Exkursionen zur Fotografie

Fotografien sind keine Momentaufnahmen von Realität, sondern komplexe Inszenierungen in einem umfassenden gesellschaftlichen Umfeld

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Fotografie lebt wie viele Kunstgenres von ihren Genies und Kreativen. Die Bewunderung der großen Persönlichkeit hat dabei den Blick auf diejenigen verstellt, die den Kreativen überhaupt erst die Bühne bereitet haben. Kein Fotoreporter ohne Redakteur, keine Fotografie ohne Entwicklung, kein Bildprogramm ohne Agentur. Hinter den großen Männern (und Frauen) stehen immer Dutzende andere, was die Fotografie auffallend wenig von anderen Genres unterscheidet. Auch nicht von der Literatur, in der der Autor wenig zählte, wenn andere aus seinen Texten kein Buch zu machen verstünden: Setzer, Grafiker, Drucker, Buchbinder und Buchhändler.

Die Emanzipation der Fotografie als Kunstgenre hat die Abhängigkeit von solchen Strukturen notwendig verstellen müssen, gilt der Künstler doch als Originalgenie deutlich mehr, also dann, wenn er aus sich allein und seiner Kunst vollständig und alles geschöpft hat, was es eben ausmacht. Dass Fotografien zugleich komplexe gesellschaftliche Inszenierungen sind, an denen neben dem Fotografen auch Technik, Industrien, kulturelle Kontexte, Bedeutungen und eine Menge andere Leute teilnehmen, gerät dabei aus dem Blick. Wer die Erfolgsgeschichte der Fotografie im 20. Jahrhundert verstehen will, muss darauf allerdings seinen Blick richten.

In dem von Annelie Ramsbrock, Annette Vowinckel und Malte Zierenberg herausgegebenen Band über „Fotografien im 20. Jahrhundert“ sind eine Reihe von Beiträgen gesammelt, mit denen der Blick weg vom Foto auf seinen Kontext gerichtet werden soll, um umso angemessener auf das Foto selbst blicken zu können.

Die Herausgeber wollen, wie sie in ihrer Einleitung beschreiben, die Produktions- und Distributionszusammenhänge der Fotografie untersuchen, um einen angemessenen Umgang mit der Fotografie Bahn zu brechen. Eine auf den vorgeblichen Abbildcharakter der Fotografie fokussierte Behandlung vernachlässigt eben nicht zuletzt ihren Inszenierungscharakter und wie er zugleich das diffizile Verhältnis zwischen Fotografie und Bedeutung verdeckt.

Wie sehr fotografische Ikonen Teil einer kulturellen Erzählung sind, die inszeniert werden muss, wird in mehreren Beiträgen zu Beginn des Bandes untersucht. Jens Jäger etwa skizziert, wie sehr der koloniale Blick der Deutschen von der Agenturarbeit der Deutschen Kolonialgesellschaft gebildet und weiter entwickelt wird, über die Kolonialzeit des Deutschen Reiches hinaus. Bildagenturen (Malte Zierenberg) und Bildredakteure (Annette Vowinckel) besetzen beim Entwurf der fotografischen Erzählung neuralgische Positionen. Agenturen sammeln Fotografien zu aktuellen Themen und stellen sie einer Öffentlichkeit und ihren Medien zur Verfügung, die über das Bild wesentliche Zugänge zum gesellschaftlichen Geschehen gewinnt. Mit der zunehmenden Bedeutung des Bildes in der öffentlichen Erzählung und Reflexion professionalisiert sich diese Struktur. Sie wird sich zudem mehr und mehr ihrer Aufgabe bewusst, mediale Erzählungen zu entwerfen. Darin besteht, wenn man dem Beitrag von Annette Vowinckel folgt, die spezifische Aufgabe der Bildredakteure, die nicht allein eine Vermittlerrolle zwischen Fotografen und Medium respektive Publikum einnehmen, sondern verstärkt die Inszenierung der Fotografie als Erzählung übernehmen und vorantreiben.

