Ideologisierung und Interkulturalität eines deutschen Klassikers

„Friedrich Schiller in Europa“ untersucht die Rezeption einer kulturellen Symbolfigur in gesamteuropäischer Perspektive

Von Daniel BorgeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Borgeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was gibt es eigentlich noch zu Friedrich Schiller zu sagen? Für die einen ist er ein Autor, mit dem sie in der Schule gequält wurden, womöglich noch seine Gedichte auswendig lernen mussten, für die anderen steht er, neben Goethe, wohl stellvertretend nicht nur für eine bestimmte Epoche, sondern für die deutsche Literatur überhaupt. Als einer der am meisten gespielten Dramatiker und am häufigsten zitierten und parodierten Dichter der deutschen Sprache ist er in jedem germanistischen Kanon aufzufinden. Nicht zuletzt die Vertonung der „Ode an die Freude“ im vierten Satz von Beethovens 9. Sinfonie trug dazu bei, dass Schiller auch über die Literatur hinaus rezipiert wurde. Bei einer solchen Mythologisierung einer Person ließ die politische und ideologische Vereinnahmung nicht lange auf sich warten. So wurde immer wieder auf den Dichter Bezug genommen, wenn es um deutsches Selbstverständnis ging. 

„Friedrich Schiller in Europa“ untersucht genau diese Vereinnahmungen in Ländergrenzen überschreitender Perspektive vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Dabei treten sowohl die bekannte bzw. nicht weiter überraschende ideologische Rezeption während des Nationalsozialismus und in der DDR zutage, als auch die bisher weniger beachtete Bedeutung des Schillerschen Werks für die schweizerische Nationalbewegung im 19. Jahrhundert, das italienische Risorgimento und den Faschismus sowie im osteuropäischen Raum für Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Kroatien und Russland. Der von Anne Feler, Raymond Heitz und Gilles Darras herausgegebene Band trägt nicht nur den Vereinnahmungen Schillers Rechnung sondern auch der produktiven Rezeption einzelner Autoren, die Schiller für die eigene Literatur fruchtbar machen wollten.

Aufgrund der gesamteuropäischen Perspektive ist die Publikation eine wichtige Ergänzung zur Forschung und bietet neue Lesarten an, wie der Artikel von Claudia Albert zur „Schiller-Rezeption im George-Kreis und im Nationalsozialismus“. Die Autorin versucht die Rezeption als „Effekte von Gewaltpotentialen zu betrachten, die nicht zuletzt dem Schiller’schen Sprachduktus selbst eigen sind.“ Auf der Grundlage von poststrukturellen und dekonstruktivistischen Ansätzen untersucht sie Schillers eigene „gewaltförmig-aggressive Literaturpolitik“, um anschließend die Auswirkungen auf die Rezeption zu befragen. Im Rahmen der ideologischen Inanspruchnahme Schillers erscheint auch der Aufsatz von Roland Krebs interessant, der die Aufführung von „Kabale und Liebe“ als Gastspiel des Schiller-Theaters im besetzten Paris untersucht. Dabei gerät insbesondere die Kollaborationspolitik der Nazis in den Fokus als auch die Rolle des Schauspielers Heinrich George, der an beiden Aufführungen am 25. und 26. Februar 1941 mitwirkte.

