Deutsche Staatsverbrechen

Die verdrängte Verschwörung von 1922

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die einfachen Wahrheiten schmeicheln sich so überzeugend ein, daß es schon besonderer Energie bedarf, sie von sich zu stoßen und aus der Distanz kritisch zu prüfen. Walther Rathenaus Ermordung am 24.6.1922 verübten fanatische Antisemiten, für die der jüdische Großindustrielle, Publizist, "Erfüllungspolitiker" und amtierende Außenminister alles verkörperte, was ihrem Klischee des volksfremden und hochverräterischen Juden entsprach. So sahen es viele Zeitgenossen, so liest man es in Memoiren, ob bei Curt Siodmak oder bei Friedrich Hollaender, und bei Thomas Mann heißt es hilflos, der Mord sei die "Tat eines Gemütes" gewesen. Au contraire! Die Attentäter handelten als Auftragskiller in nationaler Mission. Rathenau wurde nicht wegen seiner Person, Politik oder gar seiner Rasse als Opfer gewählt, sondern wegen seines Ansehens bei der Linken, und weil er ein Repräsentant der Republik war. Hinter dem politischen Anschlag stand, wie Martin Sabrow detektivisch und akribisch beweist, nicht nur kühle Überlegung und lange Planung, sondern eine Geheimorganisation, eine Verschwörung, die nichts Geringeres beabsichtigte als einen Umsturz der demokratischen Staatsform.

Kluge Köpfe, wie Kurt Tucholsky, ahnten freilich schon damals etwas von größeren Zusammenhängen. In der "Weltbühne" vom 29.6.1922 erschien sein Sonett "Rathenau", in dem er die Republik ärgerlich-verzweifelt zur Tat peitscht:

"Schlag in Stücke die Geheimverbände!

Bind Ludendorff und Escherich die Hände!

Laß dich nicht von der Reichswehr höhnen!

Sie muß sich an die Republik gewöhnen.

Schlag zu! Schlag zu! Pack sie gehörig an!

Sie kneifen alle. Denn da ist kein Mann.

Da sind nur Heckenschützen. Pack sie fest -

dein Haus verbrennt, wenn dus jetzt glimmen läßt.

Zerreiß die Paragraphenschlingen.

Fall nicht darein. Es muß gelingen!

Vier Jahre Mord - das sind, weiß Gott, genug.

Du stehst vor deinem letzten Atemzug.

Zeig, was du bist. Halt mit dir selbst Gericht.

Stirb oder kämpfe!

Drittes gibt es nicht."

Tucholskys Forderung an die Republik, endlich - auch gegen geltende Gesetze ("Paragraphenschlingen") - aufzuräumen mit der Rechten, stimmt ein in das blindwütige Feldgeschrei der linken Organisationen, die überall im Land ihre Anhänger gegen die Reaktion mobilisieren. Es kommt sogar, unerhört und einmalig in der deutschen Geschichte, zu einem staatlich angeordneten Generalstreik, der nur die Polizei, Militär, Feuerwehr, und die Krankenhäuser ausnimmt. Eine Million Menschen säumt allein in Berlin die Straßen am Tag der Beerdigung. Kurz darauf rufen die Gewerkschaften einen zweiten Generalstreik aus, der noch mehr Demonstranten auf die Straßen bringt, um der fast grenzenlosen Entrüstung von Zigtausenden eine andere als gewaltsame Artikulationsmöglichkeit zu geben, sie zu kanalisieren. Keine Krone, keine schwarzweiße Flagge, kein Schild eines Hoflieferanten, kein "Stahlhelm"-Träger ist in der Woche nach dem Mord vor dem Ingrimm der Menge sicher (jedenfalls in den Städten und außerhalb der "Ordnungszelle Bayern"). Schaufensterscheiben werden zertrümmert, deutschnationale Volksvertreter als geistige Brandstifter aus Parlamenten geprügelt, die KPD fordert die Bewaffnung der Arbeiter - ein Bürgerkrieg droht.

Und genau darauf hatten es die Drahtziehter angelegt. Tucholsky hatte sie genannt. Ludendorff und Escherich konnten in diesem Fall zwar nur als Sympathisanten und Mordhetzer des Wortes gelten, aber mit den "Geheimverbänden" und (indirekt) der Reichswehr traf er ins Schwarze. Hermann Ehrhardt hatte als Leiter der "Organisation Consul" (O. C.) das Töten prominenter Republikaner organisiert und angeordnet, um damit linke Aufstände zu provozieren. Sie niederzuschlagen, hätte der Auslöser für eine nationale Gegenrevolution durch die O. C. und ihr verbündeter paramilitärischer Gruppierungen sein sollen, die, im Gegensatz zum Kapp-Lüttwitz-Putsch, auf die Unterstützung der Reichswehr und damit auf Erfolg hätte rechnen können.

Weit entfernt von amerikanischen Verschwörungstheorie-Faktion, wie sie noch dreißig Jahre nach dem Kennedy-Mord ins Kraut schießt, erhellt Sabrow historisch genau die Verbindung der Attentate von 1921/22. Zuerst starb am 26.8.1921 der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger (von mehreren Pistolenschüssen getroffen). Dann wählte man am 4.6.1922 den Proklamator der Republik, Philipp Scheidemann als Opfer (auf einem Waldspaziergang im Beisein seiner Familie mit Blausäure überschüttet; er überlebte nur dank seiner Gegenwehr und zufällig heftigem Wind). Schließlich bringt man am 24.6.1922 Walther Rathenau um (bei einem Überholmanöver trifft ihn ein Maschinenpistolen-Feuerstoß, danach eine Handgranate). Den scheinbar in direktem Zusammenhang damit stehenden Anschlag auf Maximilian Harden am 3.7.1922 (acht schwere Schläge gegen den Kopf mit einem Totschläger überlebt er knapp) schließt er allerdings mit überzeugenden Argumenten aus der Serie aus. Es ging eben nicht einfach um einen dumpfen Antisemitismus, wie er sich darin äußerte, daß rechtsradikale Studenten öffentlich sangen: "Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau".

Ausführlich begründet Sabrow, warum die reaktionären paramilitärischen Vereinigungen in der Art der "Organisation Condor", aus denen die Täter stammten, auf die Milde der Richter und Geschworenen rechnen konnten, warum selbst die Reichsregierung sie unbehelligt ließ, obwohl man über ihre Schlagkraft und Bewaffnung informiert war, und endlich, warum die Reichswehr mit ihnen kooperierte. Nicht nur die nationale und konservative Einstellung spielten dabei eine Rolle, sondern viel wichtiger war die Möglichkeit, militärische Beschränkungen der Alliierten mit Hilfe dieser inoffiziellen Eingreifreserve unterlaufen zu können. Solche Kontakte durften allein schon wegen außenpolitischer Rücksichten keinesfalls an die Öffentlichkeit gelangen.

Erst 1933 nutzten die Mörder von damals die Gelegenheit, ihre Staatsverbrechen der Zwanziger vom neuen Staat würdigen, sich als Helden und Märtyrer für's Vaterland feiern zu lassen. Doch selbst unter Hitlers Herrschaft klärten sich nicht alle Umstände des Rathenaumordes. Diesen Unklarheiten setzt Martin Sabrows Buch ein Ende. Das überreiche Material, das er aus Archiven und Erinnerungswerken zusammenträgt, ist vorzüglich aufbereitet. Sabrow folgt in seiner Publikation, die aus einer Dissertation hervorgegangen ist , eher angelsächsischen Wissenschaftstugenden, zu deren vornehmster die gehört, den Leser im besten Sinne zu unterhalten und gleichzeitig von der fachlichen Qualität zu überzeugen. Ohne in irgeneiner Weise reißerisch zu sein, bietet er seinen Stoff so dar, daß man sich stellenweise an die "Akte Odessa" oder "Smiley's People" erinnert fühlt. Wie dort wird man auch bei Sabrow in die Geschichte hineingezogen, möchte man die Wahrheit hinter der Wahrheit ergründen. Die spannungssteigernde Komposition der Fakten, der souveräne, immer klar argumentierende Stil wird dabei nicht zum Selbstzweck, drängt sich nicht vor den Gegenstand. Damit wird seine Darstellung für Leser weit über den Kreis der Historiker hinaus interessant, den die Taschenbuchreihe Fischer Geschichte anstrebt. Zumal Sabrow die ganze Affäre in den innen- und außenpolitischen Kontext ihrer Zeit stellt und ihre Vorgeschichte wie ihre Protagonisten umfassend beschreibt.

Titelbild

Martin Sabrow: Die verdrängte Verschwörung.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
11,70 EUR.
ISBN-10: 3596143020

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