Freiheit ist das herrlichste Geschenk
Regina Schaunig erhärtet eine alte These über eine mögliche Missbrauchserfahrung der jungen Ingeborg Bachmann
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNur wenigen Bachmann-Forschenden dürfte die missliche Nachlass-Lage der österreichischen Schriftstellerin kein schmerzlicher Stachel im Fleisch sein. Nicht etwa, dass Bachmanns handschriftlicher Nachlass weit verstreut oder gar verschollen wäre. Der zentrale Ort seiner Archivierung ist vielmehr bestens bekannt: Das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Dennoch bleiben die dort gehorteten Texte der Literatin für sie bislang und noch auf ein weiteres Dezennium hin unerreichbar. Denn ihr Nachlass ist auf Veranlassung der Erben bis zum 31. Dezember 2025 respektive bis auf deren Widerruf gesperrt. Letzteres eröffnet allerdings eine Möglichkeit, ihn oder Teile von ihm doch einsehen und für die Forschungsarbeit nutzen zu dürfen. Man wende sich an die besagten Erben, die Geschwister Ingeborg Bachmanns, die sodann nach Gusto verfügen, wer was wann sehen, auswerten und zitieren darf. Meist beugen sich die Wissbegierigen – wie man vermuten darf zähneknirschend – dem Einsichts- und Nutzungs-Diktat.
Wie dieses genau aussieht, kann die Öffentlichkeit nun aus Regina Schaunigs unter dem Titel „… wie auf wunden Füßen“ veröffentlichter Monografie über „Ingeborg Bachmanns frühe Jahre“ entnehmen. „Die Verwendung von Nachlassmaterialien zur Erstellung von biografischen und monografischen Studien von Werken oder Werkteilen Ingeborg Bachmanns bedarf der ausdrücklichen Zustimmung durch die Erben. Allfällige Publikationen, die unter Verletzung dieses Abkommens entstehen, werden über Verlangen der Erben oder des Herrn Dr. Robert Pichl eingezogen werden“, zitiert Schaunig aus einer von allen NutzerInnen vor Einsichtnahmen zu unterzeichnenden Erklärung.
Da forschte Schaunig doch lieber frei und ungebunden und weigerte sich, die Unterschrift unter das Dokument zu setzen. Denn „Freiheit“, zitiert sie Bachmann, „ist das herrlichste Geschenk“. Sich diese Freiheit der Forschung bewahrt zu haben, scheint ein weiser Entschluss gewesen zu sein. Hat Schaunig doch einen anderen Weg gefunden, bislang ungenutzte Quellen zu erschließen. So machte sie Klassenkameradinnen Ingeborg Bachmanns ausfindig und befragte sie zu der gemeinsamen Schulzeit mit der später berühmten Literatin. Auch Magdalena Pfabigan (geb. Lipusch), die während Bachmanns Jugend die Wirtschaft im Hause Bachmann führte, kommt zu Wort. Und natürlich greift Schaunig auf die bereits veröffentlichten Nachlass-Gedichte der jungen Bachmann zurück, um ein womöglich dunkles Geheimnis aus den „frühen Jahren“ der Literatin in ein etwas helleres Licht zu rücken.
So kann das vorliegende Buch zwar „weder mit neue Schriftproben noch alte Familienfotos“ aufwarten und kaum mit neuen Thesen. Wohl aber plausibilisiert Schaunig eine recht alte Vermutung wie niemand zuvor. Die nämlich von einer Missbrauchserfahrung Bachmanns, für die Alice Schwarzer von der germanistischen Forschungsgemeinde vor Jahrzehnten noch sehr gescholten und verlacht wurde. Ein kopfschüttelndes Gelächter, das allerdings nicht so ganz grundlos erscholl, stützte Schwarzer ihre Missbrauchs-These doch auf Bachmanns Roman Malina, der nun wahrhaftig wenig dazu taugt, sie zu validieren.
Ganz anders hingegen die im Kontext der Aussagen von Zeitzeuginnen betrachteten frühen Nachlass-Texte, wie Schaunig nun umso überzeugender zeigt, ohne natürlich beweisen zu können, dass Bachmann tatsächlich im Kindes- und Jugendalter eine „sexuelle Traumatisierung“ erlitt. Ähnlich wie kriminelle Banden ahnten es familiäre „Tuschelgemeinschaften“ Schaunig zufolge „besonders streng“, „wenn jemand ‚singt‘“. Im Falle letzterer also etwa, „wenn die misshandelte Frau ins Frauenhaus flüchtet anstatt zu versichern, dass sie jede Woche die Treppe hinunter falle, wenn Kinder ihre brutalen Peiniger aus dem nahen Umfeld verraten und der angesehene Herr X mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert wird“. „Außerhalb ihres Schreibens“ habe auch Bachmann ein derartiges „Sprechverbot“ befolgt. Doch „hinter der Maske des Schweigens, wo die Literatur beginnt, bricht die verbotene Rede mit umso größerer Macht hervor“, wie Schaunig anhand der frühen Werke und der „weitverästelten Entstehungsstränge der Todesarten und die verzweifelten lyrischen Versuche der späten Autorin“ durchaus nicht ganz ohne Erfolg nachzuweisen versucht. In ihnen „ergießt sich“ der Literaturwissenschaftlerin zufolge „geradezu eine Flut an biographischen Verweise und familiärer Indiskretionen“.
Mag Schaunigs Ansatz auch instruktiv sein, so tragen doch nicht alle ihrer Interpretationen und Thesen. Wenig überzeugend ist etwa, wenn sie aus dem Gedicht „Der Gastfreund“ schließt, dass Bachmann „wenn auch nur für Stunden, offensichtlich menschliche Wärme und Nähe erfahren haben muss“. Letzteres darf man wohl zu Recht vermuten. Nur aus dem Gedicht ableiten lässt es sich schwerlich. Und wenn Schaunig anheim stellt, Hans Weigel habe den unter seinem Namen erschienenen Roman „Unvollendete Symphonie“ nicht selbst geschrieben, sondern als „mögliche Autorin“ Ingeborg Bachmann ins Auge gefasst, kann man das nicht anders denn als steile These bezeichnen.
Neben einem auf sexuelle Traumatisierung der österreichischen Schriftstellerin hindeutenden Subtext von Nachlass-Werken fokussiert Schaunig auf die von der Forschung bislang sehr vernachlässigte „Bedeutung des Kärntner Autors und Kulturpolitikers Josef Friedrich Perkonig für das Werk und das biographische Umfeld Ingeborg Bachmanns“. Ihre diesbezüglichen Erkenntnisse sind zwar durchaus nicht uninteressant, spannender aber sind doch ihre Interpretationen von Bachmanns Frühwerk in Hinblick auf eine möglicherweise traumatisierende sexuelle Erfahrung. Ob und wie die Bachmannforschung auf Schaunigs neue Plausibilisierung einer alten Thesen reagieren wird, bleibt abzuwarten.
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