter abgegeben hatte. Michael Strixner schließlich, der in der Rolle des Knechts Georg die Meute anführt, die den schwulen Abram durchs Dorf hetzt, arbeitete, bevor er zum Filmschauspieler wurde, in einem Nachbarort als Filmvorführer. In einer weiteren Hauptrolle treten die Einwohner von Unholzing auf, die für die Stimmung sorgten, die der Regisseur benötigte, um das ewige menschliche Drama der Suche nach Liebe und Anerkennung als niederbayrisches Spektakel inszenieren zu können.

Peter Fleischmann ist ein Vertreter des Neuen Deutschen Films, für den die in Frankreich unter dem Sammelbegriff Nouvelle Vague bekannt gewordenen Regisseure – darunter Jean-Luc Godard, Claude Chabrol und François Truffaut – Vorbilder waren. Auch die Filmemacher der British New Wave, zu denen Tony Richardson mit seinem Film Die Einsamkeit des Langstreckenläufers (1962) gehört, orientierten sich an diesen Vorbildern. Sie drehten an Originalschauplätzen ohne Kunstlicht und ließen die Schauspieler Slang sprechen. In Fleischmanns Film reden nicht nur die Laiendarsteller, sondern auch die professionellen Schauspieler Dialekt. Das ist typisch für den kritischen Heimatfilm, der in den 1960er Jahren die Postkartenidylle zerstört, die der traditionelle deutsche Heimatfilm beschwört. Die Menschen, denen der Verlust des Zugehörigkeitsgefühls zu einer fest gefügten Gemeinschaft droht – in den 1950er Jahren kommen die ersten „Gastarbeiter“ ins Land des Wirtschaftswunders, zunächst Italiener, später Türken (auch sie spielen in Fleischmanns Film eine Rolle) –, bekommen Angst vor der Überfremdung. Der traditionelle Heimatfilm tröstete mit Schmalz und Kitsch über diese Angst hinweg, während der kritische Heimatfilm die Angst vor dem Fremden ernst nahm und die Gewalt thematisierte, die aus dieser Angst resultierte.

Die Handlung des Films ist zweifach eingefasst, das heißt, es gibt einen doppelten Anfang und ein doppeltes Ende. Die erste Einfassung beginnt in der Kirche und endet mit einer Runde Freibier, die der Bürgermeister den Dorfbewohnern nach dem Ende der Treibjagd auf Abram spendiert. Danach fordert die Blaskappelle zum Tanz auf. In beiden Szenen spielt die Landbevölkerung die Hauptrolle. Hier die frommen Kirchgänger – dort die fröhlichen Zecher. Der Bürgermeister vertritt die irdische, der Priester die himmlische Macht. Als der Hirte zu seiner Herde spricht, erscheint Ernstl, der Dorfdepp, verspätet in der Kirche und stört die Andacht. Die Kamera folgt dem Gang durch das Kirschenschiff: Vor dem Altar predigt der Repräsentant der Heiligen Kirche – am Eingangsportal lächelt Ernstl, der Repräsentant der Bergpredigt. Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr (Matthäus 5.3).

Die Kamera schwenkt zur Kirchendecke. Jetzt sieht man auf Wandbildern gemarterte Menschen, die ihren Glauben nicht verrieten, weshalb sie qualvoll zu Tode gebracht wurden. Daher gelten sie als Märtyrer. Sie wurden Heilige – und aus den Opfern wurden Täter. Zwischen 1450 bis 1750 richtete die heilige Inquisition in Europa schätzungsweise 40.000 bis 60.000 Menschen hin. Das letzte Todesopfer der Hexenverfolgung in Brandenburg war eine fünfzehnjährige Magd, die am 17. Februar 1701 wegen Buhlerei mit dem Teufel enthauptet wurde. Der letzte Hexenprozess am Niederrhein endete mit der Verurteilung der vierzehnjährige Helena Curtens und einer Frau, die Mutter von drei Töchtern war. Die beiden wurden wegen Buhlschaft mit dem Teufel im August 1738 in Düsseldorf-Gerresheim bei lebendigem Leib verbrannt.

