Einzigartige Landschaft

Wieder gelesen und geblättert in dem Prachtband „Unendlich schön. Das Gartenreich Dessau-Wörlitz“

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das ausgehende 18. Jahrhundert war eine herausragende Epoche für das kleine Land im mittleren Elbe-Raum, „welches man auf der Karte mit einem Finger bedecken kann“, wie G. F. Rebmann sagte. Schon Ende des 17. Jahrhunderts entstand das barocke Oranienbaum. Später verwandelte sich die gesamte Gegend zwischen Dessau und Wörlitz zum Gartenreich, darin eingebettet die Schlösser und Parkensembles Mosigkau, Großkühnau, Georgium, Luisium und als Höhepunkt das von Fürst Franz von Anhalt-Dessau gestaltete Wörlitz, eine Anlage vollendeter Harmonie von Natur und Kunst.

Eine Einheit von Bau- und Gartenkunst, die Verschmelzung von Naturlandschaft und künstlerisch überformter Landschaft sollte hier geschaffen werden – ein Gesamtkunstwerk. Die landschaftlichen Gegebenheiten wurden zu dem mit einem weitreichenden philosophisch-ethischen und pädagogischen Reformprogramm von universellem Wert verknüpft.

Heute ist das Gartenreich Dessau-Wörlitz Bestandteil des Biosphärenreservats „Mittelelbe“, des größten zusammenhängenden Auenwaldkomplexes Mitteleuropas. Seit 2000 zählt es zu einer der vier UNESCO-Weltkulturerbe-Stätten des Landes Sachsen-Anhalt. Eine gute Autostunde von Berlin entfernt, ist das Gartenland an Elbe und Mulde  mit 800.000 Besuchern eine Touristenattraktion sondergleichen. Der prächtige Text-Bild-Band, den die Kulturstiftung Dessau-Wörlitz im Berliner Nicolai-Verlag herausgebracht hat, liegt zwar schon einige Zeit zurück, aber in ihm zu lesen und zu blättern, bedeutet immer wieder Freude, Genuss und Erkenntnisgewinn – deshalb soll er noch einmal nachdrücklich ins aktuelle Bewusstsein gehoben werden. Denn hier wird nicht nur das „Herzstück“ Wörlitz, sondern erstmals das ganze Gartenreich auf der Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse in gut lesbarer Form vorgestellt. Alle recht dezentralen Objekte sind in diesem Band zusammengeführt worden. Vor allem die Atmosphäre der einzigartigen Landschaft ist zu allen Tageszeiten, frühmorgens und frühabends, aber auch in allen vier Jahreszeiten in schönen Stimmungen eingefangen. Auch in die Depots hat man hineingeschaut, man erlaubt dem Leser einen Blick hinter die Kulissen, die Besuchern sonst gemeinhin verborgen bleiben.

Als eine oranische Exklave mitten im Anhaltinischen, neun Kilometer östlich von Dessau entfernt, stellt sich das holländisch-barocke Ensemble von Stadt, Schloss und Garten Oranienbaum dar. Die Bauherrin war Henriette Catharina, ein Spross des mächtigen europäischen Adelshauses Oranien-Nassau, die mit dem Fürsten Johann Georg II. von Anhalt-Dessau 1659 verheiratet wurde. Die nach französischem Vorbild erstellte u-förmige Schlossanlage schafft Distanz zum bürgerlichen Milieu der angrenzenden Stadt. Während an der Stadtseite mit der offenen Dreiflügelanlage der Herrschaftsanspruch vorgetragen wird, ist die Rückfront ganz auf den Garten ausgerichtet, der seit 1683 in französischem Stil angelegt wurde.

Ein Teil des Schlossparks ist dann Ende des 18. Jahrhunderts für Fürst Franz im englischen Stil mit chinesischem Glockenturm (Pagode) und chinesischem Teehaus geschaffen worden. Oranienbaum zählt zu den bedeutendsten Schlossbauten des deutschen Barock und war seinerzeit Landhaus und Residenz des Fürstenpaares zugleich. Nach dem Tode ihres Mannes diente Henriette Catharina das Schloss als Witwensitz. Von der verschwenderischen Ausstattung des Schlosses zeugen heute nur noch der Teesaal (mit der restaurierten kostbaren Ledertapete) und der Fliesenkeller (der völlig mit Delfter Kacheln verkleidete Sommerspeisesaal).

