Klassizismus contra Romantik

Lea Singer geht der Frage nach, warum sich Goethe und Caspar David Friedrich nicht mochten

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die promivierte Kunst-, Musik- und Literaturhistorikerin Lea Singer hat sich in ihren letzten Romanen bereits berühmten Persönlichkeiten der Kulturgeschichte gewidmet, so Constanze Mozart, Paul Wittgenstein oder Giuseppe Verdi. In ihrem neuen Roman „Anatomie der Wolken“ nähert sie sich gleich zwei Geistesgrößen, dem bereits in die Jahre gekommenen Johann Wolfgang von Goethe und dem Romantiker Caspar David Friedrich. Wir schreiben das Jahr 1809, der Dichterfürst aus Weimar hat gerade seinen Roman „Wahlverwandtschaften“ veröffentlicht, der von vielen Zeitgenossen jedoch als unmoralisch abgelehnt wird.

Die junge Künstlerin Caroline Bardua, die Goethe einige Jahre zuvor in Karlsbad kennengelernt hatte, will ein Treffen mit dem Dresdner Landschaftsmaler Friedrich vermitteln. Dieser hatte zu Goethes Gedicht „Schäfers Klagelied“ ein Bild gemalt – ein Gemälde mit einem Naturschauspiel, das zu zwei Dritteln aus Wolken bestand. Die Erkundung der Wolken ist das, was den Geheimen Rat und den Hungerleider verbindet. „Keine Ahnung von Mythologie und klassischen Regeln, doch Wolken malen kann dieser Friedrich“ – mit dieser Feststellung bricht Goethe im Mai 1810 von Jena in Richtung Karlsbad auf, wo er (einschließlich Teplitz) bis Mitte September bleiben wird.

Auf dem Rückweg macht der Genesene Station in Dresden, wo er bei Friedrich anklopft. Interessiert begutachtet er dessen „Wolkenbilder“ und es kommt zu einem Gedankenaustausch, der noch einmal die gegensätzlichen Auffassungen zum Vorschein bringt. Goethe ist Naturforscher, der sich nach seiner „Farbenlehre“ der Wolkenforschung widmen will, der als Klassiker nach Halt und Gesetz in einem Kunstwerk sucht – der Romantiker Friedrich hingegen sieht in den Wolken etwas ganz anderes.

Als Friedrich später nach einer dreiwöchigen Harzwanderung im Haus am Frauenplan vorbeischaut, ist Goethe gerade auf dem Gut Drackendorf nahe Jena, wohin sich Friedrich dann auch aufmacht. Aber in dieser ländlichen Idylle kommt es beinahe zum Eklat. Goethe stört sich an dem Künstlerbart Friedrichs. Inzwischen ist eine regelrechte Wolkenmanie ausgebrochen, vom Wolkenmaler über den Wolkendichter bis zum Wolkenbeobachter. In seinen meteorologischen Beobachtungen stützt sich Goethe längst auf die Wolkenklassifikation des Londoner Apothekers Luke Howard (1772-1864), doch zur Illustration seiner poetischen „Wolkenwelt“ möchte er Friedrich gewinnen, was dieser wütend ablehnt: „Will die Wolken zu Sklaven machen. Und mich zu seinem Spießgesellen!“

Einfühlsam schildert Lea Singer, was geschieht, wenn zwei so unterschiedliche Genies wie Goethe und Friedrich aufeinandertreffen. In sechzehn Kapiteln kommen die beiden Protagonisten abwechselnd zu Wort. Die Autorin lässt sie dabei selber sprechen, in einer Art Monolog. Das macht die 250 Seiten zwar kurzweilig, aber der persönliche Neid und Frust der beiden Künstler ist bei der Lektüre zu präsent. Auch gibt es keine unterschiedliche Darstellungen, beide argumentieren und schimpfen im selben Gestus. Integriert in diese Auseinandersetzung sind Skizzierungen des Alltags der beiden, die einen Einblick in ihr Umfeld gestatten. Insgesamt eine wohl zu dramatische Schilderung einer Künstlerbegegnung, die in der Überlieferung nach einer ersten Begeisterung als kurz und oberflächlich angesehen wird.

Titelbild

Lea Singer: Anatomie der Wolken.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2015.
255 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783455405194

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