Als besonders wichtig erscheint im romanischen Kontext auch die Schiller-Rezeption in Spanien. Marisa Siguan zeichnet in ihrem Aufsatz „Schillersche Abenteuer in Spanien“ ein Bild des Dichters, das noch von Ortega Y Gasset als positives Gegenbild zu Goethe gezeichnet wird und in dem Schillers Biografie häufig mit seinen Werken gleichgesetzt wird. Sowohl Schiller und Goethe als auch Heinrich Heine werden zu der Zeit in Spanien als romantische Autoren verstanden – ein Umstand, der immer noch anhält, wie die Autorin aus eigener Erfahrung versichert. Besonders interessant erscheinen im historischen Kontext die Übersetzungen und Umschreibungen des Schiller’schen Werks ins Spanische, der häufig eine Vermittlung durch französische Autoren vorausging, wie die Bearbeitung Lamartelières von Schillers die Räuber mit dem Titel Robert chef des brigands. Das Stück, das mit dem Original nur noch wenig zu tun hat, wurde sehr frei ins Spanische übersetzt. Es hatte einen durchschlagenden Erfolg und begründete die in Spanien sehr beliebte Gattung des Melodramas. Darüber hinaus wird Lamartelières Stück als „Revolutionsdrama“ gelesen. „Die Interpretation beruht auf den Aufrufen gegen die soziale Ungerechtigkeit, die die Handlungen der „Brigands“ bestimmen. […] In dieser Hinsicht entspricht die Schiller-Rezeption im Spanien des 19. Jahrhunderts der Entwicklung der eigenen spanischen Romantik, […]. In diesem Sinn wird Schiller instrumentalisiert.“ (Marisa Siguan)

Was den diesen Band besonders bereichernden Teil über Schillers Wirkung in Osteuropa betrifft, so konstatiert beispielsweise Peter Drews für das Polen des 19. Jahrhunderts, das sich Schillers Dramen „nur begrenzter Aufmerksamkeit“ bei konservativen katholischen Kreisen erfreuten, die ihn „unter religiösen Gesichtspunkten interpretierten“. Er hält fest, dass Schillers Werken „nur in Ausnahmefällen“ größere Bedeutung zukam, „so die Jungfrau von Orleans während der Ära Napoleons oder der Demetrius zu Beginn des 20. Jahrhunderts.“

Grażyna Barbara Szewczyk untersucht auf der Grundlage des kultursoziologischen Modells von Pierre Bourdieu die Rezeption der Schillerschen Dramen in Polen nach 1945 und kommt zu dem Schluss, dass man „die polnischen Übersetzungen der Schillerschen Stücke als auch ihre Inszenierungen auf polnischen Bühnen, […] im Rahmen des dynamischen literarischen Feldes betrachten“ kann, „in dem die kulturellen Güter sowohl einen symbolischen als auch einen ökonomischen Tauschwert haben.“ Grund hierfür ist wohl auch die Tatsache, dass die Zensur im kommunistischen Polen „nicht so rigid wie in anderen sozialistischen Staaten war und dass sie die freie Begegnung mit westlicher Theaterkultur und Kunst zuließ.“

Das Beispiel Polen soll hier nicht stellvertretend für den osteuropäischen Raum stehen, sondern nur als Einblick in den äußerst differenten Rezeptionsprozess der slawischen Länder. Genauso gut hätte man andere Perspektiven der dortigen literarischen Verarbeitung in den Mittelpunkt stellen können, da die Herausgeber des Bandes den Begriff „europäischer Raum“ erfreulich ernst nehmen.

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass „Friedrich Schiller in Europa“ nicht nur länderübergreifende, und -spezifische Rezeptionsprozesse in den Blick nimmt, sondern auch durch die Ansätze der Autoren verschiedenen Interpretationen Raum gibt, so wie oben skizziert einer poststrukturellen oder kultursoziologischen. Darüber hinaus eignet sich die Publikation ebenso als Überblickslektüre, für Studierende und ForscherInnen gleichermaßen, um sich über einen bestimmten Aspekt der Schiller-Rezeption schnell zu informieren und zeigt, dass es zu einem Autor wie Schiller noch eine Menge zu sagen gibt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Raymond Heitz / Gilles Darras / Anne Feler (Hg.): Friedrich Schiller in Europa. Konstellationen und Erscheinungsformen einer politischen und ideologischen Rezeption im europäischen Raum vom 18. bis zum 20. Jahrhundert.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2013.
364 Seiten, 66,00 EUR.
ISBN-13: 9783825362287

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch