Zeugnis, Empathie, Trauer

Kritische Notizen zu Literatur über den türkischen Genozid an den Armeniern

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Im Herbst 1916 schrieb der Dichter und deutsche Sanitätssoldat Armin T. Wegner auf der Reise von Bagdad nach Istanbul ein Gedicht, das von Bildern und Metaphern der Gewalt und des Grauens geradezu überquillt, und veröffentlichte dieses Sonett später unter dem ironischen Titel Heroische Landschaft. Seitdem wird es von den Germanisten als Beispiel für expressionistische „Naturlyrik“, sprachautonome „absolute Poesie“ angeführt und abgehakt. Keiner hat erkannt, dass Wegner hier, wie seine Tagebücher und Briefe belegen, seine Erfahrung als Augenzeuge des Aghet, des osmanischen Völkermords an den Armeniern, seine Trauer und Erschütterung, poetisch zu gestalten versucht hat. Man darf fragen, ob dieser Versuch gelungen ist. Größere Versuche, dem Thema literarisch gerecht zu werden, sind gescheitert. Und über allem hängt die Frage, ob überhaupt nach Deir ez-Zor – das ist der Name der Todeslager von 1916 in der nordsyrischen Wüste – noch Gedichte geschrieben werden können. Kurz nach Auschwitz schrieb Celan zwar die mit Recht berühmte Todesfuge, aber ebenso mit Recht kommen Zweifel an dieser äußerst gewagten Poetisierung nicht zur Ruhe.

Wegner hat gleich nach dem Krieg in Reden und Appellen die Öffentlichkeit für diesen Völkermord zu sensibilisieren versucht; zwei davon sind nachlesbar in dem soeben erschienenen neuen Band der Wegner-Werkausgabe mit dem Titel Rufe in die Welt. Er hat später einige Erzählungen verfasst, in die er seine Kriegs-, Orient- und Türkeierfahrungen einbrachte, darunter die anrührende Kurzgeschichte Der Knabe Atam über eine exemplarische Episode aus der Eröffnungszeit der Massaker. Und er hat sich Jahre lang um einen großen Roman über diesen Genozid bemüht; Arbeitstitel: Die Austreibung oder Schatten vor der Sonne. Mitten in der Arbeit an diesem geplanten Hauptwerk verhafteten, folterten und verbrachten ihn die Nazis ins KZ, bevor er ins italienische Exil entkam. Der Roman blieb ungeschrieben, die wenigen Fragmente lassen nicht erkennen, ob und wie das Ganze hätte gelingen können. Bereits 1933 aber war ihm Franz Werfel mit seinem infolge der Zeitumstände weltweit erfolgreichen Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh zuvorgekommen. Dieser stellt auf der Grundlage beachtlicher Quellenstudien erzählerisch konventionell ein dramatisches Beispiel von erfolgreichem armenischen Widerstand inmitten der Vernichtung dar. Das gut gemeinte Buch leidet jedoch, außer an Werfels Neigung zu Edelkitsch, unter einer dem Stoff aufgepfropften Zivilisationskritik. Diese erfasst zwar hellsichtig das Moderne an der Organisation des Völkermords durch die Jungtürken, aber als Alternative dazu bietet sie das regressive Ideal einer traditionalen, hierarchischen, patriarchalischen Ordnung und Gemeinschaft an.

In den gleichen Jahren wie Wegner, aber erheblich weiter fortgeschritten, scheiterte mit seinem Hauptwerk auch ein herausragender armenischer Autor. Dabei war gerade ihm das große epische Werk über die Aghet-Katastrophe zuzutrauen, hatte er davon doch bereits mehrere umfangreiche Bände geschrieben und veröffentlicht. Hagop Oshagan wurde 1883 in einem Dorf bei Iznik (Nicäa) geboren, entkam der Vernichtung und lebte in verschiedenen Exilländern bis zu seinem Tod, der ihn 1948 in Aleppo ereilte, bezeichnender Weise auf einer Recherche-Reise nach Deir ez-Zor. Sein opus magnum heißt Mnatsortats, das heißt „Überreste“, und sollte so etwas wie eine armenische Recherche du temps perdu werden, ein episches Riesenwerk über die soziale Herkunftswelt der westlichen osmanischen Armenier bis in die Katastrophe hinein, geschrieben mit Empathie und testimonialem Realismus. (Erst 2014 sind Stücke aus dem ersten Teil in englischer Übersetzung unter dem Titel Remnants erschienen.) Die in den dreißiger Jahren publizierten Teile reichen jedoch nur an den Rand der Genozid-Ereignisse. Diese sollte erst der abschließende dritte Teil darstellen; Arbeitstitel: Tjoghk, also „Hölle“. Oshagan entwarf, aber schrieb diesen Teil nicht mehr, weil er vor Stoff und Thema psychisch und physisch kapitulierte. Aber bereits in den veröffentlichten Teilen, so etwa in einem 100 Seiten langen Gespräch zwischen einem türkischen Pascha und seinem armenischen Gefangenen, zeichnet sich ein Problembewusstsein ab, das weit hinausragt über das von Wegner, Werfel und vielen anderen, die sich an das Thema Aghet gewagt haben. Oshagan selbst hat es so ausgedrückt: Dieses Thema zwinge den literarischen Autor, trotz der Geschichte gegen sie zu schreiben, denn Geschichte könne nichts beweisen, sei sie doch – in diesem Fall – ein Theater der Leugnungen.

