Max Weber 4.0

Wo stehen wir in der Max Weber-Forschung?

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits vor dem 21. April 2014 wurde weltweit in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen wie auch in der internationalen Medienlandschaft des 150. Geburtstags des deutschen Gelehrten Max Weber gedacht. Und nach diesem Jubiläum reißt die Serie der wissenschaftlichen und journalistischen Beiträge zu Webers Leben, Werk und Wirkung nicht ab.

Diese Tatsache ist erklärungsbedürftig, denn als der Leichnam des 56-jährigen ordentlichen Professors für „Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie“ der Ludwig-Maximilians-Universität München, Max Weber, auf dem Ostfriedhof in München am 17. Juni 1920 eingeäschert wurde, war es nur eine kleine Zahl von Familienmitgliedern, Freunden, Kollegen und Studenten, die ihm diese letzte Ehre erwiesen. Er war, nach Ansicht seiner Zeitgenossen, vorzeitig gestorben und hatte es weder vermocht, sein wissenschaftliches Werk abzuschließen noch eine wirksame politische Aufgabe zu übernehmen.

Außer seiner Witwe, Marianne Weber, geborene Schnitger, glaubten damals nur wenige daran, dass Max Weber derjenige deutsche Sozial- und Kulturwissenschaftler werden würde, der 150 Jahre nach seiner Geburt, zum national und international unbestrittenen Klassiker gleich einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Disziplinen gemacht worden ist. Ungeachtet der unzweifelhaften Tatsache, dass das Gesamtwerk dieses Gelehrten nicht in ein einzelnes Fach passt, also nicht wirklich „diszipliniert“ werden kann, wird es seit einigen Jahren in mehrfacher Weise dafür in Anspruch genommen. Kein aktuelles Lexikon, keine Fachgeschichte und kein Lehrbuch aus den Bereichen der Soziologie, Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Religionswissenschaft und Rechtswissenschaft wird Webers Namen nicht an zentraler Stelle erwähnen und seinen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der jeweiligen Wissenschaft hervorheben.

So bahnt sich seit Jahrzehnten unverändert der Siegeszug des – wesentlich durch seine Witwe und Nachlassverwalterin Marianne Weber, den US-amerikanischen Soziologen Talcott Parsons und den deutschen Privatgelehrten Johannes F. Winckelmann – nur knapp der Vergessenheit entrissenen frühen deutschen Kultur- und Sozialwissenschaftlers seinen Weg. Und so wird wohl auch der 100. Todestag am 14. Juni 2020 vermutlich intensiv bedacht werden.

Kam die westliche Soziologie schon bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges ohne die Begrifflichkeit und das Werk dieses Wilhelminischen Gelehrten nicht aus, so ist das Interesse an Max Weber nach dem Ende des „realen Sozialismus“ und der damit verbundenen Verabschiedung von dessen Klassikern – Marx, Engels und Lenin – noch zusätzlich im Wachsen begriffen. In dem Maß, wie Sozialismus und Kommunismus als alternative Gesellschafts- und Weltordnungen endgültig „besiegt“ zu sein scheinen, wurden Analysen und Diagnosen Webers, der oft und lange als „bürgerlicher Marx“ eingeordnet wurde, immer einflussreicher für das Selbstverständnis der Menschen in der globalisierten (Post-)Moderne. Die „Große Erzählung“ des Max Weber von der „Schicksalshaftigkeit“ der auf der Verwertung des Kapitals beruhenden kapitalistischen Wirtschaft und vom damit ursächlich verwobenen, unaufhaltsamen, ebenso schicksalhaften Siegeszug des „okzidentalen Rationalismus“, mit seiner zunehmenden „Rationalisierung“ und „Bürokratisierung“ aller Lebensbereiche, liefert in den gegenwärtigen Zeiten die erfolgreiche Vorlage für relevante, individuelle wie kollektive, Erklärungen dessen, was mit den Menschen und ihren Gesellschaften geschieht.

Zumindest aus wissenschaftssoziologischer Perspektive wäre es naiv, anzunehmen, dass diese erstaunliche Karriere vom akademischen Außenseiter zum sozial- und kulturwissenschaftlichen Klassiker und Produzenten einer bedeutsamen „Theorie der Rationalisierung“ allein das Ergebnis einer sich allmählich und universal durchsetzenden Einsicht in Qualität und analytische Erklärungskraft der Schriften und Reden Max Webers gewesen sei. Gerade aus einer von Max Weber selbst geprägten Perspektive muss danach gefragt werden, welche Personen, Institutionen und Zusammenhänge zu nennen sind, die für diese allmähliche Fabrikation des Klassikers Max Weber verantwortlich waren und sind. Webers eigenem Ansatz folgend, muss die Frage gestellt werden, von welchen „Interessen“ – „ideellen“ wie „materiellen“ – diese Klassikerfabrikation und -interpretation geleitet wurde und wird.

Beginnend mit der unermüdlichen Arbeit Marianne Webers unmittelbar nach dem Tod ihres Mannes lassen sich bis zum heutigen Tag eine Reihe von Wissenschaftlern – die allermeisten davon sind männlichen Geschlechts – identifizieren, die ihre Forschung in den Dienst der Interpretation und Rezeption des Weber‘schen Werks als eines vor allem soziologischen Klassikers gestellt haben. Besonders hervorgehoben – neben den bereits genannten Protagonisten Marianne Weber (1870-1954), Johannes F. Winckelmann (1900-1985) und Talcott Parsons (1902-1979) – seien Friedrich H. Tenbruck (1919-1994), Wilhelm Hennis (1923-2012), Wolfgang J. Mommsen (1930-2004), M. Rainer Lepsius (1926-2014), Guenther Roth und Wolfgang Schluchter. Die Liste der englisch-, spanischsprachigen und japanischen Weber-Editoren und -interpreten ist eine lange, und sie wird immer länger.

Wenig vom eigenartigen Charakter der Kulturwissenschaften im Allgemeinen und von der wissenschaftlichen Soziologie im Besonderen hat verstanden, wer sie als sich kumulativ entwickelnde Wissenschaften bestimmen möchte. Wer seine Kritik daran ausrichtet, dass die Soziologie von einer solchen Zielvorstellung abweicht, verkennt, dass diese nicht nur eine empirisch basierte Wissenschaft ist, sondern dass sie sich zugleich immer auch in einem zeitgebundenen, ideologischen und metaphorischen Rahmenwerk entfaltet. Daraus ergibt sich eine prinzipielle, nicht aufzuhebende Spannung zwischen den vielfältigen „Theorien“ der Soziologie und der sogenannten „Praxis“ ihrer Umgebung. Das Werk Max Webers bildet hier keine Ausnahme, schon gar nicht, wenn man sich an dessen eigener Wahrnehmung der prinzipiellen Begrenztheit aller kulturwissenschaftlichen Erkenntnis orientiert. Er schrieb dazu: „Alle kulturwissenschaftliche Arbeit in einer Zeit der Spezialisierung wird, nachdem sie durch bestimmte Problemstellungen einmal auf einen bestimmten Stoff hin ausgerichtet ist und sich ihre methodischen Prinzipien geschaffen hat, die Bearbeitung dieses Stoffes als Selbstzweck betrachten, ohne den Erkenntniswert der einzelnen Tatsachen stets bewusst an den letzten Wertideen zu kontrollieren, ja ohne sich ihrer Verankerung an diesen Wertideen überhaupt bewusst zu bleiben. Und es ist gut so. Aber irgendwann wechselt die Farbe: die Bedeutung der unreflektiert verwerteten Gesichtspunkte wird unsicher, der Weg verliert sich in die Dämmerung. Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken.“

In der folgenden knappen Skizze – anlässlich der für diese Rezension eher zufällig versammelten zehn Publikationen – sollen vier idealtypisch konstruierte Etappen der bisherigen und aktuellen Max Weber-Forschung skizziert werden. Natürlich läuft die internationale Max Weber-Re-Interpretations-Industrie auf allen vier Ebenen unverdrossen und gleichzeitig weiter, aber es lässt sich doch eine gewisse chronologische Abfolge behaupten.

Zuerst ging und geht es um das Werk, das heißt die Texte selbst (Weber 1.0). Dann folgte die Auseinandersetzung über deren Bedeutung, bei der sehr unterschiedliche Interpretationen der Texte miteinander rangen, gewissermaßen dem Motto folgend: „Was Weber eigentlich dachte, sagte, schrieb, meinte.“ (Weber 2.0.). Erst nach der Jahrtausendwende erschienen zunehmend Arbeiten, die sich – gewissermaßen auf der Meta-Ebene – mit der Rezeption des Weber‘schen Werks auseinandersetzten (Weber 3.0). Und obwohl es auch schon vorher diverse Versuche einer biographischen Erforschung des Zusammenhangs von Leben und Werk gegeben hatte, begann nun doch erst in den letzten Jahren die Produktion ernstzunehmender Biographien (Weber 4.0).

Weber 1.0: Die Texte selbst

Seit den genannten ersten Editoren – Marianne Weber und Johannes Winckelmann – hat sich eine ganze Reihe von Herausgebern der diversen Schriften Max Webers angenommen. Sie alle aufzuzählen erübrigt sich seit dem Erscheinen der Max Weber-Gesamtausgabe (MWG). Über diese und die seit 2001 erschienenen Bände wurde an dieser Stelle regelmäßig informiert.[1]

Für diese Sammelrezension gilt es, zwei sehr lange erwartete Bände aus der MWG anzuzeigen: zum einen den Band, der Max Webers „Soziologie“ enthält, zum anderen den Band, der die Erstfassung seiner legendären Aufsätze über „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ aus den Jahren 1904/05 kommentiert ediert.

Max Webers Soziologie

Wohl jeder Studierende einer der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften kennt diesen Satz: „Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.“ Mit dieser legendären Definition beginnt jener Text, der seit 1921 bis zur 5. Auflage 1976 als „Wirtschaft und Gesellschaft“ publiziert wurde. Im Rahmen der seit 1984 sukzessiv erscheinenden Bände der MWG erscheint nunmehr – nach 30 Jahren der Editionsarbeit – mit Band I-23 Max Webers „Soziologie“.

Wie bereits in den früheren Rezensionen ausführlich dargestellt, hatten die Herausgeber der MWG frühzeitig beschlossen, das ehemalige Hauptwerk Max Webers in Einzelteile zu zerlegen. Nach der Publikation der Bände „Gemeinschaften“ (MWG I/22-1), „Religiöse Gemeinschaften“ (MWG I/22-2), „Recht“ (MWG I/22-3), „Herrschaft“ (MWG I/22-4) und „Stadt“ (MWG I/22-5) liegt mit dem vorliegenden Band das ehemalige Sammelwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ im Rahmen der MWG nun vollständig vor; nur mehr der angekündigte Registerband (MWG I/22-6) steht noch aus. Zukünftige Leser werden sich also endgültig von der Vorstellung verabschieden müssen, es hätte je ein Buch von Max Weber mit dem Titel „Wirtschaft und Gesellschaft“ (WuG) gegeben. Selbstbewusst formulieren die Herausgeber ihre Absicht: „Sie wollen Max Webers unvollendetes Hauptwerk nicht rekonstruieren und geben daher die in der Rezeptionsgeschichte verbreitete Vorstellung von einem in sich geschlossenen Buch auf.“

Der hier zu rezensierende Band enthält die 1. Lieferung des 1919/1920 neu bearbeiteten Beitrags von Max Weber für den „Grundriß der Sozialökonomik“. Da es kein überliefertes Manuskript gibt, basiert auch diese Edition auf den zum größten Teil von Weber selbst noch handschriftlich korrigierten Druckbogen. Die ersten beiden Kapitel „Soziologische Grundbegriffe“ und „Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens“ finden in den nachgelassenen Manuskripten keine Vorfassungen. Kapitel III, „Typen der Herrschaft“, stellt eine überarbeitete und auf ein Viertel des Umfangs verdichtete Neufassung der älteren Texte zum Kapitel „Die Herrschaft“ dar. Der nachgelassene Text zu „Klasse, Stand, Parteien“ findet nur teilweise und in neuer begrifflicher Schärfung Eingang in das unvollendete Kapitel IV der 1. Lieferung.

Nach Konzeption und Darstellungsform unterscheidet sich diese Fassung grundlegend von früheren. Sie enthält einen neuen Anfang mit einer Theorie des Handelns, des sozialen Handelns und, darauf aufbauend, der sozialen Beziehungen, der gesellschaftlichen Ordnungen und der Verbände. In der Darstellungsweise ist der Text lehrbuchartig in Paragraphen gegliedert, klassifikatorisch ausdifferenziert und gerafft. Über die von Weber beabsichtigte Fortsetzung dieser Neufassung seines Beitrags gibt es nur wenige Hinweise in den gedruckten Kapiteln, so auf ein geplantes Kapitel V, das sich mit Typen der Gemeinschaften („Formen der Verbände“) befassen sollte, sowie auf eine Religions-, Rechts- und Staatssoziologie. Als sicher kann gelten, dass Max Weber die älteren Texte aus den Jahren 1910 bis 1914 nicht unverändert in die geplanten, nachfolgenden Lieferungen übernommen hätte, dies zeigt schon die Neufassung seiner „Herrschaftssoziologie“.

