Von Indien nach Deutschland

Boris Hillens Roman hat kaum etwas mit dem Titel zu tun

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Boris Hillens Roman „Agfa Leverkusen“ gibt es zwei Erzählebenen. Zuerst einmal geht es um den indischen Photographen Kishone Kumar, der sich in der Provinz seines Landes mit einem Photogeschäft über Wasser hält. Der Fortschritt, und das ist im Fall eines solchen Photographen Anfang der Siebzigerjahre der Farbfilm, ist auch in der Provinz nicht aufzuhalten. Getrieben von rückgängigen Geschäften und Kundenwünschen, die er nicht erfüllen kann, bricht Kumar nach Leverkusen in Deutschland auf, um sich dort bei Agfa über die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Farbphotographie zu informieren. Kishone Kumar macht sich zusammen mit seinem Freund Amitabh auf Motorrädern nach Deutschland auf.

Der zweite Handlungsstrang spielt ungefähr dreißig Jahre später, im Jahr 2009. Ein junges Mädchen reist zusammen mit einem Bekannten, den sie über das Internet kennen gelernt hat, von Deutschland Richtung Indien. Sie beginnt ihre Reise in Frankfurt und ist auf der Suche nach ihrem Vater, von dem sie nur eine Notiz besitzt, unterschrieben mit einem „K“. Die im Roman beschriebenen Reiserouten laufen zeitlich versetzt und in gegensätzlicher Richtung aufeinander zu. Beiden Handlungssträngen sind die skurrilen Geschichten um die Expeditionen der zwei Suchenden gemeinsam. Auch Kishone Kumar ist auf seiner Fahrt auf der Suche. Er möchte die für das „Time Magazine“ arbeitende Journalistin Joan wieder sehen, die er in Indien kennen gelernt hat. Und so nähern sich die zeitlich versetzten Geschichten durch die Figuren und skurrilen Ereignisse einander an, unbemerkt und eigentlich sehr unterhaltsam. Allerdings scheint sich der Faden an manchen Stellen etwas zu sehr zu verwirren. Nicht immer kann der Leser genau identifizieren, wo er sich gerade in der Geschichte befindet, zu welchem Erzählstrang die Episode gehört und was sie mit der eigentlichen Geschichte zu tun hat. Dies ist manchmal irritierend und mindert das Lesevergnügen. Aber so wie die Umwege zur Geschichte gehören, so sind sie doch Stufen auf der Reise der Protagonisten zu sich selbst. Einer kommt in Deutschland anders an als er denkt. Die Journalistin ist in mancher Beziehung wichtig, aber nicht in jeder, und die Reise mit dem unterschwelligen Zweck, den eigenen Vater und vielleicht ein Stück der eigenen Identität zu finden, bringt die Protagonistin auch eher sich selbst und den eigenen Wünschen näher als dem vermissten Vater.

Auf den letzten Seiten des Romans wird die ganze Fabel noch einmal zusammengefasst und nacherzählt. Dies ist hilfreich und macht manche Passagen im Nachhinein etwas klarer. Nur hätte ich mir diese strukturierte Übersicht in der Lektüre etwas früher gewünscht. Es hätte mache Passagen unterhaltsamer gemacht. So bleibt der Roman von Boris Hillen vor allem ein großartiger Erzählfluss, in dem interessante Figuren herumschwimmen, deren Bekanntschaft zu machen für den Leser eine Bereicherung ist. Mit Photographie und Agfa Leverkusen hat der Roman allerdings kaum etwas zu tun. Auch wird man verzweifelt nach Hinweisen zur Farbphotographie suchen, allerdings hätte man bei dem Romantitel „Agfa Leverkusen“ zumindest einige nutzbringende metaphorische oder philosophische Überlegungen anstellen können. Aber dafür sollte man vielleicht eher einen Blick in ein Buch von Anton Corbijn werfen.

Titelbild

Boris Hillen: Agfa Leverkusen. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
447 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100022820

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