Angesichts des Armenier-Völkermords stoßen, wie Marc Nichanian in seinen beiden beachtlichen Büchern Writers of Disaster und The historiographic perversion dargelegt hat, sowohl Historiografie als auch Literatur an ihre Grenzen, jene, wenn sie den Genozid, anstatt ihn Empathie weckend zu bezeugen, als Fakt zu beweisen sucht, diese, wenn sie, um das nicht Darstellbare darzustellen, gleichfalls die ihr eigenen Möglichkeiten von Bezeugen, Trauer und Empathie verfehlt. Neben dieser Aporie gibt es beim Thema Aghet noch eine besondere Paradoxie: Zwei der eindrucksvollsten Werke zum Thema sind bereits vor diesem Völkermord entstanden, nämlich anlässlich eines seiner Vorspiele, des Massakers von 1909 in Adana und Kilikien. Diese Werke sollten sich als ungeahnt prophetisch erweisen. Der Autor des einen, Siamanto (Atom Yarjanian), wurde an dem berüchtigten 24. April 1915 – heute der offizielle armenische Gedenktag – mit vielen anderen armenischen Prominenten in Istanbul verhaftet und wenige Monate später zu Tode gefoltert. Die Autorin des anderen, die ebenso bekannte Istanbuler Armenierin Zabel Esayan (auch: Yesayan, Jesayan), verzichtete, wie andere Autoren als Überlebende des Genozids, bewusst auf dessen literarische Darstellung. Während der stalinistischen Säuberungen wurde sie 1937 verhaftet, nach Sibirien deportiert und dort 1943 umgebracht.

Esayan engagierte sich nach dem Massaker von Adana in einer Hilfsaktion für Waisenkinder. Ihre schockierenden Erfahrungen veröffentlichte sie 1911 unter dem Titel Averaknerun mej, „Unter den Ruinen“, in einem Bericht, der Zeugenschaft mit Empathie-Bekundung so authentisch verbindet, dass Nichanian gerade dieses nicht-literarische Buch als eines der größten Werke der westarmenischen Literatur einschätzt. – Siamanto veröffentlichte gleichfalls 1911, angeregt durch Augenzeugen-Briefe des Arztes Diran Balakian aus Adana 1909, des Großvaters des amerikanischen Autors Peter Balakian, einen Gedichtband Garmir loorer paregames, „Blutige Nachrichten von meinem Freund“. Darin findet sich ein Gedicht „Der Tanz“, das noch in der englischen Übersetzung von Peter Balakian und der auf ihr beruhenden deutschen jeden fühlenden Menschen erschüttern muss. In freien Versen und mit harter poetischer Verfremdung wird darin wiedergegeben, was eine deutsche Krankenpflegerin als Augenzeugin eines unsäglichen Massakers erzählt: An einem Sonntag peitscht eine Menschenmenge, widerliche Lieder singend, auf zwanzig junge armenische Frauen ein, zwingt sie unter obszönen Verhöhnungen zum Tanzen, übergießt sie mit Petroleum und verbrennt sie lebendig. Das Gedicht gewinnt noch mehr an Gewicht, wenn man es mit der trivialen Hollywood-Szene vergleicht, die Atom Egoyan in seinem Film Ararat daraus gemacht hat.