Seinen Titel „Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919-1920“ trägt der hier anzuzeigende Band somit vollkommen zu Recht, um ihn in den Zusammenhang des 1909 unter eben diesem Titel begonnenen Projekts zu stellen, der auch der Titelgebung im Verlagsvertrag Weber entspricht. Zur Unterscheidung von den Bänden I/22 wurde der Zusatz „Soziologie“ angefügt, was die Herausgeber mit dem Hinweis auf die gedruckten „Neuigkeiten“ des Verlags J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom April 1920 begründen, in denen – noch zu Lebzeiten Max Webers – dieser Text als „III. Abteilung: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie.“ angekündigt worden war.

Dem Band sind allgemeine Hinweise zur Edition beigegeben, ein knappes Vorwort, eine ausufernde Einleitung aus der Feder von Wolfgang Schluchter, der Editorische Bericht, diverse Anhänge, bei denen die Wiedergabe der Korrekturfahnen, soweit sie erhalten geblieben sind, auf besonderes Interesse stoßen dürfte. Insgesamt ist auch dieser Band mit seiner bewährt gründlichen Kommentierung vor allem für Max Weber-Schriftgelehrte unverzichtbar. Für das allgemeine Leserpublikum bietet der Band nichts Neues. Verblüffend ist die Tatsache, dass die Widmung „Dem Andenken meiner Mutter Helene Weber geb. Fallenstein 1844-1919“ zwar im Editorischen Bericht – wenn auch mit nicht korrekter Jahreszahl 1845 – erwähnt wird, im Band selbst jedoch nicht aufgenommen wurde.

Die protestantische Ethik (PE): Die erste Folge

Im Jahr 2004 – dem Jahr der hundertsten Wiederkehr der Ersterscheinung der „PE“ – unterließen es die Herausgeber der MWG, das Jubiläumsjahr zum Erscheinen der einschlägigen Bände zu nutzen. Über einen kleinen Teil des Schicksals dieser Edition berichtete ich in meiner Rezension der Arbeit des Historikers Hartmut Lehmann, dem ursprünglich dafür vorgesehenen Herausgeber.

Dass die Herausgabe der Arbeiten Webers zum Thema „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ aus dem Zeitraum 1904/06 bis 1920 zu den wahrscheinlich bedeutendsten Aufgaben im Rahmen der MWG gehört, wird kaum zu bestreiten sein. Und so fiel es dem interessierten Publikum auf, als im Jubiläumsjahr 2004 zwar eine vollständige Ausgabe der einschlägigen Texte im Verlag C. H. Beck erschien, jedoch keiner der seit 1974 angekündigten beiden Bände im Rahmen der MWG. Nun, erneut zehn Jahre später, liegt der erste der angekündigten Bände vor, die vom emeritierten Heidelberger Soziologen Wolfgang Schluchter und der Diplomtheologin und ehemaligen Verlagsredakteurin Ursula Bube herausgegeben werden. In seinem „Vorwort“ berichtet Schluchter, das ihm erst im Jahr 2008 die editorische Arbeit „übertragen“ – von wem? – wurde und diese somit im Jahr 2009 „neu“ begonnen werden konnte.

Worum es in diesem Buch inhaltlich geht, dürfte als allgemein bekannt vorausgesetzt werden können. Max Webers weltberühmte Studie, in der er einen wirkungsvollen Zusammenhang zwischen Strömungen des reformierten Christentums und Aspekten der modernen Berufskultur herstellte, wird hier in der Fassung erster Hand vorgelegt. Diese besteht aus zwei Aufsätzen, von denen der erste 1904, der zweite 1905 im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erschien. Weber wollte diese Aufsätze fortführen, dabei insbesondere auch den Einfluss der „Kirchenverfassungen“ und der sozialen Lage der Gläubigen auf ihre Lebensführung behandeln. Wie so viele seiner Absichten erfüllte er auch diese nicht. Stattdessen ließ er sich auf eine Kontroverse über diese beiden Aufsätze ein, die ihn zu vier „Antikritiken“ herausforderte, um sein Vorgehen und seine Thesen zu verteidigen. Kritiken und Antikritiken werden im vorliegenden Band ungekürzt präsentiert. Dies erlaubt es dem Leser, den Fortgang dieser Kontroverse im Detail zu verfolgen, was bisher aufgrund der verstreuten Texte nur schwer möglich war. Außerdem enthält der Band ergänzende Texte, so die Zusammenfassung von Webers Vortrag über „Die protestantische Askese und das moderne Erwerbsleben“ im Heidelberger Eranos-Kreis aus dem Frühjahr 1905, seine Skizze „‚Kirchen‘ und ‚Sekten‘ in Nordamerika“ aus dem Jahr 1906 und seine Diskussionsbeiträge zu einem Vortrag von Ernst Troeltsch auf dem Ersten Deutschen Soziologentag 1910. All dies erlaubt einen vertieften Einblick in Webers religionshistorisches und religionssoziologisches Denken in der Zeit von 1904 bis 1910, wobei eine detaillierte Aufstellung aller „Hinweise“, die Weber selbst gab, wie er seine Studien fortzusetzen gedachte, belegt, wie unvollkommen seine Publikationen aus dieser Zeit waren, gerade auch in der Sicht ihres Verfassers selbst.

Die fast 100-seitige Einleitung aus der Feder des Herausgebers Schluchter führt ausschweifend in den problem- und werkgeschichtlichen Zusammenhang der Texte ein, die Editorischen Berichte erläutern skizzenhaft Webers Auswahl und Nutzung der Quellen, mehrere Register und ein Glossar ergänzen den Band.

Was lässt sich nun über das Ergebnis jahrzehntelanger Forschungsarbeit an diesem „heiligen Text“ (Lawrence Scaff) sagen? Um das zu beantworten, muss in Erinnerung gerufen werden, dass wohl kein Text Webers einer derartig intensiven und vehementen Kritik ausgesetzt war und ist wie gerade dieser. Die Kontroversen begannen unmittelbar nach Erscheinen der Zeitschriftenaufsätze, so dass Max Weber selbst noch schriftlich reagieren konnte, und sie halten bis heute an. Um wenigstens anzudeuten, warum und worüber gestritten wurde und wird, seien an dieser Stelle nur sehr wenige Hinweise gegeben: Bereits der Ausgangspunkt des Weber‘schen Textes – eine statistische Erhebung der Konfessionsverteilung im Großherzogtum Baden durch Webers Doktoranden Martin Offenbacher – sei methodologisch höchst fehlerhaft und von Weber mit allen ihren Fehlern unkritisch übernommen worden, vor allem sei der Faktor „Bildung“ als intervenierende Variable viel zu wenig beachtet worden. Max Weber habe nie klar unterschieden, was das zu Erklärende und was das Erklärte seiner Studie sein sollte. Max Weber habe den Charakter der Schriften von Benjamin Franklin, den er als Kronzeugen seiner Herausarbeitung eines „Geistes des Kapitalismus“ zitiert, vollkommen missverstanden, wenn nicht sogar absichtlich missbraucht. Max Weber habe weder Martin Luther noch Jean Calvin richtig verstanden und dabei eine insgesamt zutiefst „unehrliche“ Quellenbehandlung praktiziert (Tatsuro Hanyu). Weber habe die Konstruktion von „Beruf“ gleich „Berufung“ weitgehend selbst erfunden, sie sei mit den von ihm fehlerhaft und manipulativ herangezogenen Quellen in keiner Weise gedeckt. Bei seiner Darstellung der religiösen Grundlage der innerweltlichen Askese habe Weber keine der von ihm erwähnten Träger des „asketischen Protestantismus“ (Calvinismus, Pietismus, Methodismus und die aus der täuferischen Bewegung hervorgewachsenen Sekten) historisch und theologisch zutreffend dargestellt. Dazu kam – schon zeitgenössisch – die grundsätzliche Kritik, dass Weber die Bedeutung des Einflusses religiöser Momente und Lehren auf das reale Verhalten und Handeln von Menschen, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht, erheblich übertrieben habe.

Wir wollen es an dieser Stelle mit der Aufzählung des Arsenals kritischer Einwendungen, das sich im Laufe der vergangenen mehr als hundert Jahre angesammelt hat, sein Bewenden sein lassen. Insgesamt, so wird man festhalten können, richteten sich sehr hohe Erwartungen auf gerade diese Bände der MWG, wie es Heinz Steinert in seiner überaus kritischen Musterung dieser „unwiderlegbaren Fehlkonstruktionen“ formulierte: „Auf die historisch-kritische Ausgabe in der MWG warten wir gespannt.“

Insgesamt kommt dieser Rezensent zum Ergebnis, dass die hohen Erwartungen einer konsequent kritischen Historisierung der PE durch den hier anzuzeigenden Band nicht wirklich eingelöst werden. Berücksichtigt man die angegebene Zeit von insgesamt fünf Jahren, in denen die beiden Herausgeber an diesem Band gearbeitet haben, so ist das Ergebnis beeindruckend, auch wenn dem Kenner eine Mehrzahl von sachlichen Fehlern und bedauerlichen typographischen Irrtümern auffallen. Misst man es jedoch vor allem an den Erwartungen, die an diesen Band in einer historisch-kritischen Gesamtausgabe seit Jahrzehnten gerichtet werden müssen, so fällt die Beurteilung bedauerlicherweise eher kritisch aus. Zwar wird auf viele der genannten – und noch zahlreiche weitere – Monita zu Webers Texten eingegangen, sie werden jedoch eher nur erwähnt, um sie dann durchgehend reichlich hochmütig zurückzuweisen und Weber apologetisch zu stützen.

Um diese Einschätzung zu begründen, sei wenigstens an einer der oben angedeuteten Diskussionen illustriert, wie die Herausgeber und Kommentatoren damit umgehen: Es geht um die Benutzung von Benjamin Franklin, den Max Weber mit den längsten Zitaten in seinem Text als entscheidenden Kronzeugen für den „Geist des Kapitalismus“ anführt. Über diese Diskussion, die bereits von Eduard Baumgarten im Jahr 1936 eröffnet worden war, hatte Heinz Steinert in seiner leidenschaftlichen Streitschrift zur PE ausführlich berichtet und war zu dem Ergebnis gekommen, dass Max Weber diesen amerikanischen Aufklärer und Revolutionär vollkommen missverstanden habe: Was Weber als literarischen Beleg für diesen angeblichen „Geist“ des Kapitalismus präsentiert – unter dem Motto „Zeit ist Geld“ – waren sarkastisch-ironische Texte, mit denen Franklin seinen Zeitgenossen einen kritischen Spiegel vorhalten und keinesfalls eine erstgemeinte Handlungsanweisung liefern wollte. Nachdenklich kann man schon werden, wenn man bedenkt, dass jener Text, auf den Weber sich vor allem beruft – „Advice to a young tradesman“ von 1748 –, bei dem es sich angeblich um eine ernstgemeinte Instruktion für angehende Kaufleute handele, einen auffallenden Gleichklang zu einem anderen, ebenfalls recht berühmten Text von Franklin hat. In seinem „Advice to a Friend on Choosing a Mistress“ von 1745 rät der Autor seinem Freund, aus drei Gründen eine ältere Frau zu seiner Geliebten zu machen: sie sei erfahren, sie bekomme keine Kinder mehr und sie sei dankbar. Auch moralisch sei es anständiger, eine ältere Frau glücklich zu machen als eine junge zu verderben. Insgesamt machte gerade Heinz Steinert – wie vor ihm schon Eduard Baumgarten – klar, dass Max Weber die nachgewiesene große Ironiefähigkeit Franklins entweder nicht verstanden habe oder ihn einfach benutzt habe, um seinem eigenen Argument eine passende Illustration für seine „Montage“ zu verleihen.

Wie gehen nun die Herausgeber der historisch-kritischen Fassung dieses Textes mit derartigen Problemen um? Sie rekonstruieren zum einen exakt die Montagetechnik Webers, indem sie nachzeichnen, dass er seine „Zitate“, die er Franklin zuschreibt, eigenmächtig aus drei Quellen kombinierte: Zum einen aus dem Roman „Der Amerika-Müde. Amerikanisches Kulturbild“ aus dem Jahr 1855 von Ferdinand Kürnberger, in dem dieser eine Auswahl von Franklin-Zitaten als „Glaubensbekenntnis des Yankeetums“ in seiner eigenen Übersetzung einsetzte; zum anderen „korrigiert“ Weber diese deutsche Übersetzung nach dem Original der Traktate in einer von Jared Sparks herausgegebenen Werkausgabe aus dem Jahr 1840, wobei er, drittens, auch noch Auszüge aus einem anderen Traktat Franklins, „Necessary hints to those that would be rich“ von 1736 in seiner eigenen Übersetzung einbaut. Die Herausgeber kommentieren diese bemerkenswerte Technik Webers folgendermaßen: „Max Weber verwendet seine Quellen in einer ihm charakteristischen Weise; neben Direktzitaten stehen Zitatkombinationen und eine Quellenauswahl, die sich zumeist nicht auf den ersten Blick erschließt. […] Weber verbindet beide Texte [die von Kürnberger und die von Franklin] zu einer Art Textmontage.“

Nach dieser philologischen Rekonstruktion erwähnen die Herausgeber zwar die bislang vorgebrachten Einwände von Baumgarten und Steinert, dass Weber den eigentlichen „Epikuräer [Franklin] voll übermütigen Witzes“ (Baumgarten) grundsätzlich missinterpretiert habe, weisen aber diese Einwände mit grandioser Geste zurück: „Freilich dringt Steinert selbst nicht allzu tief in die Konstitution dieses ‚korrupten‘ Textes ein.“ Eine klare Positionierung und Stellungnahme zu diesem heuristischen Problem wird nicht bezogen. Dass diese – und die ebenfalls genannten – Kritiken an Webers Textes keine irrelevanten Einwände verschrobener Schriftgelehrter sind, weiß jeder, der sich intensiv mit der PE befasst hat. Falls die strategische Position Benjamin Franklins für die Argumentation Max Webers auf einer – nichtverstandenen oder absichtlichen – Fehleinschätzung beruht, bricht ein ganz wesentlicher Pfeiler des Weber‘schen Anliegens in sich zusammen. Hier wäre eine klare Stellungnahme der Herausgeber einer historisch-kritischen Ausgabe am Platze gewesen.