Die Beiträge von Rolf Sachsse (zur Bonner Republik) und Kathrin Fahlenbach (zu den Bildikonen der 68er) bilden dazu die Probe aufs Exempel. Mit dem zunehmenden Bewusstsein von der Wirkungsmacht von Bildern wächst auch die Kompetenz, sie angemessen zu entwerfen und wirkungsvoll einzusetzen. Die Ausdifferenzierung der Formsprache lässt sich an der Durchsetzung und Entwicklung der Fotoreportage in den 1920er- und 1930er-Jahren zeigen: Die Entwicklung geht dabei von einer statischen zu einer dynamischen und funktionalen Auswahl von Fotografien und Gestaltung von Fotostrecken in den Illustrierten, Zeitschriften und Zeitungen (Ulrich Keller). Dabei übernimmt die Fotografie verstärkt erzählende und gestaltende Aufgaben, löst sich also von ihrer illustrativen Funktion.

Wie sehr schließlich das Bild das Ereignis respektive die Wahrnehmung des Ereignisses prägt, zeigt der Beitrag von Christian Geulen über die Foto-Ikonen des D-Day und Robert Capas Omaha Beach-Fotografien. Die vorgeblich die Authentizität repräsentierende schlechte Qualität der Fotografien der anlandenden GIs geht allerdings auf einen Fehler des entwickelnden Labors zurück. Dass die Fotografien dennoch veröffentlicht wurden, hängt schlicht damit zusammen, dass sie singulär waren und keine Alternativen bestanden. Dennoch hat die gesamte Textur des Bildes die Bildsprache des Ereignisses bis in die filmische Reanimation oder sogar ins Videospiel hinein geprägt. Der missglückte chemische Prozess gerät mithin zum Authentizitätsgaranten.

Die gegenseitige Bedingtheit von Fotografie und Kontext lässt sich auch an einem weiteren prominenten Beispiel zeigen, nämlich an der Bildauswahl von Ernst Friedrichs „Krieg dem Kriege“ (Annelie Rambock). Dass Friedrich gerade die Fotoauswahl der zerstörten Gesichter aus einem völlig anderen Kontext entlehnte (nämlich aus der Dokumentation von chirurgischen Eingriffen zur Wiederherstellung von fast völlig zerstörten Physiognomien) ist bekannt (auch in der Berliner Ausstellung zur „Fotografie im Ersten Weltkrieg“ wird dieser Umstand aufgenommen. Annelie Rambock vermag aber den Bedeutungswandel der Fotografien vorzustellen, der mit dem Wechsel ihrer Kontexte verbunden ist. Dies wird auch am Beitrag zur Alltagsfotografie im „Dritten Reich“ bestätigt, der die Abhängigkeit der Interpretierbarkeit von Fotografien vom Wissen über ihren kulturellen Kontext beschreibt (Linda Conze, Ulrich Prehn, Michael Wildt). Badende Männer sind nicht einfach nur Badende, eine Frau auf einer Parkbank ist nicht einfach nur eine Frau, die auf einer Parkbank sitzt. Helmut Lethen hat diesem Thema kürzlich eine beeindruckende Monografie gewidmet (Helmut Lethen: Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit. Rowohlt, Berlin 2014).

Wie eng kulturelle Praxis und damit Interpretation von Wirklichkeit mit der Inszenierung von Fotografien zusammenhängt und wie sehr die Fotografie ihren Status im kulturellen Kontext gewandelt hat, zeigen die Beiträge von Monika Dommann (Persönlichkeitsschutz und Porträtfotografie) und Marline Otte (Amateurfotografie in der DDR).

Mithin ein beeindruckend inspirierender Band, dem man vieles nachfolgen lassen will: eine Studie zu den Selfies, in denen sich Amateurfotografie, Selbstvergewisserung und Inszenierung wunderbar begegnen (Dommann verweist darauf). Oder auch nur Weiterführendes zur Reportage, das bis in die Gegenwart der Bilderzählung führen könnte. Eine Studie zur Bildinszenierung der Boulevardpresse wäre erkenntnisreich – etwa zu Berichterstattung und Gestaltung der BILD-Zeitung.

