Wie geht Vergegenwärtigung?

Der große Philologe Friedrich Ohly wurde vor 100 Jahren geboren, und seine Schüler um Wolfgang Harms erinnern sich

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die vielen Arbeiten von Friedrich Ohly (1914-1996), an detailgenauem historischen Wissen überreich und mit der nötigen Geduld ohne weiteres lesbar, sind seit Jahrzehnten immer auch ein Ausweich- und Rückzugsort für Literatur- und Kulturhistoriker gewesen, denen das bloß germanistische Mittelalter mit Lautverschiebungen, Minnestrophen und Ritterepen (wenn sie nicht gerade von meisterhaften Anregern wie Hugo Kuhn oder Walter Haug interpretiert wurden) mit mehr oder weniger Recht etwas zu ‚deutsch‘ und zu peripher vorkam. Auch Ohly war von Hause aus germanistischer Mediävist, der bei Julius Schwietering studiert hat, aber der Horizont seiner „Bedeutungsforschung“[1] eröffnete einem das viel weitere Feld des alteuropäischen Kulturraums eines ‚Lateineuropa‘, der eigentlichen, bald auch zur Frühen Neuzeit hin geöffneten Mediävistik, die dann die störend-anachronistische Rede vom sogenannten ‚Mittelalter‘ etwas in den Hintergrund treten ließ. Denn ‚Mittelalter‘ ist ja ein Epochenkonzept, das vor allem für die frühhumanistische Traditionskritik etwa Francesco Petrarcas einmal seinen guten Sinn gehabt hat, vor gut sechs Jahrhunderten, als man sich polemisch von der Herabwürdigung der antiken Texte und Werte durch jenes „Medium aevum“ abgrenzte, in dem man selbst noch steckte und aus dem man unbedingt herauswollte; aus den „mittleren Zeiten“, denen man durch ein so nichtssagendes Adjektiv gar eine eigene Substanz absprach. Seither wird dieser Name gedankenlos weiterbenutzt, auch weil das Schema ‚Alt-Mittel-Neu‘ schlichten Gemütern nun einmal so praktisch erscheint.

Ein Band, der sich, aus Anlass des hundertsten Geburtstages im Jahre 2014, die „Vergegenwärtigung eines großen Philologen“ zum Ziel setzt, sollte deshalb mit einer gewissen Neugierde rechnen können, bei Lesern, die schon länger wissen, was sie an Ohly haben (der ja seinen Themenhorizont später auch auf Goethe, Jean Paul und Eichendorff ausdehnte), und vielleicht bei (nicht-germanistischen) neuen, zumal auch solchen, die nicht bei ihm in Kiel oder dann vor allem in Münster studiert haben, wo er 1982 emeritiert wurde. Ihnen ist der Autor als Person in der Regel fern und unbekannt geblieben, und ihnen vor allem bietet dieser Band eine Fülle wenig oder gar nicht bekannter, heute entlegener Dokumente, nützlicher Hinweise und viel Anregungen zum Nachdenken. Herausgeber sind zwei seiner namhaftesten Schüler, Wolfgang Harms (nach Promotion und Habilitation bei Ohly 1979-2004 Mediävist in München) und Wolfram Hogrebe (Student in Münster und als Philosophie-Professor zuletzt bis 2013 in Bonn), die das Vorwort und jeweils einen eigenen Beitrag verfasst haben. Alle anderen Beiträger kannten Ohly zumindest als Studenten: Martin Warnke, Jürgen Goldstein und Uwe Pörksen, darunter auch Christel Meier (Münster), die neben Harms und den nicht mit eigenen Artikeln vertretenen Uwe Ruberg, Hartmut Freytag und Dietmar Peil zu den namhaftesten Schülern gehört. Auch sie ist in ihren eigenen Arbeiten den Themen Ohlys nahe geblieben und mit dem am meisten fachspezifischen und fachgeschichtlichen Beitrag vertreten, der aus einem früheren Band nachgedruckt wurde: Zwischen historischer Semiotik und philologischer Komparatistik. Friedrich Ohlys Werk und Wirkung.[2]