Ein Beispiel des Gelingens aber, ein herausragendes Meisterwerk der Aghet-Literatur, zugleich eines der regionalistischen Weltliteratur, hat der armenische Autor Gurgen Mahari 1966 in Jerewan über seine Heimatstadt Van publiziert:  Ayrvogh Aygestanner, „Brennende Obstgärten“ (englische Übersetzung: Burning Orchards, 2007). Es ist die epische „Chronik einer verschwundenen Stadt“, eine ebenso liebevolle wie satirisch-kritische, sehr bewusst – im Sinne Michail Bachtins – vielstimmige, auf etwa zwei Dutzend Figuren konzentrierte Beschwörung der letzten Jahre vor der Katastrophe in der Stadt Van, damals einer der schönsten und der am meisten armenischen aller osmanischen Städte. In Van verliefen infolge der Nähe zur russischen Grenze die Ereignisse anders ab als ringsum: Staatliche Repressalien, hin und her schwankende osmanisch-russische Kampffronten und konspirative Gegenaktionen selbsternannter armenischer „Revolutionäre“ steigerten sich hier gegenseitig: Nach gnadenlosem Einsatz der vom Jungtürken-Regime neu gebildeten Spezialeinheiten mit Mord, Folter, Raub, Vergewaltigung, Entführung im Winter 1914/15 und aufgrund eines immer brutaleren „Metzgerregiments“ des Gouverneurs Djevdet Bey kam es im Frühjahr 1915 zu bewaffneter armenischer Verteidigung der Stadt gegen das osmanische Militär. Sie hielt vom 20. April bis zum 16. Mai, gerade so lange, bis russische Truppen die Stadt von der Belagerung befreiten und ihre armenische Bürgerschaft, darunter den elfjährigen Gurgen, evakuierten und ins Exil führten.

Dieses Geschehen, auf das der Titel anspielt, füllt jedoch, hart und lakonisch erzählt, nur den Schlussteil des Romans. Das vorher Erzählte ist dagegen eine ebenso faszinierende wie zerbrechliche kleinstädtische Idylle im Schatten bereits Jahrzehnte langer Pogromerfahrung und -bedrohung und verantwortungslos provokativer Gewalttaten armenischer Radikaler. Allerdings verführt das regionalistische Mikrokosmos-Prinzip den Autor dazu, die Welt draußen, mit der das Geschehen in und um Van doch tragisch verflochten ist, weitgehend auszublenden. Damit verbindet sich eine nostalgische Kulturkritik und ein patriarchalischer Traditionalismus. Ist es nur die Sicht seiner fast ausschließlich männlichen provinziellen Hauptfiguren, wenn zum Beispiel Istanbul nichts anderes als ein dekadentes westliches Sündenbabel ist und sich Frauen allein auf die Rollen von Dienerinnen, Großen Müttern oder Verführerinnen beschränken?

Dass Mahari aber – das ist das Hauptthema des ganzen Romans – mit bitterem Humor die borniert terroristische Mentalität armenischer Kämpfer bloßstellt, ohne dabei die unvergleichlich größere Bedrohung durch einen immer hemmungsloseren Staatsterrorismus zu beschönigen, hat ihm unter Armeniern böse Kritik  eingetragen. Das Buch wurde in Jerevan öffentlich verbrannt. Dabei ist es aufgrund seiner literarischen Dialogozität, die jede monologische Sicht auf die Geschichte, sei sie türkisch, sei sie armenisch, verweigert, eines der wenigen Meisterwerke der Aghet-Literatur und gilt zugleich als einer der bedeutendsten armenischen Romane des 20. Jahrhunderts. Es sollte auch ins Deutsche übersetzt werden. 

In deutscher Sprache hat, bereits vor Wegner, als erster wohl Eugen Hoeflich Literarisches über das Thema publiziert. 1920 erschien in seinem Erzählband Feuer im Osten eine sehr kurze Geschichte Die schrecklichen Nächte. In ihr bringt der Erzähler, ein alter osmanischer Soldat, nach dem Krieg drei Ereignisse zusammen: eine berüchtigte, angeblich von den „Fremden“ – gemeint sind deutsche Militärs – angeordnete barbarische Vernichtung der Istanbuler Straßenhunde, die tödliche Vertreibung der Armenier in die „Salzwüste“, die angeblich wieder „der fremde General“, zweifellos ein Deutscher, befahl, und die Folterung und Hinrichtung von Juden 1840 in Damaskus, die tatsächlich von Fremden, das heißt von westlichen katholischen Antisemiten, wegen „Ritualmord“ bei den osmanischen Behörden denunziert worden waren. Das ist einfallsreich, aber künstlich zusammenkonstruiert, gut gemeint, aber allzu leichtgewichtig. Später, vor den Nazis aus Wien nach Israel geflohen, hat der Autor, nun unter dem Namen Mosche Ya’akov Ben-Gavriêl, einen beachtlichen Roman über Prager Juden kurz vor der Shoah verfasst: Das Haus in der Karpfengasse.