Schon bisher war bekannt, dass Weber einen recht – zumindest – „großzügigen“ Umgang mit den von ihm (vermeintlich) zitierten und herangezogenen Werken anderer pflegte. Eine definitive Antwort auf die drängende Frage, ob Weber nun tatsächlich mit seinen Interpretationen und Zitationen Unrecht hat oder nicht, wird mit diesem Band nicht geliefert. An entscheidender Stelle des „Editorischen Berichts“ heißt es dazu: „Bei der Kommentierung wurde primär auf zeitgenössische Literatur zurückgegriffen und bewußt auf die Dokumentation des heutigen Forschungsstandes verzichtet. Diese hätte den Anmerkungsapparat gesprengt und die Edition zu schnell veralten lassen.“

Über die Qualität einer historischen Arbeit entscheidet nun einmal allein die wissenschaftliche Quellenkritik, gerade im Fall eines Textes von Max Weber. Hätte man nicht auf die langatmigen „Einleitungen“ verzichten sollen, die einerseits brav rekapitulieren, was in den anschließenden Texten steht und andererseits immer nur bestrebt sind, die – teilweise sehr eigenwillige – Interpretation des jeweiligen Herausgebers als verbindlich zu kodifizieren? Ist es unbillig, wenn man sich gerade bei diesem Band sehr viel eher Theologen und Religionswissenschaftler als Herausgeber und Kommentatoren gewünscht hätte als einen Soziologen? Am besten wäre es wohl gewesen, es hätte sich ein ganzes Team von Spezialisten zur Geschichte der Reformation, der Sekten und Glaubensgemeinschaften, zu Luther, Calvin, Franklin, Richard Baxter und anderen zusammengefunden, das die jeweils einschlägigen Passagen historisch-kritisch bearbeitet hätte: Man hätte sich fast einen Sonderforschungsbereich gewünscht, der sich dieses Textes mit allen seinen raffinierten Konstruktionen annimmt. Wenn es zutrifft, was kolportiert wird, dass eine Reihe von Theologen für diese entsagungsvolle, aber spannende Aufgabe angefragt wurde und abgesagt habe, dann muss an dieser Stelle wohl ein Versagen der wissenschaftlichen Disziplin Theologie verzeichnet werden.

Es bietet sich auch – aber nicht nur bei diesem Text – die grundsätzliche Frage an, wieso das Ergebnis dieser jahrzehntelangen Forschungsarbeit, die mit einem enormen materiellen und personellen Aufwand betrieben wurde und die bislang vollständig aus öffentlichen Mitteln ermöglicht wurde, nicht in einer allgemein zugänglichen Internetausgabe veröffentlicht wird, anstelle der sehr teuren gedruckten Buchausgaben. Als nur ein leuchtendes Vorbild von vielen sei an die Gesamtausgabe der Tagebücher von Erich Mühsam erinnert, die sich noch dazu elektronisch nach Suchbegriffen recherchieren lassen.

Nachdem das ganze Unternehmen der MWG seit Jahrzehnten vor allem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde, wundert man sich schon darüber, wieso gerade bei diesem Großvorhaben die „Open Access“-Politik der DFG nicht umgesetzt wird. Ist das vielleicht der Grund, warum in diesem Band nicht mehr der DFG, sondern allein der Universität Heidelberg, der Berthold Leibinger Stiftung und dem Verleger Georg Siebeck für die Förderung der Herausgeberarbeiten gedankt wird?

Es bleibt also abzuwarten, was die MWG leisten wird, wenn der Band I/18 erscheint. In diesem sollen dann jene Texte ediert werden, die entstanden sind, als sich Max Weber seine eigenen Arbeiten aus den Jahren 1904 bis 1906 erneut vornahm und für den ersten Band der „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“, der im Jahr 1920 – dem Todesjahr Max Webers – erschien, für den Abdruck fertigstellte. Die Herausgeber des hier angezeigten Vorläuferbandes wissen um die Erwartungen, die sich gerade auf den ausstehenden Band richten, wenn sie schreiben: „Dann erst ergibt sich in Bezug auf die Protestantismusstudien das vollständige Bild.“ Das Warten geht also weiter!

Weber 2.0: Die Interpretation der Texte

Rein quantitativ ist der Korpus der Max Weber-Sekundärliteratur, der sich mit der Interpretation seiner Texte auseinandersetzt, fraglos der größte: Es sind alle jene zahllosen wissenschaftlichen Arbeiten, Bücher wie Aufsätze, die man überschreiben könnte: „Max Weber und …“. Allein durch den Zufall der aktuellen Neuerscheinungen, die hier rezensiert werden, sind es zwei Publikationen, die zu diesem Genre gezählt werden können.

Gerade weil es heute eher unbewusst wirkt, sei daran erinnert, dass es bis vor wenigen Jahrzehnten einen wirkmächtigen Argumentationszusammenhang gab, durch den Max Weber als der Repräsentant einer „bürgerlichen Soziologie“ stilisiert, oder besser: denunziert wurde. Nun, da dieser Diskurs weitgehend verschwunden ist, erscheint es heute noch wichtiger als früher, Max Webers sozialökonomisches Erkenntnisinteresse als durchgängigen Grundton seiner Schriften herauszuarbeiten. Verkürzt man Webers Werk auf eine handlungstheoretisch orientierte, ausschließlich „verstehende“ Soziologie, auf eine primär „subjektiv“ gerichtete Theoriekonzeption in der Soziologie, so verfehlt man seine Gesamtleistung an entscheidender Stelle. Die Gefahr jenes interpretativen Missverständnisses, das Weber in rein idealistischer Weise halbiert, ihn in diesem Sinn „verbürgerlicht“, ist immer noch nicht gebannt.

Noch immer wirken in der bisherigen Auseinandersetzung mit Max Weber Tendenzen einer Zersplitterung und Abtrennung. Besonders auffällig ist dabei die Trennung von Leben, Werk und Methode. Nur sehr wenige Arbeiten bemühen sich um eine möglichst umfassende, systematische Darstellung der Verflechtung dieser drei Zusammenhänge. Zu diesen wenigen kann man nunmehr das „Max Weber-Handbuch“ zählen, aus dessen Einleitung bereits an dieser Stelle zitiert worden ist.

Ein Max Weber-Handbuch

Die beiden Herausgeber, der Berliner Soziologe Hans-Peter Müller und der Heidelberger Soziologe Steffen Sigmund, haben aus dem Kreis der Kollegenschaft sehr unterschiedlich qualifizierte Beiträger rekrutiert. Von den insgesamt 46 Autoren wird man allenfalls acht als eigentliche Weber-Forscher bezeichnen können (Andreas Anter, Stefan Breuer, Hinnerk Bruhns, Peter Ghosh, Hans G. Kippenberg, Gert Schmidt, Hubert Treiber und Johannes Weiß). Erstaunlich ist zudem die Tatsache, dass – bis auf Johannes Weiß – keiner der bisherigen Herausgeber der MWG mit Beiträgen über ihre Weber-Forschungen vertreten ist, was dem Band vermutlich ein wesentlich größeres Gewicht verliehen hätte.

Ein Handbuch ist ein Handbuch, was naturgemäß auch bedeutet, dass die einzelnen Beiträge von sehr unterschiedlicher Qualität sind. Nicht nur diese Unterschiede fallen auf, zudem verwirrend ist die nicht-einheitliche Zitation: Häufig wird die MWG zitiert, dann aber auch viel nach der „Mariannen-Ausgabe“, also etwa den „Gesammelten Politischen Schriften“ (GPS) und der Vorgänger-Ausgabe von „Wirtschaft und Gesellschaft“ (WuG). Insgesamt kann anerkennend festgehalten werden, dass das Handbuch eine beachtliche Fülle an Informationen über Begriffe Max Webers bietet (von „Arbeit“ bis „Wirtschaft“), über diverse Werke und Werkgruppen und über ausgewählte Diskussionszusammenhänge. Ein Anhang mit einer Zeittafel und einer Auswahlbibliographie runden die Sammlung ab. Eine ganze Legion von Seminararbeiten und kleineren Aufsätzen unter der Überschrift „Max Weber und…“ wird mit diesem Buch sehr gut bedient sein. Man kann allen Lehrenden nur empfehlen, nachzusehen, wie stark die Anleihen aus diesem Handbuch sind, wenn sie Arbeiten über „Max Weber und das Bürgertum“ (zwei brillante Beiträge dazu von Joachim Fischer) eingereicht bekommen, über „Max Weber und das Charisma“ (erstaunlich, dass die werkgeschichtlich bedeutsame Herleitung der säkularisierten Fassung dieses Begriffs aus den China-Studien im Beitrag von Richard Utz nicht erwähnt wird), über „Max Weber und die Begriffe Handeln und Handlung“ (vorbildlich von Karl-Siegbert Rehberg), über „Max Weber und die Begriffe Rationalität, Rationalisierung und Rationalismus“ (präzise und umfassend von Hans-Peter Müller), „Max Weber und das Recht“ (leider sehr knapp von Hubert Treiber), „Max Weber und die Stadt“ (kämpferisch und informativ von Hinnerk Bruhns).

Dabei ist es nicht verwunderlich, dass dem Spezialisten diverse Überraschungen, Irrtümer und Unstimmigkeiten auffallen: Bei der Frage nach der Rezeption der Dissertation Max Webers über die „Geschichte der Handelsgesellschaften“ berichtet der Autor des einschlägigen Beitrags, Georg Christ, dass es dazu „immerhin 51.100 Treffer“ bei Google Books gebe, weswegen er sich allein auf Werke zur italienischen und insbesondere venezianischen Wirtschaftsgeschichte konzentriert. Erheiternd ist es, zu lesen, dass, Luigi Capogrossi Colognese zufolge, „bekanntlich“ der alte Theodor Mommsen einer der Opponenten Max Webers bei seiner Disputation gewesen sei, wo es doch dessen zweitältester Sohn, der Jurist Karl Mommsen gewesen war. Ob man die sogenannte „Ahnherrschaftsdebatte“, in der – vor allem angestoßen von Georg von Lukács, Wolfgang J. Mommsen und Jürgen Habermas – über die Frage gestritten wurde, ob Max Webers Konstruktion einer „plebiszitären Führerdemokratie“ – in Verbindung mit dem Charisma-Konzept – dazu beigetragen habe, „das deutsche Volk zur Akklamation der Führerstellung Adolf Hitlers innerlich willig zu machen“, so leichthändig beiseite wischen kann, wie Andreas Anter das in seinem Beitrag über Webers Vorstellungen „Zur Neuordnung Deutschlands“ macht, sei dahingestellt. Er schreibt dazu abschließend: „In der Tat ist eine ideengeschichtliche Kontinuitätslinie von Weber zum Führerstaat nicht ersichtlich.“ Das sahen in jüngerer Zeit Hans-Ulrich Wehler und Ian Kershaw dann doch ein wenig differenzierter, die erstaunlicherweise in den Literaturhinweisen nicht einmal genannt werden, dafür jedoch Ernst Nolte. Interessant wäre es auch, Gregor Fitzi zu seinem Beitrag über „Politik als Beruf“ zu befragen, wie er seine steile These operationalisieren würde, dass diese famose Rede in den Gründungsjahren der Bundesrepublik Deutschland „eine entscheidende Rolle für die Bildung einer neuen, demokratischen politischen Kultur“ gespielt habe. Etwas schräg mutet es an, wenn Johannes Weiß sich in seinem Beitrag über „Verstehende Soziologie und Werturteilsfreiheit“ auf Band I/12 der MWG bezieht – für den er als Herausgeber designiert ist –, noch bevor dieser überhaupt erschienen ist. Bemerkenswert ist zudem, wie Thomas Schwinn in seinem Beitrag über die famose „Zwischenbetrachtung“ jegliche autobiographische Dimension dieses Textes unterschlägt, obwohl doch gerade dieser Text – neben der PE – einen der persönlichsten Texte Max Webers darstellt.