Die Schwerpunkte des Bandes liegen entschieden bei der Biographie seit der Studienzeit während NS-Diktatur und Krieg in Königsberg, dann in Frankfurt/Main und Berlin, Kriegsdienst, Gefangenschaft und Zwangsarbeit bis 1953 in der Sowjetunion sowie dem Wirken als Hochschullehrer in Kiel und Münster, wie sie sich in der Erinnerung seiner Schüler als ‚Zeitzeugen‘ ausnimmt. Andere Zeitzeugen und seinem Umfeld fernstehende Leser oder gar Kritiker kommen in dieser Sammlung nicht zu Wort, die auf diese Weise doch eher den Charakter einer entschieden aus persönlich anteilnehmender Erinnerung gespeisten ‚Gedenkschrift‘ erhalten hat. Offenbar hat man gemeint, damit das Ziel einer „Vergegenwärtigung“ desto besser erreichen zu können, ohne sich – man verzeihe die Pedanterie – erkennbar und ernsthaft die Frage zu stellen, ob eine Vergegenwärtigung notwendig und überhaupt möglich ist und was heute die Bedingungen und Gründe für beides wären. Dabei scheinen sich zumindest die beiden Herausgeber keine Illusionen über die heutige Lage der deutschen Universitäten zu machen, mit der eine solche Vergegenwärtigungsabsicht ja zu rechnen hat: Seit dem „Unfall“, man kann auch sagen GAU, nämlich der ominösen „Bologna-Erklärung“ vom Sommer 1999, sei es „zu einer top down verordneten Destruktion der deutschen Universität  gekommen […], die einer umfassenden Regeneration ohne Gesetzesänderung nicht mehr fähig ist“, lesen wir mit großer Zustimmung im Vorwort. „Hätten sie es doch Brüsselprozeß genannt, […] dann wären wir sofort wach geworden.“ Aber, so muss man hinzusetzen, Verrat und Destruktion ausgerechnet nach Bologna, einer Ursprungsstadt der alteuropäischen Universität zu nennen, ist politisch-historischer Vandalismus von besonderer Perfidie. Die „Universität der Betriebswirte“ ist nur noch dazu da, ihren ahnungslosen und infantilisierten „Studierenden“, den Kunden also, beizubringen, wie man möglichst schnell Geld verdient. Studenten, die heute nach einer autonomen Universität verlangen und dort studieren könnten, müsste man sich wohl als eine Art Partisanen vorstellen. „Von akademischer Ausbildung kann an deutschen Universitäten nur mehr in Fällen des Widerstands die Rede sein, der Ohlys Elixier war“ – doch der ihm wohlgesinnte Leser möchte hier am liebsten fortfahren: dass man es ihm auch nicht hätte wünschen mögen, diese Misere noch mitzuerleiden. Das alles dann aber mit dem schlichten Hinweis auf Ohly als „Repräsentant der Geschichte einer autonomen Universität“ abzuschließen, ohne ein Minimum an kritischer Reflexion folgen zu lassen, das ist nach diesem trefflichen Ansatz der Kritik wiederum zu wenig für eine Vergegenwärtigung. Dazu hätte es denn doch mehr bedurft, mindestens eines eigenen Beitrages mit der Zusammenstellung, Einordnung und Erörterung seiner Äußerungen und seines Verhaltens zur Universität seiner Tage, um so die von Ruberg mit Anmerkungen versehene, ein ganzes Viertel des Umfangs einnehmende Dokumentation mit den gesammelten Stellungnahmen und Interventionen Ohlys 1966 bis 1973 (über Empfehlungen des Wissenschaftsrats, Germanistentage, einen Vorlesungsstreik, Erklärungen in eigenen Kolloquien) in dem Band selbst zum Sprechen zu bringen, über die in einzelnen Beiträgen dazu gemachten Bemerkungen hinaus.