Erwähnenswert ist auch Prosa der Orientliebhaberin Annemarie Schwarzenbach, so ihre Kurzgeschichte Die Mission, die erst posthum veröffentlicht worden ist. Ihr liegen persönliche Recherchen während einer Persienreise 1935 in der armenischen Stadt Urmia zugrunde. Schwarzenbach erzählt mit dokumentarischem Gestus, aber zugleich in freier Verdichtung der historischen Ereignisse vom dortigen lokalen Ablauf eines weiteren türkisch-kurdischen Genozids während der Kriegsjahre, der gegenüber dem armenischen bisher immer noch im Schatten liegt: an den syrischen Christen, den „Assyro-Chaldäern“. Rund eine Viertelmillion Menschen fielen ihm zum Opfer.

Erst sehr lange nach Werfel und Wegner haben sich Autoren deutscher Sprache wieder an das Aghet-Thema gewagt. Am meisten wagt Edgar Hilsenrath mit seinem Roman Das Märchen vom letzten Gedanken (1989). Darin verfremdet und überdehnt er die Stimme eines orientalischen Märchenerzählers zu einem sehr weiten, für Fantastisch-Surreales ebenso wie für sozialgeschichtlich Reales offenen Erzählrahmen. Dieser erlaubt es, den Völkermord der Jungtürken, wenn auch sehr zuspitzend und gewaltsam, mit dem der Nazis zu verknüpfen, die Mitverantwortung der Deutschen schon an jenem zu betonen, die historiografischen Diskurse zu ironisieren. Konkrete Genozid-Geschichte jedoch, das Leiden und den millionenfachen Tod realer Menschen, reduziert Hilsenrath auf einen Alptraum, eine sadistisch-pornografische Groteske um Folterer und Gefolterte, mag gerade diese auch auf gewissenhafter Recherche beruhen. In diesem Buch, das er selbst als sein „poetischstes“ angesehen hat, verfällt er, wie Werfel streckenweise in sentimentalen, in blutigen Kitsch. Impulse der Empathie, der Trauer und des Gedenkens, anstatt sie zu wecken, untergräbt das gerade.

Unter genau diesem zentralen Gesichtspunkt ebenso unbefriedigend, wenn auch aufgrund einer völlig anderen Schreibstrategie, ist der kurze Roman Gefährliche Verwandschaft (1998) von Zafer Şenocak ausgefallen. Nach dessen vertracktem Erzählkonstrukt bemüht sich darin ein Autor aus teils türkischer, teils deutsch-jüdischer Familie vergeblich darum, einen Roman über seinen osmanischen Großvater als Augenzeugen und Mittäter in zwei Phasen der Armenier-Vernichtung zu schreiben. Seine leeren Reflexionen über Erzählen und Erfinden nähern sich auch nicht entfernt den bohrenden Überlegungen von Nichanian darüber, wie „writers of disaster“ oft „disasters of writing“ erleben. Der familiengeschichtliche Plot zwingt die Themen Aghet und Shoah billig zusammen. Heraus kommt dabei nichts als ein leb- und liebloser, gedanklich wie ästhetisch unstimmiger Text voller freiwillig oder unfreiwillig selbstdestruktiver Widersprüche. In welchem Maße der Autor das Thema Aghet nicht nur schriftstellerisch, sondern auch intellektuell verfehlt hat, mag die Tatsache beleuchten, dass er sich noch 2004 öffentlich, wenn auch mit Einschränkung, auf die Seite türkischer Apologetik stellte.