Wenigstens am Beispiel des Textes von Martin Endreß über die angebliche oder tatsächliche „Renaissance der Religion“ sei illustriert, wie fachjargonhaft manche Beiträge sind, bei denen sich der Rezensent fragt, an wen sich Texte wie dieser adressieren: „In der fortgeschrittenen (westlichen) Moderne käme es so gewissermaßen zu einer Verschränkung zweiter Ordnung von Sinnhorizonten: Während im Kontext erster Ordnung noch von unmittelbarer Plausibilität auszugehen ist, so wäre im Falle von Kontexten zweiter Ordnung eine nur noch mittelbare Plausibilität über den notwendigen Bezug auf diskursiv einlösbare Geltungsansprüche zu konstatieren.“ Für Leser aus dem Kreis von Studierenden, die nichts oder wenig über das Weber‘sche Werk wissen, werden derartige Ausführungen vermutlich nicht sonderlich hilfreich sein, der eingeweihte Max Weber-Kenner mag ja einen gewissen Genuss bei solchen Formulierungen empfinden, der Erkenntnisprozess wird jedoch nicht sonderlich gefördert werden. Wenn mit diesem Band die Bedeutung und Strahlkraft des immer wieder ins Feld geführten „Weber-Paradigmas“ unter Beweis gestellt werden sollte, so seien nachdenkliche Zweifel erlaubt.

„Religion“ in der Soziologie Max Webers

Mit dem hier anzuzeigenden Band legt der emeritierte Bielefelder Soziologe Hartmann Tyrell eine Sammlung von Aufsätzen aus den Jahren 1991 bis 2009 vor, in denen er der Bedeutung von „Religion“ im Gesamtwerk Max Webers nachspürte und die bislang verstreut in Zeitschriften und Sammelbänden erschienen waren. Die Sammlung erscheint in jener Reihe „Kultur- und sozialwissenschaftlicher Studien“, in der bereits der Sammelband von Arbeiten des britischen Weber-Forschers Peter Ghosh erschienen war.

In der Weber-Forschung erregte Tyrell Aufmerksamkeit vor allem durch seinen Aufsatz von 1994 über die Abwesenheit des Begriffs „Gesellschaft“ beim Soziologen Max Weber und einem über den Begriff des jüdischen „Pariavolkes“ aus dem Jahr 2011; verwunderlicherweise wurden beide Texte nicht in die hier zu rezensierende Sammlung aufgenommen. Dabei handelt es sich doch erkennbar um die (Zwischen-)Summe einer lebenslangen Beschäftigung mit Webers Begrifflichkeit, die dieser der Religionssoziologie vermacht hat und die bis zum heutigen Tag von großer Wirkmächtigkeit geblieben ist. Selbst wer noch nie eine Zeile von Max Weber gelesen hat, wird von manchen Weber‘schen Wortschöpfungen Gebrauch machen: Charisma, Entzauberung der Welt, Kampf und Wiederkehr der Götter, religiöse Unmusikalität, protestantische Werkethik. Wenn es schon ein Soziologe sein sollte, wäre Tyrell auch ein sehr guter Kandidat für die Mitarbeit an der historisch-kritischen Edition der PE gewesen, in der er jedoch nur zweimal und das auch nur als Mitherausgeber eines Sammelbandes angeführt wird. Hartmann Tyrell gehört unstrittig zu jenen wenigen Religionssoziologen, die nicht nur die Schriften Max Webers genau kennen, sondern zudem den jeweiligen, komplexen ideengeschichtlichen Hintergrund dieser Texte, vor allem jener vielen, die sich mit der Bedeutung von Religion auseinandersetzen. Welchen Ansatz er dabei verfolgt, kann man sehr gut an einem der aufgenommenen Texte ablesen, dessen Titel deutlich macht, worum es Tyrell durchgehend zu tun ist: „Worum geht es in der ‚Protestantischen Ethik‘? Ein Versuch zum besseren Verständnis Max Webers.“

In diesem Aufsatz will Tyrell „aufklären, worum es Max Weber eigentlich gegangen sei“, weswegen es sinnvoll sei, „noch einmal grundsätzlicher nach den Intentionen und Prämissen“ zu fragen. Auf 42 Seiten breitet Tyrell einen erstaunlichen Schatz an Wissen über Max Webers Studien zur Kulturbedeutung des asketischen Protestantismus aus, der von einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung zeugt. Tyrells Hauptanliegen in diesem Aufsatz ist es, neben einer eindringlichen Rekapitulation der zentralen Argumente Webers, deren ideengeschichtlichen Hintergrund zu verdeutlichen. Insbesondere die These, dass gerade bei diesen Texten Max Webers der Einfluss von Friedrich Nietzsche von maßgeblicher Bedeutung war, ist für Tyrell entscheidend. Dabei ist er klug genug, keinen „Beweis“ für diese These anzubieten, er begnügt sich vielmehr mit Formulierungen wie „Meine Vermutung ist, daß hier Friedrich Nietzsche maßgeblich im Spiel ist.“ Oder: „da, wo es […] um die zentrale Thematik der ‚Rationalisierung‘ von Handeln, Lebensführung und Affekthaushalt […] geht, taucht unverkennbar […] und bis in die Sprachwahl hinein Nietzsche am Horizont auf.“

Unwirsch beurteilt Tyrell jene Weber-Interpreten – wie namentlich Wolfgang Schluchter –, die den Einfluss Nietzsches auf Weber zurückweisen, als „töricht“. Um seine eigene „Vermutung“ über Nietzsches ausschlaggebende Bedeutung für die PE zu plausibilisieren, geht Tyrell in drei Schritten vor: In seinem Abschnitt über das Weber‘sche Argument der vollkommenen „Unwahrscheinlichkeit“ und „Befremdlichkeit“ des modernen Kapitalismus führt er Nietzsches Ausführungen in der „Fröhlichen Wissenschaft“ an, in denen dieser – aus einer „Adelsperspektive“ heraus – die Verachtung von Arbeit und Erwerb formulierte; nach Tyrell steht die Betonung des asketischen Charakters des Geistes des Kapitalismus in gedanklicher Verbindung mit der dritten Abhandlung „Was bedeuten asketische Ideale?“ aus Nietzsches „Genealogie der Moral“, weswegen Tyrell eine „auffällige Parallelität zum Sprachgebrauch Max Webers“ sieht und das Weber‘sche Konzept bei Nietzsche als „deutlich vorgedacht“ sieht; die Weber‘sche Konstruktion von Religion als „Lebensführungsmacht“ habe dieser ebenfalls in starker Anlehnung an Nietzsche entwickelt: „Es scheint mir aber unzweifelhaft, daß auch in dieser Beziehung Nietzsche ausschlaggebend war, wofür nur auf das dritte Hauptstück von ‚Jenseits von Gut und Böse‘ (‚Das religiöse Wesen’) verwiesen sei.“

Zusammenfassend schreibt Tyrell – in Anspielung an Nietzsches „Genealogie der Moral“ von 1887: „Und ich zweifle nicht: Webers Protestantismusstudie steht auch in dieser Hinsicht in der Kontinuität Nietzsches und muß folglich eine ‚Genealogie des Kapitalismus‘ (oder doch des kapitalistischen Geistes) genannt werden. […] Halten wir hier nur fest: Nietzsche und Marx sind die Götter im Hintergrund (in der ‚Hinterwelt‘) der Protestantischen Ethik. Aber im werkgenetischen wie im sachlich-systematischen (das Problemverständnis betreffenden) Sinne und erst recht, was die mitschwingenden metaphysischen und Kulturprobleme angeht, gilt: erst Nietzsche, dann Marx.“

Dass Tyrells Hauptanliegen – die ideengeschichtliche Verbindung von Weber und Nietzsche – sich auf gute Argumente stützen kann, wird nicht nur durch die von ihm herangezogenen Zitate nachvollziehbar gemacht, sondern kann auch durch eine famose Selbstaussage Webers „belegt“ werden. Von Eduard Baumgarten wurde berichtet, dass Weber – nach seiner Diskussion mit Oswald Spengler in München im Januar 1920 – folgenden Ausspruch tätigte: „Die Redlichkeit eines heutigen Gelehrten, und vor allem eines heutigen Philosophen, kann man daran messen, wie er sich zu Nietzsche und Marx stellt. Wer nicht zugibt, daß er gewichtige Teile seiner eigenen Arbeit nicht leisten konnte, ohne die Arbeit, die diese beiden getan haben, beschwindelt sich selbst und andere. Die Welt, in der wir selber geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt.“

Bei aller Plausibilität der Tyrell‘schen Argumentation muss jedoch immer wieder darauf hingewiesen werden, dass es bei Weber keine explizite Zitation von Texten Nietzsches gibt. Die immer wieder angeführte Schlusspassage des zweiten Aufsatzes über „Askese und kapitalistischen Geist“ – „Dann allerdings könnte für die ‚letzten Menschen‘ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: ‚Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.‘“ – klingt zwar sehr nietzscheanisch, konnte jedoch nie direkt mit einem Text von Nietzsche in Verbindung gebracht werden, – ungeachtet jahrzehntelanger hermeneutischer Bemühungen in diese Richtung. So ist allenfalls Tyrell insoweit zu folgen, als er davon schreibt, dass viele Nietzsche-Bezüge im Werk Webers vielfach unausgesprochen seien, in Anspielungen oder in „semantischen Anschlüssen“ steckten, die zwar den Zeitgenossen „lesbar“ waren, die heute jedoch „entschlüsselt“ werden müssten.

Dass Tyrell ein entschiedener Skeptiker gegenüber jeder „Denkmalspflege“ ist, die er aktuell durch die Beschäftigung mit Max Weber durch „nur noch historisch interessierte Historiker und Biographen“ ausgeübt sieht – ein eindeutiger Hieb gegen seinen Bielefelder Kollegen Joachim Radkau –, geht aus vielen der hier zusammengestellten Texte hervor. Statt noch auf weitere Aufsätze einzugehen, sei hier allein auf die „Einleitung“ mit der Unterschrift „Max Webers Soziologie. Einige Anmerkungen zur Einführung“ hingewiesen. Sie eröffnet die Sammlung und macht deutlich, dass Tyrell nicht nur als Religionssoziologe im engeren Sinn eingeschätzt werden möchte. Es geht Tyrell insgesamt darum, an das „heranzuführen“, was Weber unter Soziologie verstand und als solche betrieb, seine Aufsätze seien bemüht – so der Verfasser – „Weber aufs Maul zu schauen“, das heißt sie wollen helfen, „genauer mit zu vollziehen, was Weber im Sinn hat, wenn er seine jeweilige Sache ‚soziologisch‘ nennt oder sie unter das Dach der Soziologie zieht“.

Neben seinem verdienstvollen Aufdecken komplexer ideengeschichtlicher Zusammenhänge im Werk Max Webers – wer käme schon darauf, das Wechselspiel von Religion und Alltagsleben bei Weber mit Novalis in Verbindung zu bringen? – sticht noch ein weiteres, durchgehendes Motiv der Tyrell‘schen Texte ins Auge: sein erkennbares Bedauern, dass die (religions-)soziologischen Positionen des Zeitgenossen Max Webers, Georg Simmel, schon zeitgenössisch und seitdem seiner Meinung nach viel zu wenig zur Kenntnis genommen wurden und werden. Auch insofern ist die hier anzuzeigende Aufsatzsammlung eine bereichernde Lektüre nicht nur für die Weber-Forschung, sondern darüber hinaus für alle, die sich für die wissenschaftliche und intellektuelle Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Erscheinungsformen von Religiosität um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert interessieren.

Weber 3.0: Die Rezeptionsforschung

Obwohl es bereits seit einigen Jahren etliche einschlägige Arbeiten zur Rezeption Max Webers in anderen Sprachkulturen und Wissenschaftssystemen gibt, fehlt in dem voranstehend rezensierten Max Weber-Handbuch erstaunlicherweise jeder Beitrag dazu. Denken muss man dabei vor allem an die U.S.A., an Japan, an Italien, an die spanischsprachige Welt, an China, an Großbritannien und an Frankreich.

Nach Studien über einzelne Länderrezeptionen des Weber‘schen Werks – exemplarisch sei die Arbeit von Wolfgang Schwentker über „Max Weber in Japan“ (1998) genannt – unternahmen Karl-Ludwig Ay und Knut Borchardt einen ersten – wenn auch unvollständigen – systematischen Versuch mit ihrem 2006 erschienenen Band über „Das Faszinosum Max Weber. Die Geschichte seiner Geltung“. Darin versammelten sie Beiträge über die Wirkungsgeschichte des Weber‘schen Werks in den U.S.A., in Japan, in der spanischsprachigen Welt und in Bulgarien.

Max Weber in der Welt

Einen wichtigen Schritt weiter unternimmt der im vergangenen Jahr erschienene Band über die internationale Rezeption Max Webers. Er dokumentiert dreizehn Vorträge, die bei einer internationalen Konferenz über „Max Weber in der Welt“ im Juli 2012 im Universitätsclub Bonn gehalten wurden. Eingeladen dazu hatte die „Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland“, die im Juli 2002 gegründet worden war und die sich mit dieser Tagung den Namen „Max Weber Stiftung“ als Zusatz verliehen hatte. Zu ihr gehören aktuell zehn deutsche Forschungsinstitute, von denen das „Deutsche Historische Institut“ in Rom das älteste – 1888 als „Preußische Historische Station“ gegründet – ist.