Naturgemäß steht dieses Thema in enger Verbindung mit Ohlys Vergangenheit, der Studienzeit in Königsberg, als er offenbar ausdrücklich und aktiv mit anderen für den vom Regime verfolgten Professor Paul Hankamer eintrat und wie dieser von der Universität verwiesen wurde, schließlich der Zeit als Soldat im Osten, des Verlusts eines Auges und der neunjährigen Gefangenschaft. Diese bittere Erfahrung mit zwei Gewaltregimen ist die Quelle für Erschrecken und Ablehnung der studentischen Proteste, der Institutionen- und Wissenschaftskritik um 1968 und danach. Das war damals verständlich und ist es heute, und es ist damals wie heute unergiebig und unverarbeitet. Es ist zum einen eine Folge jenes „hilflosen Antifaschismus“[3], den Wolfgang Fritz Haug und andere, darunter der Jurist Wolfgang Abendroth, analysiert haben. Zum anderen ist es auf der Seite der Studenten das Zeichen eines selbstverschuldeten Scheiterns bereits in der Einschätzung der Gegenseite, vom Fehlen einer damals wie heute bitter nötigen dialektischen Kritik des gesamten Konfliktes, wie auch von fehlender ‚Empathie‘, gar nicht zu reden. Doch von alledem nichts auf diesen Seiten. Statt Erörterung von Problemen nur knappe Formeln der Kondolenz, Apologie und Bekräftigung von Gesinnungstreue.

Leider hat der Band auch zur Hauptsache, Ohlys „Bedeutungsforschung“, wenig Erhellendes zu bieten, das über lange Bekanntes hinausführte. Schon der überaus leer-allgemeine und deshalb auch, sagen wir einmal: nicht sehr kreative Name hätte bei dieser Gelegenheit doch einmal eine nähere Befragung verdient: „Bedeutung“ in welchem Sinn (zwischen importance und significance), und Bedeutung wessen genau? Gewiss kann man das aus Ohlys Schriften entnehmen und so weit klären, dass man sein Selbstverständnis rekonstruieren kann. Aber Fragen danach werden zu wenig gestellt. Wem also soll hier was vergegenwärtigt werden? Auch aus dieser Sicht kann man persönliche Erinnerungen und Überlegungen wie die von Harms und Hogrebe, Warnke (sehr knapp zu Ohly und die Kunstwissenschaft in Münster), Pörksen (mit einem Kapitel aus seinem Roman Weißer Jahrgang von 1979, mit Ohly als Hauptfigur unter dem Namen Holberg) und Goldstein (besonders über Parallelen und Differenzen zu Hans Blumenberg) nicht hoch genug schätzen. Und selbstverständlich sind solche Zeugnisse für die Wissenschafts- und Fachgeschichte sehr wertvoll, – aber es darf nicht dabei bleiben, sonst ist die Gefahr des vage Anekdotischen zu groß. Immer wieder liest man auch vom „anthropologischen Fundament der Bedeutungsforschung“ (so Harms im Vorwort, auch Meier), doch ohne jede Erläuterung, was damit genau gemeint ist und was nicht, um welche ‚Anthropologie‘ es sich da handelt. Ja der schlichte Hinweis auf Ohlys Interesse an „Möglichkeiten des Menschseins“ soll anscheinend sogar das Fehlen expliziter Theorie und Methode erklären und entschuldigen. Ein echtes Interesse an der Sache, an der Aufklärung über Ohlys Wissenschaft über solche Verlegenheit hinaus, würde hier stattdessen nach impliziten theoretischen Annahmen gesucht haben und nicht wie Goldstein dagegen Ohlys Weigerung des Mitschwimmens „im Strom der Kritischen Theorie“ ausspielen. Im Beitrag Christel Meiers fällt dieses fehlende Nachfragen besonders störend auf, etwa auch an der Stelle, wo man über das nicht unwichtige Verhältnis der Bedeutungsforschung zur Mittellateinischen Philologie bloß mit einer sibyllinisch ausweichenden Floskel über „institutionelle und personale Defizite“ der letzteren abgespeist wird. Meier folgte immerhin Peter von Moos auf dem betreffenden Lehrstuhl in Münster, und man hätte auch gerne etwas über das Verhältnis wenn nicht seiner Person, so doch der Forschungen Ohlys zu von Moos’ ebenfalls hochinteressanten und dabei keineswegs theoriefernen Interessen erfahren, über die ebenfalls in bedeutenden Büchern nachzulesen ist. Beide außergewöhnliche Mediävisten müssen jahrzehntelang Tür an Tür nebeneinander gelehrt und geforscht haben. Auch darüber erfährt man leider nichts in diesem Band.