Die zweite Einfassung des Films wird durch die Ankunft und die (versuchte) Abreise des schwulen Mechanikers Abram markiert. Hannelore, die Dorfhure, ist der einzige Mensch, der sich für Abram wirklich interessiert. Als sie ihn nach langer Zeit wieder sieht, fragt sie ihn, ob er sie noch lieb habe. Als sie schwanger wird, behauptet sie, er sei der Vater ihres ungeborenen Kindes. Und als Abram das Dorf verlassen will, klammert sie sich an ihn und hält ihn fest. Der Bus fährt ohne ihn ab. Damit ist das Schicksal der beiden Außenseiter besiegelt. Beim Versuch, sich aus Hannelores Umklammerung zu befreien, tötet Abram die Frau. Er flieht in den Wald, die Meute jagt hinter ihm her. Das ist die einzige Jagdszene des Films. Alle anderen Szenen sind Vorstufen zu dieser Treibjagd, die einer Dramaturgie folgt, die das wirkliche Leben vorschreibt: Menschen sind keine Außenseiter; Menschen werden zu Außenseitern gemacht.

Wenn man aus einem konkreten Menschen den typischen Repräsentanten eines Kollektivs machen will, dann muss man aus ihm eine Chimäre machen, das heißt, man muss seine individuellen Merkmale durch die fiktiven Merkmale des Kollektivs ersetzen, in das man in presst. Dann kann man an ihm – pars pro toto – exekutieren, was dem gesamten Kollektiv zugedacht ist. Dieser Prozess der Entindividualisierung und Zwangskollektivierung läuft in Etappen ab. Raul Hilberg hat diesen Ablauf in seinem Buch über Die Vernichtung der europäischen Juden (1961, dt. 1982) beispielhaft dargestellt: Stigmatisierung – Ausgrenzung – Verfolgung – Vernichtung.

In Fleischmanns Film ist es der Schwule, der als Repräsentant des Fremden zuerst Neugier erregt – und dann Abscheu auslöst. Bisher hat keiner der Dorfbewohner den Horizont des Dorfes je überschritten – nur Abram, der Mechaniker, war längere Zeit fort. Was hat er in der fernen Stadt gemacht? Zunächst sind es nur Gerüchte, dann wird daraus Gewissheit: Abram war im Gefängnis, weil er es mit Männern getrieben hat. Der Film zeigt, wie sich die dumpfen Triebe der Dorfbewohner, geschützt von einem durch kollektive Rechtschaffenheit geformten Gewissen, Bahn brechen. Abram, der Andersartige und Abartige, wird verspottet, ausgegrenzt, verfolgt, durch Feld und Wald gehetzt und schließlich wie ein waidwundes Tier zur Strecke gebracht.

Als der Film gedreht wurde, galten homosexuelle Handlungen zwischen Männern in der Bundesrepublik als strafbar. Das ist in vielen Ländern noch immer der Fall. In einigen Ländern, in denen der Islam Staatsreligion ist (etwa Saudi Arabien), steht auf Homosexualität noch heute die Todesstrafe. Wenn wir die Diskriminierung Homosexueller diskutieren, müssen wir Europa aber gar nicht verlassen. Im Februar 2015 fand in der Slowakei ein Referendum statt, das sich gegen die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften richtete und von der katholischen Kirche befürwortet wurde. Laut Radio Vatikan unterstützte Papst Franziskus diese Volksabstimmung mit den Worten: „Ich möchte meine Wertschätzung gegenüber der gesamten slowakischen Kirche ausdrücken und sie in ihren Anstrengungen für die Verteidigung der Familie, der Lebenszelle unserer Gesellschaft, ermutigen!“ Das Referendum scheiterte wegen zu geringer Wahlbeteiligung. Von denen, die an der Wahl teilgenommen haben, befürworteten 90 Prozent die geforderte Einschränkung der Rechte homosexueller Männer und Frauen.