Nach einem überaus informativen Überblicksbeitrag von Edith Hanke, der derzeitigen Generalredaktorin der MWG, zu Aktualität und weltweiter Rezeption Max Webers mit einer Tabelle über die bislang vorliegenden Übersetzungen seiner Werke (272 in Asien, 219 in Europa, 121 in Nordamerika, 115 in Ost- und Mitteleuropa, 92 in Mittel- und Südeuropa, 39 im Nahen Osten) und mit Abbildungen diverser Titelblätter von Übersetzungen von „Politik als Beruf“ folgen Beiträge über „Max Weber in der arabischen Welt“ (Stefan Leder), über die Weber-Rezeption in der Türkei (Alexandre Toumarkine) und in Ägypten (Haggag Ali), ein etwas wirrer Beitrag über das Verhältnis Webers zu den großen Imperien der Welt (Sam Whimster), eine präzise und systematische Analyse der vorhandenen Literatur über die Rezeption der Weber‘schen Russlandschriften und über das Interesse Webers an Russland in den Jahren 1905/06 (Dittmar Dahlmann), über die Reaktion polnischer Soziologen auf die Schriften und Äußerungen Max Webers zu Polen (Marta Bucholc) und über wissenschaftliche Kontroversen im Zusammenhang mit der über 100 Jahre langen Rezeption Max Webers in Japan und insbesondere den japanischen Übersetzungen der „Protestantischen Ethik“ (Wolfgang Schwentker).

Als ganz besonders gehaltvoll für den Weber-Forscher erweisen sich die Beiträge von Peter Hersche über die Romaufenthalte Max Webers in den Jahren 1901-1903 und sein Verhältnis zum Katholizismus und von Lawrence A. Scaff über die Amerika-Reise des Ehepaars Weber im Jahr 1904 und über die Rezeption des Weber‘schen Werks in den U.S.A. -– gewissermaßen ein etwas längeres Abstract zu seinem Buch über diese beiden Themen. Ein Beitrag über „Max Weber und die Philosophie de l’art von Hippolyte Taine“ von Francesco Ghia ist ein Beispiel jener unendlich vielen Publikationen, die zwar an Max Weber anknüpfen – in diesem Fall an die Tatsache, dass Marianne Weber davon berichtete, dass ihr Mann „Taines sämtliche Bände“ gelesen habe –, aber im wesentlichen dann doch nichts über Weber beitragen. Der Aufsatz befasst sich mit dem Milieu-Begriff und mit der Kunstkonzeption bei Taine, die sich mit Webers Ästhetik „parallelisieren“ lasse. Sehr viel nützlicher sind die beiden abschließenden Beiträge: Hinnerk Bruhns geht sowohl der Beziehung Webers zu Frankreich – vor allem mit Blick auf den Ersten Weltkrieg – als auch der französischen Weber-Rezeption nach. Mit seinem wiederabgedruckten Vortrag beim Historischen Kolleg in München aus dem Jahr 2011 liefert Gangolf Hübinger, einer der Mitherausgeber der MWG, in etwas mäandernder Manier eine biographische Einbettung Webers in die Prozesse der Modernisierung als eines „engagierten Beobachters“ (Raymond Aron), wobei er sich vor allem auf die Amerika-Reise Webers und dessen Demokratisierungserfahrungen in Russland und Deutschland bezieht.

Insgesamt kann anerkennend festgehalten werden, dass dieser Band in weitgehend überzeugender Weise dokumentiert, wie sehr die Einflüsse des Werks Max Webers in den unterschiedlichsten Kulturkreisen und ideologischen Kontexten wirksam sind, wie es auch im Band selber formuliert wird: „Die Erforschung der Weberrezeption bietet immer auch ein Spiegelbild dessen, was an jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen und Problemen zurückscheint.“ Es ist insofern kein Zufall oder reine Rhetorik, wenn manche Beiträge mit zukunftsorientierten Aussagen enden, wie etwa Stefan Leder über die arabische Weber-Rezeption: „Attraktivität und emanzipatorische Inspiration [sind] durch Max Weber im zeitgenössischen Denken weiterhin präsent. Man darf auf die Zukunft gespannt sein.“ Oder wenn Alexandre Toumarkine mit dem Satz endet: „Weber still awaits his full rediscovery in Turkey!“ Auch solche Einschätzungen belegen, wie berechtigt es ist, in Max Weber einen unbestrittenen Klassiker der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften zu sehen, dessen Erklärungspotential noch keineswegs restlos ausgeschöpft ist.

Weber 4.0: Die Biographieforschung

Einer gern zitierten Anekdote zufolge soll Martin Heidegger seine Freiburger Vorlesung über Aristoteles mit folgenden Sätzen begonnen haben: „Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb. Und nun zu seinen Werken!“ Diese Einstellung repräsentiert eine Position, die bis heute bei Vielen als einzig angemessene für den wissenschaftlichen Umgang mit Leben und Werk eines Wissenschaftlers gilt. Herkunft, Alltag, lokale und persönliche Umstände sind weitgehend unbedeutend. Es geht einzig und allein um das Gedachte, das gesagte und gedruckte Wort, um das Werk also. „Wissenschaftler haben keine Biographie, sondern eine Bibliographie“, ist einer der Sprüche, die man als Biograph auch heute noch zu hören bekommt.

Im Falle Max Webers ist es mit dessen Biographie ganz besonders schwierig, denn am Anfang stand – wie schon bei der Re-Konstruktion seines Werks – Marianne Weber. Mit ihrem 1926 erschienenen Buch „Max Weber. Ein Lebensbild“ setzte die Witwe und Nachlassverwalterin ein Monument in die Wissenschaftslandschaft. Jahrzehntelang zehrten die wenigen relevanten Darstellungen der Biographie Max Webers alle von diesen mehr als 700 Seiten aus der Feder der „Gefährtin“ Max Webers.

Das war nicht unbedingt die Schuld der Autoren, denn für einen „Klassiker“, selbst einen der Sozialwissenschaften, war die Quellenlage erstaunlich mager. Als publizierte Quellen, also als Originaltexte von Weber selber, die biographische Auskünfte geben, ließen sich die folgenden Arbeiten – in der chronologischen Reihenfolge ihrer Publikation – identifizieren:

1. Die Sammlung „Politische Briefe“ Max Webers aus den Jahren 1906 bis 1919, die Marianne Weber der ersten Auflage der „Gesammelten Politischen Schriften“ (GPS) im letzten Abschnitt mitgegeben hatte, nicht ohne erhebliche Kürzungen und Verschlüsselungen vorzunehmen; diese Sammlung wurde ab der zweiten Auflage der GPS von 1958 nicht mehr abgedruckt.

2. Eine Vielzahl von Originaldokumenten, die Marianne Weber, wenn auch mit teilweise erheblichen editorischen Eingriffen, wie Kürzungen und Verschlüsselungen, in ihrem „Lebensbild“ zum Abdruck brachte. In der dritten Auflage von 1984 finden sich ein Register der erwähnten Schriften Max Webers, eine Zeittafel, eine Entschlüssellungstabelle der erwähnten Namen und ein Personenregister, die von Max Weber-Schäfer, dem Adoptivsohn Marianne Webers, erstellt wurden.

3. Die Sammlung „Jugendbriefe“, die ebenfalls von Marianne Weber im Jahr 1936 bei Mohr-Siebeck herausgegeben wurde, in der eine Auswahl von Briefen Max Webers, insbesondere an seine Familienangehörigen im Zeitraum 1876 bis 1893 zu finden ist, wiederum mit editorischen Eingriffen wie Kürzungen und Verschlüsselungen.

4. Jene Briefe und Dokumente, die Wolfgang J. Mommsen aus dem ehemaligen Preußischen Geheimen Staatsarchiv und aus dem von Eduard Baumgarten verwahrten Nachlass in seiner 1959 erschienenen Arbeit „Max Weber und die deutsche Politik 1890‑ 1920“ – teilweise gekürzt – zitierte und abdruckte, und jene, die zusätzlich in die zweite Auflage seiner Arbeit aufgenommen wurden.

5. Jene Dokumente, insbesondere Briefe Max Webers aus dem Zeitraum 1881 bis 1920, die Eduard Baumgarten aus dem ihm nach 1945 von Marianne Weber übergebenen handschriftlichem Nachlass Max Webers in seiner Arbeit „Max Weber. Werk und Person“ abdruckte, ebenfalls gekürzt und verschlüsselt.

Zusätzlich zu der Experten hinlänglich bekannten Tatsache, dass im „Lebensbild“ eine Vielzahl irriger Datierungen, Verfälschungen der Zusammenhänge und bedenklicher Kürzungen vorliegt, kommt noch hinzu, dass Marianne Weber sowohl in ihrem Zusammenleben mit Max Weber als auch in ihrer literarischen Darstellung seines Lebens, unkritisch vor allem die Perspektive der Mutter Max Webers, Helene Weber, geborene Fallenstein, übernahm und zu ihrer eigenen machte. Sie emanzipierte sich nie von ihrer ursprünglichen Haltung ihrem Mann gegenüber, als einer Mischung von Ehrfurcht und Bewunderung. Insgesamt muss das Bild, das uns Marianne Weber vom Menschen Max Weber und seinem Entwicklungsweg hinterlassen hat, als ein einseitiges und erheblich retuschiertes eingestuft werden.

Das zum Weber-Gedenkjahr 1964 vom Tübinger Weber-„Hausverlag“ Mohr-Siebeck veröffentlichte Buch von Eduard Baumgarten weckte hier ganz andere und weit größere Erwartungen: Der Sohn von Fritz Baumgarten, dem Cousin Max Webers mütterlicherseits, ein Mitglied der Familie also, dem Marianne Weber persönlich den handschriftlichen Nachlass, soweit er nicht ausgelagert worden war, übergeben hatte, „mit der Verabredung, er möge über Max Weber eine wohl dokumentierte kritische Darstellung versuchen, die durch die Augen der Generation gesehen sei, die Max Weber, sein Temperament, seine geistige Mächtigkeit in seiner Zeit, noch gekannt und begriffen habe, aber doch seine Erfahrungen, seine Erlebnisweisen, elementaren Urteile, sofern sie von der Bismarckischen und Nach-Bismarckischen Epoche geprägt erscheinen, nicht mehr teilte, sondern mit wesentlich anderen eigenen Lebenserfahrungen, in anderer Stimmung der Zeitgeschehnisse aufgewachsen war.“ Eine solche Darstellung hätte geeignet sein können, einen kritisch-unbefangenen Blick auf die Lebensgeschichte jenes Mannes zu ermöglichen, der spätestens zum Zeitpunkt seines 100. Geburtstages in die Ebene der „Klassiker“ eingerückt war. Doch die mehr als 700 Seiten stellten und stellen eine einzige Enttäuschung der so geweckten Erwartungen dar.

Schon vier Jahre nachdem Eduard Baumgarten selbst den Zeitpunkt für eine eigene umfassende Biographie Max Webers und die damit notwendigerweise verbundene Revision des „Lebensbildes“ für noch nicht gekommen hielt, schien es ihm im Juli 1968 jedoch an der Zeit gewesen zu sein, dem amerikanischen Doktoranden Arthur Mitzman einen Blick „hinter die Kulissen“ des „Lebensbildes“ zu ermöglichen. Auch Mitzmans Geschichte dürfte inzwischen hinlänglich bekannt sein, denn es ist eine einfache Geschichte: Max Weber, hin und hergerissen zwischen dem Leitbild des selbst- und genusssüchtigen Vaters und der wahnhaft religiösen Mutter, hatte nicht nur deswegen seinen inneren und äußeren „Zusammenbruch“, sondern entwickelte auf eben dieser zerrissenen Grundlage ein resignatives, repressives und autoritäres „Kultur-Überich“, das ihn das Gesellschaftsbild vom „stahlharten Gehäuse“ der Hörigkeit als Projektion seiner ungelösten psychischen Probleme entwickeln ließ. Das war an sich noch keine eigentlich neue Geschichte, war sie ja bereits im „Lebensbild“ angelegt gewesen, aus dem Mitzman durchgängig geschöpft hatte.

Neu hingegen war der zweite Teil der Mitzman‘schen Interpretation, unter dem Titel „Estrangement and Eros“ und da insbesondere seine Darstellung eines Weber‘schen Rückzugs vom „Asketischen Rationalismus“ im Gefolge seiner außerehelichen Liebschaften mit Mina Tobler und Else von Richthofen-Jaffé. Das Material für seine These von einem derart verursachten „dramatic change“ der Weber‘schen Moralauffassungen im Jahr 1910 hatten ihm die Gespräche mit Eduard Baumgarten und Else Jaffé im Juli 1968 geliefert, bei denen Baumgarten ihm offensichtlich Einblick in den damals noch unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Max Weber und seinen beiden Geliebten, Mina Tobler und Else Jaffé, gewährte und Else Jaffé ihm anscheinend ausführlich über ihre Beziehung zu Max Weber berichtete.

Abgesehen von der genannten Erweiterung des biographischen Materials stellte die Mitzman-Arbeit eine holzschnittartig vergröberte Kurzfassung des „Lebensbildes“ dar. Noch dazu unter dem methodologisch eingeschränkten Aspekt, Webers intellektuelle Entwicklung durch die Darstellung seines „personal background, problems, and experiences“ verständlich zu machen. Die Mitzman-Studie über Weber – ebenso wie Mitzmans Arbeit über Robert Michels, Werner Sombart und Ferdinand Tönnies – war gänzlich dem damaligen Konzept einer „Psycho-Historie“ verpflichtet und interpretierte nicht nur den Lebensweg, sondern auch das wissenschaftliche Gesamtwerk durch die, ausschließlich von Marianne Weber überlieferte, Skizzierung der psychischen Entwicklung Max Webers. Eine derartige, „kurz‑schlüssige“ Vorgehensweise musste als untauglich eingestuft werden, den komplexen Vermittlungs‑ und Rückkoppelungsprozessen zwischen der Person eines Autors und seinem Werk gerecht zu werden.