Axial zum Marktplatz auf der Hauptstraße parallel zum Schloss gelegen, gehört die 1712 eingeweihte Kirche zum Typ der protestantischen Predigerkirche mit Zentralanlage. Der Zentralbau mit elliptischem Grundriss wird als eigenständige Leistung im evangelischen Kirchenbau des 18. Jahrhunderts gewürdigt. Der stilisierte schmiedeeiserne Orangenbaum auf dem Marktplatz symbolisiert die Verbindung der beiden Geschlechter Oranien-Nassau und Anhalt-Dessau.

Das nur wenige Kilometer westlich von Dessau gelegene Schloss Mosigkau ist der einzige, zu großen Teilen erhaltene Schlossbau des Spätbarock im mittleren Deutschland. Das „kleine Sanssouci“ wird diese Perle des Rokoko auch genannt. Bauherrin ist Anna Wilhelmine, die Enkeltochter Henriette Catharinas, die 23 Jahre (bis zu ihrem Lebensende) die Vorzüge ihrer Sommerresidenz nutzen konnte. Das Schloss diente dann bis 1945 als adliges Damenstift. In Mosigkau ist der für das Rokoko typische Kontrast zwischen sparsamer Verzierung außen und einem schmuckreichen Innern augenfällig. Diese dreiflügelige Schlossanlage mit nördlicher Ehrenhofseite und einer dem Garten zugewandten Südfassade sollte nicht durch Monumentalität, sondern durch Grazie und Eleganz beeindrucken.

Für das Rokoko typisch entstanden Schlossbau und Gartenplanung als homogenes Ganzes, als zwei sich bedingende, aufeinander bezogene Teile eines Gesamtkunstwerkes. Durch die großen Fenster des lichtdurchfluteten Gartensaales  entstand von innen nach außen wie von außen nach innen eine Verknüpfung von Gebäude und Parterre, einer durch symmetrisch angeordnete Beete gegliederten Gartenfläche. Der Saal war von Anbeginn der Rahmen für die variantenreiche Gemäldesammlung vornehmlich aus der oranischen Erbschaft der Fürstin Henriette Catharina aus Oranienbaum, die unsymmetrisch aneinandergefügt drei Wände bedecken. Unter ihnen befinden sich herausragende Stücke von Peter Paul Rubens, Anthonis van Dyck, Gerard van Honthorst und anderen.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde Dessau, das kleine Fürstentum, durch Leopold III, Friedrich Franz, den bedeutendsten anhaltinischen Fürsten, zu einem kulturellen Zentrum europäischen Ranges erhoben. Das Land des Fürsten Franz galt damals als Synonym für Fortschritt und Toleranz. Die grundsätzliche Forderung der Aufklärung nach Bildung wurde hier in die Tat umgesetzt. 1777 gründete Fürst Franz das Philanthropische Institut in Dessau. Fürst Franz und sein Architekt Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff hatten die unterschiedlichen Strömungen englischer Gestaltungsart studiert und in Anhalt-Dessau zu einer neuen Qualität von Garten als Gesamtkunstwerk komponiert. Sie brachten die Eindrücke ihrer Grand Tour, die sie einzeln und gemeinsam nach Italien, Frankreich und eben auch nach England unternahmen, wie die Umsetzung der Antikebegeisterung als Gartenthema nach Mitteleuropa mit und bezogen Erlebnisse aus Südeuropa in ihre gestalterischen Lösungen ein.

Wörlitz, lieblich an einem toten Elbarm gelegen, wurde zum Ausgangspunkt für eine Landschaftsgestaltung, die später fast das gesamte Fürstentum umfassen sollte. Das Wörlitzer Landhaus, der erste klassizistische Bau Deutschlands, ist gemeinsam mit dem umgebenden Garten zur Keimzelle des Dessau-Wörlitzer Gartenreiches geworden. Anregungen hatte sein Erbauer von Erdmannsdorff in den Landhäusern und Villen des Italieners Andrea Palladio aus dem 16. Jahrhundert gefunden. Nicht mehr vordergründige Repräsentation, sondern eine geradezu modern anmutende Funktionalität sollte der wohlproportionierte Bau mit seinem mächtigen Portikus ausstrahlen. Die Räume, ihre Ausstattung wie die Kunstwerke waren nach einem pädagogischen Gesamtprogramm durchkomponiert worden. Im Sinne des pädagogischen Dessauer Stilpluralismus verwendete von Erdmannsdorff auch anderswo bewusst verschiedene Bauformen im Sinne einer Stilfibel.

Ein privates Refugium (auch für seine Beziehung mit der später geadelten Gärtnerstochter, mit der er auch Kinder hatte) ließ sich Fürst Franz 1773/74 mit dem Gotischen Haus errichten. Dieses sich vor der Kanalfront leicht erhebende, bewegt gegliederte Bauensemble ist ein frühes Zeugnis des neugotischen Stils, der im 19. Jahrhundert dann weite Verbreitung finden sollte. Das Gotische Haus war vom Fürsten für seine Sammlung bestimmt, unter denen die Schweizer Glasscheiben des 16. und 17. Jahrhunderts einen einzigartigen Wert darstellen. In Dessau-Wörlitz gehören das Gotische Haus und die Kirche zu Wörlitz zu den herausragenden, aber nicht zu den einzigen Bauwerken des neugotischen Stils.

Die Übertragung aufgeklärten Gedankengutes beschränkte sich als Motiv gestalteter Gartenräume nicht nur auf die hochstilisierten Parkanlagen, deren Partien untereinander durch Wege, Brücken, Fähren und Sichtbeziehungen verschiedenster Art miteinander verbunden sind. Die Erweckung der Antike im Geiste Winckelmanns und die Naturschwärmerei im Sinne Rousseaus spiegelt sich auch in den Bauten und Denkmälern des Parks wider. Das klassizistische Luisium, der Sitz der Fürstin Luise, galt als Beispiel „gebauter Aufklärung“ und war eine Stätte geistigen Austausches und der Inspiration. Das gotisierende Graue Haus mit Galerie, der Sommersaal, ein Kulissenbau, der Englische Gartensitz, im Palladio-Motiv sich öffnend, der Vestatempel, ursprünglich die Synagoge, „Eisenhart“ und Bibliothekspavillon, die Rousseau-Insel, das Labyrinth, ein Gewirr von Felsengängen als Sinnbild des menschlichen Lebens, das Nympheum, ein Aussichtspunkt „jenseits des Sees“, oder der Flora- und Venustempel gehören zu den fast 60 Bauwerken und Kleinarchitekturen des Klassizismus und der Neugotik im Park.

Das Monument, ein symbolisches Grab- und Denkmal für die regierenden Fürsten des Hauses Anhalt-Dessau, ist in seinen äußeren Formen an antike Grabmonumente angelehnt. Auch das von Erdmanssdorff errichtete Pantheon, ein dunkelroter Bau mit einem vorgelagerten korinthischen Säulenportikus, gehört zu den Bauten, die antike Vorbilder rezipieren. Die Einbindung ägyptischer Götter verweist auf ein universelles Pantheon.

Die landschaftliche Schönheit des Golfs von Neapel hatte den Fürsten Franz auf seiner Italienreise so sehr fasziniert, dass er den Vesuvausbruch auf der Wörlitzer Felseninsel „Stein“ wie eine Theaterinszenierung nachvollziehen ließ. Man hat diesen „Vesuv von Wörlitz“ zu besonderen Anlässen wieder funktionstüchtig gemacht.

Den Längsschnitten mit der Darstellung der einzelnen Schlösser, Objekte und Gartenanlagen folgen – und das gehört zu den Vorzügen dieses alles andere als sich pädagogisch belehrend gebenden Bandes – jeweils Querschnitte, die übergreifende kunst- und kulturgeschichtliche Sachinformationen geben wollen: So über die barocke Gartenkunst, die Chinoiserie, jene Dekorationsform im „Chinageschmack“, die oranische Erbschaft aus dem Besitz der Fürstin Henriette Catharina, den englischen Landschaftsgarten, die Wörlitzer Brückenbaukunst oder das Dessauer Philanthropische Institut.            

Wenn man dennoch einen Mangel finden wollte, dann ist es das Fehlen eines Personen- und Sachregisters sowie einer aktuellen Übersichtskarte des gesamten Dessau-Wörlitzer Gartenreiches. Denn die dem Band beigegebene Karte von 1818 mag zwar historisch höchst reizvoll erscheinen, entspricht aber nicht mehr den Erwartungen und Anforderungen des heutigen Besuchers.

Titelbild

Kulturstiftung Dessau-Wörlitz: Unendlich schön. Das Gartenreich Dessau-Wörlitz.
2. Auflage.
Nicolai Verlag, Berlin 2006.
301 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3894791977
ISBN-13: 9783894791971

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