Jochen Mangelsens Roman Ophelias lange Reise nach Berlin (2001) weckt mit seinem Untertitel Eine Familiensaga entsprechende Erwartungen, die er jedoch nicht zu erfüllen vermag. In der Rahmengeschichte tauschen im Berlin der Gegenwart Ophelia und Alfred, zwei junge Armenier, die Geschichten ihrer Vorfahren aus: Überlebender des Aghet aus Amasya und Urmia. Der Autor hat versucht, aus dem „dürren Gerüst eines Stammbaums“ von 150 Jahren eine lebendige Erzählung zu machen, die an mehreren Orten spielt und mehrere Geschichtsepochen durchläuft. Das ist stofflich durchaus interessant, wie die Spanne zwischen west- und ostarmenischer Herkunft so auch die teilweise deutsche Herkunft der einen Familie, und es ist auch sensibel, kundig und urteilssicher ausgearbeitet, aber als literarische Erzählung lebt es nicht, sondern verbleibt im Schatten einer Familienchronik.  – Nur unter „gut gemeint“ lassen sich zwei neue deutschsprachige Versuche ablegen, weil sie das Aghet-Thema allzu oberflächlich und künstlich ansprechen: ein durch Geschwätzigkeit umfangreicher autobiografischer Migrationsroman Durch die Finsternis (2012) des armenischen Deutschen Penyamin Ehmalian, und das gleichfalls autobiografische Textchen des türkischen Deutschen Erdal Sahin: Transformation zum Täter von 1915 (2013).

Von besonderem Interesse sind natürlich vor allem literarische Stimmen aus dem Täter-Nachfolgestaat, also der Türkei. Sie tragen, zusammen mit einzelnen Publizisten und Wissenschaftlern, zu einer allmählichen Öffnung des Aghet-Diskurses bei, den dieser Staat, seine akademischen Lakaien und leider wohl auch die meisten Türken bisher durch betonköpfige und -herzige Leugnungsmentalität zu dominieren versucht haben. Ein spezifisch türkisches Thema waren dabei eine Zeitlang die „Großmütter“: Immer wieder haben in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten Frauen gegenüber ihren türkischen Kindern und Enkeln das gesellschaftliche Tabu gebrochen und sich als armenische, zum Islam zwangskonvertierte Genozid-Überlebende bekannt. Dieses Motiv verbindet die Bücher von Serdar Can: Nenemin Masalları (1991, „Die Märchen meiner Großmutter“), Kirkor Ceyhan: Kapıyı Kimler Çalıyor (1999, dt. Übers.: Ein Klopfen an der Tür, 2015), Karin Karakaşlı: Can Kırıkları (2002, „Seelenscherben“), Fethiye Çetin: Anneannem (2004, dt. Übers.: Meine Großmutter, 2011, 2. Aufl. 2013), Ahmet Abakay: Hoşana’nın Son Sözü (2013, „Hoşanas letztes Wort“). Literarisch und menschlich ragen in dieser Reihe Ceyhans und Çetins Buch heraus. Ceyhan beschwört in einer einfachen, handfesten, humorvollen Sprache die Herkunftsregion der Familie, die Provinz Sıvas mit ihrem multilingualen und -kulturellen Leben vor der Katastrophe. Er erzählt, wie die Familie darin arg durchgeschüttelt, aber am Ende gerettet wird – nicht ohne viele anrührende Beispiele von Mitgefühl, Solidarität, Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit mitten in Brutalität, Chaos und Grauen. Çetin gelingt es mit ihrem nicht minder bewegenden Buch, zugleich mit der Geschichte ihrer armenischen Großmutter ihr eigenes Erwachen aus türkisch-nationalistischem Ideologie-Schlaf darzustellen – ein warmherziges und weises Buch, das offene Leser erschüttern muss und nur ideologisch verbohrte verbittern kann. 

Auch türkische Autoren ohne diese besondere familiäre Herkunftsbeziehung haben beachtliche Versuche vorgelegt, das Tabu über dem Thema Armenier zu brechen, beginnend mit einer Kurzgeschichte Can Kuşu (dt. Übers.: Der Seelenvogel ) von Ayla Kutlu, die eine von der Aghet-Katastrophe traumatisierte alte Frau poetisch sensibel porträtiert. Besonders herauszuheben sind zwei Romane von Autoren, die in der Türkei sehr bekannt sind: In Elif Şafaks Frauenroman The Bastard von Istanbul (2006, dt. Übers.: Der Bastard von Istanbul, 2007) geht es, neben anderen schwarzen Familiengeheimnissen, erneut um das Geheimnis einer armenischen Großmutter. Das Tabu über dem Völkermord wird mit den Mitteln erzählerischer Dialogizität entkrampft. Dass Shafak das gut gelungen ist, beweist ex negativo das zeitweilige Bemühen einer Zensurjustiz, die Autorin für das Vorkommen des Wortes „genocide“ in diesen Romandialogen zu verurteilen.