Vier Jahre nach dem Erscheinen von Mitzmans Weber-Studie erschien die Arbeit des englischen Literaturhistorikers Martin Green über die Richthofen-Schwestern. Green unternahm, im Vergleich zu Mitzman, erst gar nicht den Versuch, Leben und Werk in ihrer Entwicklung miteinander zu verknüpfen, sondern beschränkte sich auf das Biographische im engsten Sinn. Seine Grundkonstruktion dürfte ebenfalls bekannt sein: Um zwei Paare – D. H. Lawrence und Frieda von Richthofen, Max Weber und Else von Richthofen – gruppierte Green ein personenreiches Ensemble, das er vor allem im geistig rebellischen Heidelberg und im matriarchalisch-künstlerischen München um die Jahrhundertwende spielen lässt. Sein großer Essay einer Kulturgeschichte des späten Wilhelminischen Deutschland – für den Green im Gegensatz zu Mitzman umfängliche eigene Recherchen anstellte – eröffnete jedoch für die Frage nach der wissenschaftlichen Biographie-Forschung, die ja immer auch eine Biographie des Werks, eingebunden in die Biographie des Menschen zu sein hat, ebenfalls keine wesentliche Modifikation.

„Neu“ im eigentlichen Sinne waren durch die Green-Studie jedoch die Informationen über das Privatleben Webers, vor allem über seine „erotische Entwicklung“. Von den erotisch-neurotischen Beziehungen zu Emmy Baumgarten über die onkelhaft-kameradschaftliche Beziehung zu Marianne Schnitger zur erotisch-sexuellen Erfüllung mit Mina Tobler und vor allem mit Else Jaffé zeichnete Green den Entwicklungsgang des Mannes Max Weber. Quellen für Greens Darstellungen waren seine Gespräche mit Else Jaffé, mit deren Tochter Marianne von Eckardt und mit Eduard Baumgarten, die ihm zudem Einsicht in den Briefwechsel zwischen den Beteiligten gewährt hatten. Gerade weil die Green-Darstellung in dieser Hinsicht wesentlich über das „Lebensbild“ hinausgeht und dieses entscheidend mit einer alternativen Interpretation kontrastiert, blieb für eine wissenschaftlich seriöse Biographie-Forschung mit Bedauern festzustellen, dass auch die Green-Studie dem Leser keine Möglichkeit eröffnete, sich ein eigenes Urteil über Stichhaltigkeit und Relevanz dieser Interpretation zu bilden. Dazu kam noch die Tatsache, dass Greens Buch sich alleine auf das konzentrierte, was Johannes Winckelmann immer nur verächtlich die „Tantengeschichten“ nannte, also die amourösen Beziehungen Max Webers zu Mina Tobler und Else Jaffé, und das wissenschaftliche Werk Max Webers vollkommen unberücksichtigt ließ.

Die „Kombination von höherem Klatsch und Geschichtsphilosophie“, wie Nicolaus Sombart die Green-Arbeit charakterisierte, machte diese noch lange nicht zu einer „der scharfsinnigsten Analysen der deutschen Sozial‑ und Geistesgeschichte der letzten hundert Jahre“ (ebenfalls Nicolaus Sombart). Zwar leisteten die Arbeiten von Mitzman und Green sicherlich einen sinnvollen und notwendigen Beitrag zur Entmythologisierung und Entheroisierung Max Webers, aber schon die Korrekturen von Eduard Baumgarten, die dieser an jenen Arbeiten anzubringen suchte, die ihn selber als Quelle ihrer Porträts benutzt hatten, zeigten, dass ein zu simples Bild von Max Weber als das eines autoritären, präpotenten, intoleranten „Bismarck der Wissenschaft“ (Nicolaus Sombart), dessen gesamtes wissenschaftliches Tun den Charakter einer „Zwangsneurose“ eines „lebensunfähigen, ja todessehnsüchtigen Psychopathen“ entsprang, nun wirklich ein verzeichnetes war. Sogar die „Tantengeschichten“ waren zu grob und verzerrt, teilweise schlichtweg falsch, erzählt worden, wie Eduard Baumgarten monierte.

So blieb auch sieben Jahrzehnte nach Max Webers Tod zu konstatieren, dass uns bis dahin nur ein facettenarmes, einseitiges und erheblich retuschiertes Bild vom Menschen Max Weber zur Verfügung stand. Es fehlte eine wissenschaftlich gehaltvolle und brauchbare Studie über die kontextgebundenen Zusammenhänge von Leben, Werk und Wirkung Max Webers. Was gebraucht wurde, war eine verlässliche Darstellung, die der Forderung nach einer Verknüpfung individueller Daten mit einer Werkanalyse, die auch die bisherige Sekundärdiskussion berücksichtigt, und eine Einbindung in eine integrative Disziplin- und Kulturgeschichte entsprechen würde. Erst mit dem Erscheinen der MWG und insbesondere der Briefbände eröffnete sich die Möglichkeit, diese und andere Leerstellen zu füllen. Ohne den Zugang zum Briefwechsel, der in acht Bänden von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen als Herausgeber für die Jahre 1983-1988 angekündigt worden war, war das Unternehmen einer wissenschaftsgeschichtlich relevanten Biografie Max Webers nicht durchführbar.

Eine voyeuristische Bio-Biographie Max Webers

Als im Frühjahr 2005 die Weber-Biographie des Bielefelder Historikers Joachim Radkau erschien, richteten sich hohe Erwartungen auf dieses Buch. Sollten nun endlich alle diese genannten Desiderata erfüllt worden sein? Schnell wurde deutlich, dass Radkau seinen Blick vor allem auf die Kranken- und „Tantengeschichten“ konzentriert hatte. Und das in reißerischer Manier und mit unbarmherzig kaltem Blick, wie auch an dieser Stelle ausgeführt wurde.

Von dieser Arbeit erschien nun – rechtzeitig zum 150. Geburtstagsgedenken – eine „vollständig überarbeitete“ Taschenbuchausgabe, die „in Teilen gegenüber der Originalausgabe“ gekürzt worden ist und die hier nicht nochmals rezensiert werden muss, hat sich doch an Perspektive und Stil nichts geändert.

Eine parteiische Marianne Weber-Biographie

Eine weitere Arbeit gehört in den Kontext des „biographical turn“ (Klaus Lichtblau) der aktuellen Max Weber-Forschung: die umfangreiche Biographie von Marianne Weber aus der Feder der Soziologin Bärbel Meurer, die im Jahr 2010 erschien und ebenfalls an dieser Stelle ausführlich besprochen wurde.

Eine amerikanische Reise-Biographie und Rezeptionsstudie Max Webers

Im Schnittbereich von Rezeptionsforschung (Weber 3.0) und Biographieforschung (Weber 4.0) liegt das Buch von Lawrence A. Scaff zum doppeldeutigen Thema „Max Weber in Amerika“, denn es behandelt sowohl die dreimonatige Reise des Ehepaars Weber durch einen Großteil der USA vom 29. August bis zum 19. November 1904 als auch die Rezeption der Arbeiten Max Webers seit den 1920er-Jahren, insbesondere die hervorgehobene Rolle von Talcott Parsons. Die amerikanische Ausgabe erschien im Jahr 2011 und wurde ebenfalls an dieser Stelle besprochen.

Seit dem vergangenen Jahr liegt nun eine mustergültige deutsche Übersetzung von Axel Walter vor, die hier jedoch nicht nochmals rezensiert werden muss. Wer sich mit den Fragen nach den zentralen Motiven der Weber‘schen Sichtweise auf die Vereinigten Staaten von Amerika – die Entstehung und die Folgen des modernen Kapitalismus, die Bedeutung des Protestantismus, die „frontier“ mit ihrer Indianer-Romantik, das Rassenproblem und die Bedeutung der freiwilligen Assoziationen der amerikanischen Zivilgesellschaft – befassen möchte sowie mit der komplexen Geschichte der Rezeption des Weber‘schen Werks in der US-amerikanischen Soziologie, wird an diesem flüssig und spannend geschriebenen Buch nicht vorbeikommen.

Eine feuilletonistische Weber-Biographie

Der damalige Redakteur des Feuilletons der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Jürgen Kaube, der zwischenzeitlich zu einem der Herausgeber dieser Zeitung avancierte, lieferte vorzeitig zum 150. Jahrestag Max Webers eine „soziologische Biographie“, mit der er „Schlaglichter“ auf diverse Stationen und Themen Max Webers werfen wollte. Als talentierter Feuilletonist war er geradezu prädestiniert für diese Aufgabe, die er meisterhaft erfüllt hat. Kaubes Buch, das streckenweise geradezu amüsant zu lesen ist, präsentiert ein sehr flüssig geschriebenes Lebensbild Max Webers. Darin finden sich zudem erfreulich eingehende Exkurse zu Autoren, die einen wichtigen Bezug zu Max Weber hatten, wie der über Victor Hehn und dessen Buch über die Wanderung der Kulturpflanzen und Haustiere in Europa, das Max Weber geliebt hat, zum Buch von Catherine Radziwill über die Gesellschaft Berlins, über Werner Sombart, über Georg Simmel, über Frederick Jackson Turner, über August Weismann und über Robert Michels.

Angesichts der Tatsache, dass dieser Rezensent wenig später seine eigene Max Weber-Biographie publizierte, soll an dieser Stelle Kaubes Buch eher zurückhaltend vorgestellt werden. Auch Kaube erweist sich als ein Verfechter psychologischer Deutungen Max Webers, so beispielsweise wenn er über die wissenschaftstheoretischen Aufsätze Webers schreibt: diese seien „vielmehr die Ursachenforschung und der Genesungsbericht eines Rekonvaleszenten, der sich aus einer Erkenntniskrise selbst herausschrieb und eben deshalb einen so ungeheuren, kräftezehrenden Aufwand damit trieb.“ Erstaunlicherweise enthält Kaube sich – im klaren Kontrast zu Radkau, von dem er viele seiner Beurteilungen bezieht – einer zu detaillierten Beantwortung der immer wiederkehrenden Fragen nach der Rolle der Sexualität im Hause Weber: „Man kann es der Forschung überlassen, ob die beiden [Max und Marianne Weber] überhaupt miteinander schliefen und was aus der Beantwortung dieser Frage folgt“, um sich wenig später dann doch der These der herrschenden Asexualität anzuschließen: „Man kann nur ahnen, welche Hemmungen hier wechselseitig und abwechselnd dafür sorgten, dass sich die Eheleute nie zur Lust aneinander bereitfanden.“

Bei allem Lob, das dem Buch von Kaube zuteil wurde und dem sich dieser Rezensent weitgehend anschließt, seien doch wenigstens diese Monita angeführt: Alfred Weber war nicht der Doktorvater von Franz Kafka, aber dann wäre Kaubes schöne Geschichte über den bürokratischen „Apparat“ ruiniert gewesen. Ob man den „Monte Verità“ allein als eine „gemüsebasierte Naturheilanstalt“ bezeichnen sollte, ist fraglich, klingt aber amüsant. Ein  richtiger Schnitzer ist es jedoch, wenn er folgende Szene fabuliert: „So wie an ihrem Totenbett einst Else Jaffé sitzen wird, so stirbt Mina Tobler in Mariannes Armen, die ‚Verehrungsgemeinschaft‘ war komplett.“

Das ist zwar hübsch formuliert, beschwört jedoch eine Geisterséance: Marianne Weber starb am 12. März 1954, Mina Tobler stirbt am 5. Januar 1967, Else Jaffé stirbt am 22. Dezember 1973. Richtig ist, dass Mina Tobler in Gegenwart von Else Jaffé starb. Unmöglich jedoch ist, dass Mina Tobler in den Armen von Marianne Weber gestorben ist, denn diese war bereits 13 Jahre zuvor tot. Verblüffend ist auch Kaubes Expertentum, was die Weber-Forschung angeht: Als „die besten Kenner seines Werkes und dessen Entstehung“ nennt er Stefan Breuer, Peter Ghosh, Friedrich Wilhelm Graf, Lawrence Scaff und Hartmann Tyrell. Wohlgemerkt: Ich bin nicht gekränkt, dass ich nicht genannt werde, aber keinen der Herausgeber der MWG zu nennen, wenigstens M. Rainer Lepsius und Wolfgang Schluchter, aber auch nicht Wilhelm Hennis, Friedrich Tenbruck und Hubert Treiber, ist schon bemerkenswert.

Eine solide Biographie Else Jaffés

Mit seinem, ebenfalls zum 150. Geburtstag Max Webers, vorgelegten Buch über das Leben von Else Jaffé schließt der ausgewiesene Alfred-Weber-Spezialist Eberhard Demm eine seit langem beklagte Lücke unseres Wissens im Umkreis der Biographie Max Webers. Inzwischen kann man es ja ohne jede Heimlichtuerei auch öffentlich – und nicht mehr nur mit der Miene des wissenden Insiders – sagen: Sie war Max Webers Studentin, enge Freundin seiner Frau, seine Doktorandin, begehrte Schöne, Ehefrau seines Kollegen Edgar Jaffé, Geliebte seines Bruders Alfred – und endlich seine wilde Geliebte. Spätestens seit dem skandal- und sexbesessenen Buch von Joachim Radkau sind so ziemlich alle indiskreten Details der leidenschaftlichen Liebesgeschichte zwischen Max Weber und Else Jaffé ans Licht der danach lechzenden Öffentlichkeit gezerrt worden. Umso wichtiger ist es, dass uns mit der Arbeit des Historikers Demm nun eine Darstellung vorliegt, die sich aller skandalisierenden Töne bei einer einigermaßen objektiven Zusammenstellung der Fakten enthält.