Zurück zum Film: Der Bürgermeister und seine Frau sitzen am Tisch mit dem Priester, der sich bei einer Maß Bier die Schlachtplatte schmecken lässt. Die Frau fragt den Gottesmann: „Was sagen Sie zu der Sache mit dem Abram?“ Er antwortet: „Des is a schweres Problem. A für die Kirch.“ Die weltliche und die geistliche Obrigkeit bleiben gelassen, während das gemeine Volk immer unruhiger wird. Die Metzgerin hat gesehen, wie der Abram mit dem Ernstl schäkerte. Um das Schlimmste zu verhindern, eilt die Mutter von Ernstl, eine Witwe, die noch vor dem Ende des Trauerjahres mit ihrem Knecht ein Verhältnis eingegangen ist, weshalb sie im Dorf geschnitten wird, an den Tatort. Sie beschimpft Abram und zerrt Ernstl in das Auto der Metzgerin. Die ruft nach der Polizei. Abram will das Dorf verlassen. Die türkischen Gastarbeiter steigen in den Bus, um in ihre Heimat zurückzufahren – Abram muss bleiben.

Die Mutter von Abram hätte ihren Sohn am liebsten gar nicht ins Dorf gelassen, denn sie weiß bereits, als er nach langer Abwesenheit zurückkommt, was in der Stadt geschehen ist. Sie distanziert sich von ihrem Sohn: „Man hat kein Recht, wenn man gegen die Natur ist. Ich hoff, die schlagen dich solang, bis du freiwillig gehst.“ Der Wunsch der Mutter wird sich erfüllen. Doch weil sie die Mutter dieses Sohnes ist, sitzt sie selbst auf der Anklagebank. Sie rechtfertigt sich mit den Worten: „Ich hab getan, was ich konnt, dass er ein anständiger Mensch wird. Geschlagen hab ich ihn, geschlagen, dass mir die Hand geschwollen ist.“ Das sagt sie zur Metzgerin, während ein geschlachtetes Schwein am Haken hängt und ausgeweidet wird, nachdem man es mit heißem Wasser überbrüht hat. Die Metzgerin antwortet: „Vielleicht war’s nicht genug. Mancher braucht die doppelte Portion.“ Und die Mutter legt noch einmal nach: „Ich hab ihn halbtot geschlagen früher. Kann ich dafür, dass eine Drecksau draus geworden ist.“ Die Magd, die daneben steht, empfindet Mitleid mit dem verratenen Sohn: „Dass du als Mutter so was sagst, Barbara, des is net natürlich. Ist doch dein Sohn.“ Das löst selbst bei der Metzgerin einen kritischen Gedanken aus: „Vielleicht is er deshalb so worn.“ Die Mutter ist entrüstet: „Wie? Was hast da gesagt?“ Ende der Szene im Schlachthaus.

Je weiter die Handlung fortschreitet, desto unsicherer werden die Menschen. Was ist normal? Was ist unnatürlich? Wer hat wofür Verantwortung? Sicherheit vermittelt ein Gewissen, das sich mit der weltlichen und geistlichen Autorität im Einklang weiß. So weiß man wieder, was richtig ist. Und man weiß auch, wer dazugehören darf und wer ausgeschlossen werden muss.

Die Obrigkeit beobachtet die Treibjagd aus sicherer Distanz. Der Bürgermeister und der Priester behalten die Übersicht und geben sich jovial. Sie genießen den Respekt, den man ihnen zollt, während das gemeine Volk um jeden Krümel Anerkennung kämpft und sich dabei selbst zerfleischt. Die Gewalt, die man selbst erfahren hat, wird an den Nächstschwächeren weitergegeben. In der Wirtshausszene etwa, da wird ein junger Mann von der Bedienung festgehalten, während ihm betrunkene Männer die langen Haare abzuschneiden versuchen. Kaum hat er sich befreit, beschimpft er Abram, der unbeteiligt und allein am Tisch sitzt. In einer anderen Szene nennt Ernstl, der Dorfdepp, das Dienstmädchen Hannelore „Hure“, ein Wort, das er aufgeschnappt hat und von dem er weiß, dass er sie damit so treffen kann wie mit dem Holzscheit, das er ihr hinterher wirft. Hannelore tritt ohnmächtig wütend auf ein Schwein ein.

Jeder macht sich schuldig – doch Schuld hat nur einer: der Andere. Für diese Gewissheit sorgt das gute Gewissen. Wer diesem Gewissen folgt, kann am Ende sogar guten Gewissens töten.