Ein Beispiel zur Theoriefrage zum Schluss. Sehr aufschlussreich ist dafür Ohlys 30-seitige Rezension[4] von Rainer Warnings Untersuchung des Geistlichen Spiels mit dem Titel Funktion und Struktur von 1974, die damals als einer der frühesten Versuche der offensiven Applikation des Funktionalismus von Niklas Luhmanns Systemtheorie auf die Literarhistorie ein gewisses Aufsehen erregte. Gerade im Detail zeigt sich darin die Position Ohlys, wenn er sich mühsam und gleichsam schwer atmend durch das Labyrinth der theoretischen Formeln und Thesen hindurcharbeitet und an Warnings provokant-komplizierter Diktion (zB „Typologie als desymbolisierte Pseudokommunikation“) Anstoß nimmt („man schnauft erst einmal“ …, „einfacher gesagt, ist offenbar gemeint“…), – und wie ihm eine kritische Erörterung dieses Ansatzes nach Maßgabe seines historischen Wissens dann jedoch ganz fern liegt. An einer Stelle findet er eine normative These, die sich aus einem theoretischen Konzept bei Warning ergibt, angesichts der Ausmaße der historischen Kontexte einfach absurd („wenn Jahrhunderte von Literatur in einer Gattung als an ihrer Sollbestimmung vorbeigelebt [haben sollen] oder schlechthin als fragwürdig befunden werden?“) und formuliert dann seine Alternative: „Das Historische verlangt zuerst Beschreibung seiner Individualität“, keine „Beurteilungen nach vorgefaßten theoretischen Konzepten“. Ein solches Unverständnis gegenüber theoriegeleiteter Interpretation, das bei Ohly noch hingehen und in diesem Fall auch eine gewisse Berechtigung haben mag, ist seither schwer erträglich. Aber auch den Autoren dieses Bandes scheint es fern zu liegen, aus analytischer Distanz Beobachungen an Ohlys Schriften zu machen und diese in eine Erörterung seines Verhältnisses zu Theorie und Wissenschaft münden zu lassen – zu fern auch für ihre Absicht der Vergegenwärtigung eines großen Philologen, die ohne den Prüfstein der Auseinandersetzung eben nicht möglich ist. Vergegenwärtigung ohne kritische Auseinandersetzung produziert vielleicht Nostalgie und Apologie, bestenfalls Erstaunen und vielleicht ein bisschen Nachdenklichkeit, aber kaum Erkenntnis.

Anmerkungen

[1] Zentral der erste Sammelband: Friedrich Ohly: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, unveränderte 2. Aufl. 1983. Zum Titelbegriff darin nach der Einleitung (ebd., S. IX-XXXIV) der grundlegende Aufsatz: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter (zuerst 1958), S. 1-31.

[2] Mit gleichem Titel in: Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Herausgegeben von Eckart Conrad Lutz, Fribourg 1998.

[3] Wolfgang Fritz Haug: Der hilflose Antifaschismus. Frankfurt/Main 1967 (edition suhrkamp 236), 4. Aufl. Köln 1977.

[4] Friedrich Ohly: Rezension von Rainer Warning: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des Geistlichen Spiels, München: Fink Verlag 1974. In: Romanische Forschungen 91 (1979), wieder abgedruckt in dem zweiten Sammelband: Friedrich Ohly: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und Bedeutungsforschung. Herausgegeben von Uwe Ruberg und Dietmar Peil, Stuttgart/Leipzig: Hirzel 1995, S. 113-144.

Kein Bild

Wolfgang Harms (Hg.): Friedrich Ohly. Vergegenwärtigung eines großen Philologen.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2014.
161 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783777623856

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