Die junge mittellose Adelige aus dem preußisch besetzten Lothringen, Elisabeth Frieda Amelie Sophie Freiin von Richthofen – genannt und gerufen: Else – war fraglos eine überaus selbstbewusste und außergewöhnliche Frau, nicht nur in ihrer (langen) Lebenszeit (1874-1973). Demm schildert anschaulich den Weg, den das junge Mädchen nahm: Klosterschülerin, Lehramtsstudium, Studentin der Nationalökonomie in Freiburg, Heidelberg, Berlin, Heidelberger Doktorandin, Badische Fabrikinspektorin, Ehefrau eines vermögenden Mannes, Geliebte diverser Männer, darunter die des Psychoanalytikers Otto Gross, Alleinerziehende von vier Kindern, von denen eines im Alter von fast acht Jahren stirbt, Geliebte Alfred Webers, Geliebte Max Webers, Heidelberger Gefährtin Alfred Webers. Demm schildert alle diese Stationen eines insgesamt turbulenten Lebenswegs überaus anschaulich und unaufgeregt, wofür ihm eine beeindruckend breite Quellenforschung die Grundlage liefert, von französischen Ortsarchiven über die Korrespondenz zwischen Marianne Weber mit ihrer Schwiegermutter Helene Weber in Charlottenburg bis hin zu Materialien, die Guenther Roth vor einigen Jahren bei Else Jaffés amerikanischen Nachfahren ausfindig und 2012 über das Leo Baeck Institut allgemein zugänglich machte.

Dem Buch hinzugefügt sind eine übersichtliche Zeittafel und eine Reihe von Fotos, die teilweise bislang unveröffentlicht waren.

Man kann es unschwer auf diesen Nenner bringen: Wer sich auf die spannenden und komplexen Konstellationen der biographischen Verbindungen dieser bildungsbürgerlichen Intellektuellen im Deutschland zu Zeiten des Umbruchs der Moderne um 1900 einlassen möchte, wird an der Arbeit von Eberhard Demm nicht vorbei kommen. Man muss nicht allen seinen Bewertungen und Einschätzungen folgen – bei denen durchaus durchschimmert, dass ihm seine „Heldin“ nicht sonderlich sympathisch ist –, aber man kann viel von diesem Buch lernen. Die hier rekonstruierten Figurationen, in denen am fin de siècle „Liebe“ ausgehandelt wurde, sind auch jenseits der konkreten Individuen – Max und Marianne Weber, Else und Edgar Jaffé, Otto und Frieda Gross – von großem kulturhistorischen Interesse. Die „Emanzipation des Fleisches“ und der „‚Verlust der Heiterkeit‘ in erotischen Belangen“ (Wolfgang Riedel) werden in Demms Buch und den Materialien, aus denen er schöpft, überaus plastisch.

Angemerkt sollte noch werden, dass diese Biographie aus der Feder eines zünftigen Historikers bemerkenswert leserfreundlich formuliert ist, was die Lektüre streckenweise recht unterhaltsam gestaltet. So, wenn es etwa heißt: „Bei der schönen Else scharren sie [die Mitstudenten von Else von Richthofen] wenigstens nur mit den Füßen, wenn sie den Vorlesungssaal betritt“, oder wenn die Tatsache interpretiert wird, dass, wenn Edgar Jaffé die von ihm angebetete Else von Richthofen als „Peter“ anspricht, klar werde, wer in dieser Beziehung „die Hosen“ anhabe. Insgesamt enthält sich dieser Biograph nicht der (nachträglichen) Lebensberatung seiner Heldin, wenn er etwa schreibt: „Hätten sich Else und Edgar ihre Verbindung nicht doch noch etwas überlegen sollen? Aber wie so oft in solchen Fällen, das Rad, einmal ins Rollen gekommen, lässt sich nicht mehr aufhalten.“

Und an manchen Stellen findet der Leser Einschätzungen, die eher zum amüsierten Kopfschütteln einladen, wie etwa: „Frauen mögen keine Versager, sie lieben Männer, die überlegen sind und die sie wegen ihrer Qualitäten bewundern können“.

Geradezu kabarettistisch erscheinen jene Passagen, in denen er sich über die von manchen Weber-Biographen – so vor allem von Joachim Radkau – fantasierte Liebesszene bei einer Gondelfahrt in Venedig mokiert. Nicht nur, dass Demm akribisch nachweist, dass es sich um zwei Fahrten handelte, die Max Weber und Else Jaffé im Oktober 1909 in einer Gondel – und gewiss mit Hilfe eines Gondolieres – unternahmen, sondern dass es schon aus rein praktischen Gründen wohl nicht „zum Äußersten“ gekommen sein dürfte: „Ob Weber in der Gondel wirklich zudringlich wird, mag angesichts der Umstände und der kühlen Temperaturen im morgendlichen Venedig füglich bezweifelt werden. Als sexuell gehemmter Mann dürfte er eher Angst vor einer intimen Annäherung in einer so wenig diskreten Situation verspürt haben.“

Eine erschöpfende Doppel-Biographie über Frieda Gross und Else Jaffé

Während ihrer Mitarbeit bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe lernte die Zürcher Musiklehrerin Esther Bertschinger-Joos die 1910 geborene Eva Verena Schloffer, die älteste Tochter von Frieda Gross und Ernst Frick, kennen und stand mit ihr in enger Verbindung bis zu deren Tod im Jahr 2005. Von ihr erfuhr sie viele Details über die abenteuerliche Lebensgeschichte von Frieda Gross, geborene Schloffer, was dazu führte, dass Bertschinger-Joos sich auf eine jahrelange Suche nach weiterführenden Unterlagen machte, in Biographien, Romanen, Tagebüchern, Briefen und Dokumenten von Zeitzeugen, die in irgendeiner Beziehung zu Frieda Gross standen. Vor allem die Briefe von Frieda Gross an Else Jaffé, die im Archiv der Tufts University (Medford, Massachusetts, USA) verwahrt werden, waren es, die dazu führten, dass aus dieser Spurensuche ein stattliches Buch wurde, das sich wie ein spannender Liebes- und Kriminalroman über gewagte, gelungene wie gescheiterte Lebensexperimente liest. Der Untertitel verspricht nicht zu viel: „Ein bewegtes Leben im Umfeld von Anarchismus, Psychoanalyse und Bohème“. Das Buch ist in einem sehr persönlichen und streckenweise erschöpfend-ausführlichem Stil geschrieben, die Autorin spricht ihre diversen Heldinnen und Helden fast durchgehend mit den Vornamen an, der Leser wird zudem hineingenommen in die Nachdenklichkeiten und Fragen der Autorin, wenn es etwa heißt: „In der Schule, so stelle ich mir vor, lernte sie [Frieda Schloffer] mit Leichtigkeit.“ Oder: „Gerne wüsste ich mehr über das, was sich in der folgenden Zeit in Frieda Schloffers Leben ereignet hat“. Mit leicht pädagogischem Unterton wird der Leser, damit ihm die zahllosen Verwicklungen nicht durcheinander geraten, an manchen Stellen an die Hand genommen: „Halten wir fest: Frieda ist mit Ottos Einverständnis Erich Mühsams Geliebte geworden und Else erwartet ein Kind von Otto. Die ‚erotische Bewegung‘ nimmt ihren Lauf.“ Unverkennbar ist die große Empathie, die Bertschinger-Joos für ihre Heldin Frieda Gross empfindet.

Auch auf diese Art gelingt es der Autorin überaus plastisch und detailfreudig, das kurvenreiche Leben dieser 1876 geborenen Frau zu schildern: Es beginnt mit einem verwöhnten, aber traurigen Mädchen im Haushalt eines Grazer Rechtsanwalts, dem die Mutter im Alter von sieben Jahren stirbt, das unter anderem von der Cousine der verstorbenen Mutter, Sofie Reyer, in Obhut genommen wird. Sofie Reyer ist mit dem Philosophen Alois Riehl verheiratet, sie nimmt sich der kleinen Halbwaise an, was dazu führt, dass Frieda Schloffer ab 1889 als Schülerin in das „Höhere Mädchenpensionat Eichberghaus“ der Fräulein Julie und Camilla Blaß in Littenweiler bei Freiburg im Breisgau kommt. Dort lernt sie Else von Richthofen kennen und entwickelt eine lebenslange Beziehung, die Bertschinger-Joos sowohl als „innige Mädchenfreundschaft“ als auch als „schwärmerische Liebe“ bezeichnet, von der Eberhard Demm unumwunden als einer „innigen lesbischen Beziehung“ spricht. Die Briefe, aus denen Bertschinger-Joos aus der gesamten Lebenszeit dieser beiden Frauen zitiert, die also zwischen Frieda Schloffers „Herzens-Bethel“ (Else von Richthofen) und Else von Richthofen hin-und-her gingen, lassen beide Interpretationen zu, wenn man den Ton damaliger Poesie-Album-Lyrik zu interpretieren weiß: „Süsser süsser Liebling, wo bist Du, dass ich Dich umfangen kann und zudecken mit meiner Liebe, dieser Liebe, die fast das Beste und Unwandelbarste ist, das ich in meiner Seele habe.“ (Februar 1900) Oder: „Nun, ein Weib bin ich ja allerdings noch, und das richtige Object fehlt mir für mein Bedürfnis nach activer Zärtlichkeit – wenn Du es sein willst […] Du wirst mir gut thun.“ (Mai 1901) Wir wissen es aus vielen anderen Quellen: Else von Richthofen muss eine überaus attraktive und erotisch anziehende Frau gewesen sein, die viele Männer und Frauen anschwärmten und begehrten, bis in ihr hohes Alter hinein.

Durch ihren „Onkel“, den Freiburger Philosophen Alois Riehl, lernen Frieda Schloffer und ihre Freundin Else von Richthofen auch das Ehepaar Max und Marianne Weber kennen und auch daraus entwickeln sich lebenslange und komplexe Verbindungsgespinste, die das Buch von Bertschinger-Joos liebevoll rekonstruiert. Es soll hier nicht diese ganze Geschichte erzählt, sondern eher zur eigenen Lektüre ermutigt werden. Im Jahr 1902 jedenfalls begegnet Frieda Schloffer jenem Mann, der nicht nur ihren Lebensweg radikal beeinflussen sollte: Sie verliebte sich in den jungen Arzt und angehenden Psychoanalytiker Otto Gross, den sie ein Jahr später heiratete, im klaren Wissen um seine Absonderlichkeiten und seine Abhängigkeit von Morphium. Damit begann die Odyssee ihres Lebens, die von Graz über München nach Ascona führte, in die Arme von Erich Mühsam, Emil Lask und schließlich von Ernst Frick, einem Schweizer Anarchisten und Vater ihrer Töchter Eva Verena, Cornelia und Ruth. Als ihr Schwiegervater, der angesehene Grazer Kriminologe Hans Gross, 1913 in Berlin seinen kultur- und sexualrevolutionären Sohn internieren ließ und in zwei Prozessen gegen Frieda vorging – wobei es vor allem um das Sorgerecht für den Enkel Peter Gross, den Sohn von Otto Gross, ging –, wurde Max Weber ihr engagierter Rechtsberater, ohne dessen Wirken die Prozesse vermutlich noch mehr zu ihren Ungunsten ausgegangen wären. Gerade die überaus detaillierten Passagen über die langwierigen Gerichtsprozesse, in denen Max Weber sich als juristischer Berater von Frieda Gross betätigte, ergänzen das schon bislang vorhandene Wissen über diese Abschnitte der Biographie Max Webers.

Auch die lebenslange Beziehung zwischen Frieda Gross und Else von Richthofen, die im Jahr 1902 den vermögenden Wirtschaftswissenschaftler Edgar Jaffé geheiratet hatte, nimmt durch Otto Gross eine geradezu romanhafte Wendung. Beide Frauen brachten fast gleichzeitig einen Sohn Peter zur Welt, deren Vater Otto Gross war, was die lebenslange Freundschaft beider Frauen noch intensivierte. Die bislang unveröffentlichten Briefe von Frieda Gross an die geliebte Freundin, aus denen Bertschinger-Joos ausführlich zitiert, sind eindrückliche und berührende Zeugnisse dieses Verwirrspiels von Ereignissen, Gefühlen und Gedanken. Esther Bertschinger-Joos gibt mit ihrem biographischen Bericht Frieda Gross, die in der bisherigen Forschung im Schatten bedeutender Männer – vor allem von Otto Gross, Ernst Frick und am Rande auch von Max Weber – stand, eine eigenständige Existenz und Stimme. Das sehr persönlich verfasste Buch erzählt und dokumentiert die Geschichte der Träume, Sehnsüchte und Ängste, der Wut und Trauer dieser Frau, die ihre letzten Tage verarmt und einsam in Bosco Gurin, einem kleinen Tessiner Bergdorf verlebte, wo sie im Jahr 1950 verstarb. Es dokumentiert aber auch zugleich, wie viel Schmerz und Unglück die vielfältigen Irrungen und Wirrungen der Lebenswege der betroffenen Personen über deren Eltern und Kinder – deren Leben ohnehin erheblich von Ammen, Kindermädchen und Hauslehrern bestimmt wurde – aber vor allem auch über sich selbst gebracht haben.