Einen völlig anderen Ansatz verfolgt Jan Gerstner in seiner Studie zur Funktion der Fotografie in der Literatur des 20. Jahrhunderts. An den Beispielen von Roland Barthes, dessen Essay „Die helle Kammer“ wohl der wirkungsvollste Beitrag zum Verständnis der Fotografie Mitte des 20. Jahrhunderts war, Walter Benjamin, Marcel Proust, Siegfried Kracauer und Bertolt Brecht einerseits sowie Jorge Semprun, Georges Perec, Hubert Fichte und Christa Wolf andererseits soll die Auseinandersetzung der Literatur mit dem (vorgeblich) konkurrierenden Medium Fotografie vorgeführt werden. Die Fotografie wird dabei als korrigierendes und ergänzendes Medium verstanden, das der Abstraktheit der Literatur zur Seite tritt, zeigen kann, was die Literatur nur sagt und damit die Literatur dort überführt, wo sie sich dem Augenschein verweigert. Fotografie wird dabei als Gedächtnismedium verstanden, was sich mit einer ihrer Funktionen in der Alltagskultur deckt. Die Fotografie bewahrt vor dem Vergessen, was die Literatur nur zu umschreiben vermag.

Der prominente Rekurs auf Barthes Essay erklärt dennoch den ontologischen Status, den Gerstner der Fotografie zugesteht. Wenn schließlich im Ausblick zustimmend von der „unbezweifelbaren Referentialität“ die Rede ist, werden aber die unterschiedlichen Ebenen im Verhältnis von Fotografie und Realität unzulässig vermischt. Denn es ist durchaus unklar, worin denn die Referentialität eines zweidimensionalen Mediums bestehen soll, das durch optische und chemische respektive elektronische Prozesse gewonnen worden ist. Von der Fotografie lässt sich auf dieser Ebene mit derselben Gewissheit behaupten, dass sie etwas zweifelsfrei Vorhandenes abbilde, das also überhaupt und vielleicht sogar so und nicht anders am bewussten Ort gewesen ist, wie von der Literatur, die etwa ein bestimmtes Ereignis schildert. Aber genau das ist fraglich, weil die medialen Schranken und Vermittlungen einer solchen Gewissheit entgegenstehen.

Das funktioniert auf der pragmatischen Ebene naheliegend ganz anders. Hier wird die Fotografie in der Regel mit der Referenz eng verbunden, wie dies Texte mit einem ähnlichen Status gleichfalls sind. Der Umgang von Texten, wie sie Gerstner untersucht, mit Fotografien, ihre Nutzung als Gedächtnismedium erweitert mithin die Inszenierungsvielfalt des literarischen Textes selbst, unabhängig davon dass Gerstner das Gedächtnis-Moment an die Erinnerung an den Holocaust bindet. Gerstner bewegt sich mithin auf der Erzählebene der Texte, visiert also die symbolische wie metaphorische Verwendung der Fotografie an. Ob dieses Vorgehen in der Tat so fruchtbar ist, wie Gerstner meint, und es erlaubt, vom kritischen Punkt von Barthes‘ Essay abzusehen, ist eine andere Frage. Allerdings träfe dies auf nahezu alles zu, was an kulturellen Themen auf der Erzählebene von Texten behandelt wird. Ontologische Beschränkung tut mithin gelegentlich Not.

Kein Bild

Jan Gerstner: Das andere Gedächtnis. Fotografie in der Literatur des 20. Jahrhunderts.
Transcript Verlag, Bielefeld 2013.
442 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783837622805

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Titelbild

Fotografie im 20. Jahrhundert. Verbreitung und Vermittlung.
Herausgegeben von Annelie Ramsbrock, Annette Vowinckel und Malte Zierenberg.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
304 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311954

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