Ebenso gut lesbar, aber problematischer ist der Versuch von Ahmet Ümit, dem wohl profiliertesten türkischen Krimi-Autor, auch das Aghet-Thema in einen Krimi zu verpacken. Sein Roman Patasana (2000, dt. Übers. 2009) handelt von einem Archäologen-Team in Ostanatolien, das bei hethitischen Ausgrabungen durch eine rätselhafte Mordserie gestört wird. Diese klärt sich schließlich als verzweifelter Versuch eines Armeniers auf, die heutige Mitwelt über die Verbrechen von einst aufzuklären. Problematischer als dieser Plot auf der Gegenwartsebene jedoch ist die Botschaft, die Ümit in einer hethitischen Parallelgeschichte versteckt hat: Diese ist auf Tafeln zu lesen, die das Team ausgegraben hat, und soll offenbar die armenische Geschichte spiegeln. Wer dieses geschickte und intelligente Arrangement genauer prüft als die Rezensenten des Romans, entdeckt in Hinblick auf den Armenier-Genozid eine verdächtig große Ähnlichkeit dieser dem Roman impliziten Geschichtsdeutung mit der nationalistisch türkischen. Ahmet Ümit hat hier einen Krimi mit bewundernswertem Tiefgang, aber mit bedauerlicher Schlagseite geschrieben.

Den bisher einzigen türkischen Roman aber, der das Thema Armenier-Völkermord rücksichtslos direkt angeht, hat der in der Türkei politisch verfolgte und seit langer Zeit im deutschen Exil lebende Kölner Autor Doğan Akhanlı geschrieben: Kıyamet Günü Yargıçları (1998, dt. Übers.: Die Richter des Jüngsten Gerichts, 2007, 2. Aufl. 2010). Auch mit seinem deutschen Theaterstück Annes Schweigen (2012) ist er dem Thema treu geblieben.  

In der weiteren modernen Weltliteratur finden sich literarische Aghet-Darstellungen natürlich vor allem bei Autoren der armenischen Diaspora: so bei dem amerikanischen Lyriker Peter Balakian (Sad Days of Light, Black Dog of Fate, dt. Übers.: Die Hunde vom Ararat, 2009, The Burning Tigris), Margaret Ajemian Ahnert (The Knock at the Door, 2007), Chris Bohjalian (The Sandcastle Girls, 2012) oder bei dem rumänischen Politiker und Schriftsteller Varujan Vosganian (Cartea şoaptelor, dt.  Übers.: Buch des Flüsterns, 2013). Zu den frühesten internationalen literarischen Reflexen aber, gleichzeitig mit denen bei Armin T. Wegner, gehört der Roman Choucas (1927, engl. Übers. 2014) der polnischen Autorin Zofia Nałkowska, die später auch über die Shoah geschrieben hat (Medaliony, 1946): In einem Schweizer Sanatorium treffen sich, ähnlich wie im Zauberberg, Menschen aus aller Welt mit ihren jeweiligen nationalen Vorurteilen und Erfahrungen, darunter auch etliche Überlebende des Völkermords an den Armeniern. 

Dieser ist als Reflexionsebene bewusst auch in eines der größten und schwierigsten Werke der modernen Weltliteratur eingebaut: Finnegan’s Wake (1939) von James Joyce. Darin wird die Weltgeschichte als zyklischer Alptraum beschworen, es wird besonders der kleinen Sprachen und Völker gedacht, und es werden Parallelen der Unterdrückung gezogen, namentlich bei Iren und Armeniern. Das liegt tatsächlich ganz handfest nah, fand doch der irische Aufstand von 1916 in Dublin nur wenige Monate später als der armenische in Van statt. Und wohl auch darum hat Joyce gezielt armenische Anspielungen und Materialien in seine literarische Großmontage eingestreut – ein versteckter und dennoch deutlicher Gestus der Trauer, Empathie, Solidarität.

Dass allein durch diesen Gestus Literatur, die zum Aghet-Gedenken beiträgt, humanes Gewicht erhält, ist die Überzeugung, die dem vorliegenden Essay zugrunde liegt. Eine unter diesem Gesichtspunkt wertvolle Anthologie, die neben hier genannter noch weitere, überwiegend armenische Literatur vorstellt, hat Corry Guttstadt 2014 herausgegeben. Sie heißt Wege ohne Heimkehr.