Wer die beiden zuletzt behandelten Biographien – von Eberhard Demm über Else Jaffé und von Esther Bertschinger-Joos über Frieda Gross – gelesen hat, wird noch viel weniger als bisher die voyeuristische Aufgeregtheit um die Biographie Max Webers verstehen können: In diesen Kreisen begegnet uns zu jener Zeit ein intensives, geradezu krampfhaftes Suchen nach neuen Lebensidealen, die sich von denen der Generationen davor radikal unterscheiden sollten und die Max Weber selbst – in einem seiner Briefe aus Ascona – folgendermaßen beschrieb: „die eifersuchtfreie Zukunftgesellschaft der wirklich ‚freien‘ – innerlich befreiten – Liebe.“ Bei der Lektüre dieser Bücher kommt man bald darüber ins Grübeln, wohin dieser Geist des Aufbruchs und des Experimentierens um 1900 und um 1968 herum entwichen ist und wieso es zum so eindeutigen Sieg kleinbürgerlicher Moralvorstellungen in unserer heutigen Mehrheitsgesellschaft kommen konnte. Es mag sein, dass es auch daran liegt, was Esther Bertschinger-Joos über Otto Gross zusammenfassend schreibt: „Das Ideal, das Otto verwirklicht sehen möchte [sexueller Kommunismus ohne Besitzansprüche] scheitert an seinem eigenen Unvermögen, wirklich frei und selbstlos zu lieben.“

Mustert man das durch die beiden zuletzt rezensierten Arbeiten weiter gefüllte biographische Feld im Umkreis von Max Weber, so bleibt anzumerken, dass uns nun „nur“ noch eine Biographie fehlt: die von Mina Tobler, der Verehrerin und Geliebten Max Webers. Bei Demm figuriert sie allein als „Max Webers Ersatz-Else“ und als „Ersatz-Ehefrau“ (wenn Marianne Weber auf Vortragsreise war) und bei Bertschinger-Joos ist nur knapp davon die Rede, dass Max Weber und Mina Tobler „eine intensive Freundschaft“ verband, die Marianne Weber tolerieren „musste“. Demm behauptet, dass es Weber in seiner Beziehung zu der Schweizer Pianistin nicht „primär um Sex“ gegangen sei, „sondern darum, durch sie in seiner Rolle als überragende Persönlichkeit, als genialer Gelehrter und politischer Warner bestärkt zu werden“. Es erscheint als dringend angebracht, dieser zweifellos ebenfalls sehr bemerkenswerten Frau eine eigene, weniger voreingenommene Biographie zu widmen. Vielleicht könnte sich Esther Bertschinger-Joos dieser Herausforderung stellen – angesichts ihrer Tätigkeit als Zürcher Musiklehrerin –, die Biographie einer aus Zürich stammenden Pianistin zu verfassen.

Ausblick

Als ich vor vielen Jahren bei der erfragten Angabe eigener Forschungsschwerpunkte das Stichwort „Max Weber-Forschung“ nannte, musste ich mir zahlreiche spöttische Nachfragen gefallen lassen, sinngemäß: „Was das denn sei?“ Und ob das nun schon ein eigenes Forschungsfeld sei. Wer allein die voranstehenden Ausführungen liest, wird einräumen müssen, dass die Max Weber-Forschung ein weites Feld geworden ist, dessen internationale Einzelergebnisse kaum jemand noch wirklich umfassend zur Kenntnis nehmen kann. Die „Lebendigkeit“ des Klassikers Max Webers, dieses „Meisterdenkers aus Deutschland“, wird niemand mehr bestreiten können. Und dass sich darum herum ein eigenes, hochspezialisiertes Forschungsfeld entwickelt hat, kann ebenfalls nicht mehr geleugnet werden.

Abschließend zu diesem Überblick über Etappen und Gebiete der Max Weber-Forschung sei auch hier jener Gedanke in Erinnerung gerufen, der mir unverändert als hoch erklärungsträchtig zu sein scheint. Schon früher betonte ich, dass die Lebendigkeit des „Klassikers“ Weber eben darin liegt, dass er die Ergebnisse seiner spezifisch soziologischen Sichtweise nicht in einer in sich abgeschlossenen „Theorie“ vorlegte, sondern dass er seine „Versuche der Vermittlung“ in immer neuen Wendungen unternahm. Mit diesem Hinweis will ich andeuten, dass sich Max Weber, dieser vermeintlich so nüchterne, trockene, analytische Paragraphen-Soziologe auch in einen Zusammenhang einordnen lässt, in dem er bislang eher selten gesehen wurde: dem der Essayisten. Max Weber, so behaupte ich, unternahm seine unablässigen Versuche der Vermittlung in der Darstellungsform des Essays, jenem Stilmittel also, mit dessen Hilfe ein Gegenstand, ein Thema, ein historischer Prozess in das Zentrum ganz unterschiedlicher Perspektiven und Aspekte gestellt wird. Dabei von besonderer Wichtigkeit ist der experimentelle, hypothetische Charakter des Essays, dessen erklärtes Ziel die Synthese ist, also genau das, was ich mit „Vermittlung“ bezeichne.

Betrachtet man den Essay als die dem 20. Jahrhundert angemessene Kunstform, so stünde Weber in einer Reihe mit Autoren wie Georg Simmel, Robert Musil, Georg von Lukács und anderen. Ihnen allen wäre gemeinsam der Versuch zu „vermitteln“, Brücken zu schlagen und gerade dadurch neue Wege zu bahnen. Versteht man von diesem Gedanken ausgehend etwa die „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“, ja sogar Teilbereiche des ehemaligen „Hauptwerks“ „Wirtschaft und Gesellschaft“, als große wissenschaftliche Essays beziehungsweise Sammlungen von Essays und nicht als umfassende theoretisch-empirische Monographien, so erübrigte sich mancher sterile Interpretationsstreit über „Einheit“ oder „Zersplitterung“ des Werks.

Gerade die Möglichkeit und Notwendigkeit immer wieder neuer Lesarten und Interpretationen seines Gesamtwerkes sind es auch, die zur Auseinandersetzung mit Werk und Methode Max Webers unablässig anregen und einladen. Jenseits seiner historischen Bedingtheit wird der „Klassiker“ Max Weber in seinem uns hinterlassenen Werk ein hervorragender „Prüfstein“ für die Bestimmung der professionellen Identität aller Menschen bleiben, die sich im Irrgarten der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften weder verlieren noch sich mit falscher Sicherheit zufrieden geben wollen.

Die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Werk Webers wird zugleich wegführen von jeder engen, nur disziplinbezogenen Perspektive und hinführen zur (Wieder-)Entdeckung der historischen Dimension gesellschaftlicher Wirklichkeit. Vor allem seine Großen Erzählungen von der „Universalen Rationalisierung“ aller Lebensbereiche, vom „Universalen Siegeszug von Kapitalismus und Bürokratie“ und vom sich schließenden „Gehäuse der Hörigkeit“ der Menschen liefern gedankliche Vorlagen, an denen sich Menschen auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch lange orientieren und abarbeiten werden.

Erwähnte Literatur

Karl-Ludwig Ay, Knut Borchardt, Hrsg.: Das Faszinosum Max Weber. Die Geschichte seiner Geltung. Konstanz: UVK 2006.

Eduard Baumgarten: Max Weber. Werk und Person. Dokumente, ausgewählt und kommentiert v. E. Baumgarten. Tübingen: J. C. B. Mohr / Paul Siebeck 1964.

Ders.: Über Max Weber. Brief an Nicolaus Sombart. – In: Merkur, 31. Jg., H.3 (März 1977), S. 296‑300.

Martin Green: The Von Richthofen Sisters. The Triumphant and the Tragic Modes of Love. Else and Frieda von Richthofen, Otto Gross, Max Weber, and D. H. Lawrence, in the Years 1870‑1970. New York: Basic Books/London: Weidenfeld & Nicolson 1974. – Dt. Übers.: Else und Frieda, die Richthofen‑Schwestern. Übers. v. Edwin Ortmann. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1980.

Tatsuro Hanyu: Max Webers Verbrechen. Sein Betrug bei der Quellenbehandlung und der Zusammenbruch seiner „intellektuellen Rechtschaffenheit“ in der Protestantischen Ethik. Kioto: Minerva Verlag 2002. [Auch publiziert in diversen deutschen Fassungen]

Dirk Kaesler: Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie. München: C. H. Beck 2014.

Arthur Mitzman: The Iron Cage: An Historical Interpretation of Max Weber. New York: Alfred Knopf 1970. – dass., With a New Introduction by the Author. New Brunswick / Oxford:Transaction Books 1985.

Ders.: Sociology and Estrangement, Three Sociologists of Imperial Germany. New York: Alfred Knopf 1974. ‑ dass., New Brunswick / Oxford:Transaction Books 1985.

Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890‑1920. Tübingen: J. C. B. Mohr / Paul Siebeck 1959. – 2., überarb. u. erw. Aufl. Tübingen: J. C. B. Mohr / Paul Siebeck 1974.

Wolfgang Riedel: Literarische Anthropologie um 1900. Berlin: de Gruyter 1996.

Wolfgang Schwentker: Max Weber in Japan. Eine Untersuchung zur Wirkungsgeschichte 1905-1995. Tübingen: J.C.B. Mohr / Paul Siebeck 1998.

Nicolaus Sombart: Gruppenbild mit zwei Damen. Zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Eros im wilhelminischen Zeitalter.  In: Merkur, 30. Jg., H. 10 (Oktober 1976), S. 972‑990.

Heinz Steinert: Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen. Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Frankfurt am Main / New York: Campus 2010.

Hartmann Tyrell: Max Webers Soziologie – eine Soziologie ohne „Gesellschaft“. – In: Gerhard Wagner, Heinz Zipprian, Hrsg.: Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 390-414.

Ders.: Max Webers „jüdisches Pariavolk“ – Zur Ideengeschichte einer folgenreichen Begriffsbildung. – In: Nicolas Berg, Hrsg.: Kapitalismusdebatten um 1900. Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen. Leipzig: Uni-Verlag 2011, S. 181-217.

Marianne Weber 1926: Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen: J. C. B. Mohr / Paul Siebeck 1926; 2.Aufl. Heidelberg: Lambert Schneider 1950; 3. Aufl., unveränd. Nachdr. d. 1. Aufl. Ergänzt um Register und Verzeichnisse von Max Weber-Schäfer. Tübingen: J. C. B. Mohr / Paul Siebeck 1984.

Max Weber: Gesammelte Politische Schriften. Hrsg. m. e. Vorwort v. Marianne Weber. München: Drei Masken Verlag 1921 (Die „Politischen Briefe“ S. 451‑488.)

Ders.: Jugendbriefe. Mit e. Einführung hrsg. v. Marianne Weber. Tübingen: J.C.B. Mohr / Paul Siebeck 1936.

Ders.: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Vollständige Ausgabe hrsg. von Dirk Kaesler. München: C.H.Beck 2004, 4. Aufl. 2013.

Anmerkung

[1] Siehe literaturkritik.de Ausgabe April 2006, April 2007, August 2008, Dezember 2008, Februar 2010, Januar 2011, August 2011, Juni 2012, Januar 2013.

Titelbild

Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
1008 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3446206752

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Titelbild

Max Weber: Max Weber-Gesamtausgabe. Band I/23: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet. 1919-1920.
Hrsg. v. Knut Borchardt, Edith Hanke und Wolfgang Schluchter.
Mohr Siebeck, Tübingen 2013.
845 Seiten, 334,00 EUR.
ISBN-13: 9783161502927

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Lawrence A. Scaff: Max Weber in Amerika.
Übersetzt aus dem Englischen von Axel Walter.
Duncker & Humblot, Berlin 2013.
375 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783428138913

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Hartmann Tyrell: "Religion" in der Soziologie Max Webers.
Kultur- und sozialwissenschaftliche Studien. Band 10.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2014.
357 Seiten, 74,00 EUR.
ISBN-13: 9783447068888

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Eberhard Demm: Else Jaffé-von Richthofen. Erfülltes Leben zwischen Max und Alfred Weber.
Droste Verlag, Düsseldorf 2014.
248 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783770016327

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Esther Bertschinger-Joos: Frieda Gross und ihre Briefe an Else Jaffé. Ein bewegtes Leben im Umfeld von Anarchismus, Psychoanalyse und Bohème.
Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2014.
336 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783936134438

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Jürgen Kaube: Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2014.
496 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783871345753

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Hans-Peter Müller / Steffen Sigmund (Hg.): Max Weber Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2014.
425 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-13: 9783476024329

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Max Weber Stiftung (Hg.): Max Weber in der Welt. Rezeption und Wirkung.
Bearbeitet von Michael Kaiser und Harald Rosenbach.
Mohr Siebeck, Tübingen 2014.
243 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783161524691

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Max Weber: Max Weber-Gesamtausgabe. Band I/9: Asketischer Protestantismus und Kapitalismus, Schriften und Reden 1904-1911.
Herausgegeben von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube.
Mohr Siebeck, Tübingen 2014.
994 Seiten, 389,00 EUR.
ISBN-13: 9783161531330

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