Die Welt muss repoetisiert werden
Die „Edition Poeticon“ des Berliner Verlagshauses J. Frank lässt den Essay als literarische Gebrauchsform wieder aufleben
Von Lisa-Marie George
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAuf dem kleinen grauen Buch – oder doch eher Heft – steht, kurz und bündig, in Großbuchstaben „FILM“. Im unteren Drittel des Titels wird der Autor Jan Volker Röhnert genannt und in der rechten unteren Ecke ist eine kleine, stilisierte Schreibmaschine in einem Kreis abgedruckt: das Logo des Verlagshauses J. Frank aus Berlin.
Gebunden sind die knapp 50 Seiten des Essays aus der „Edition Poeticon“ mit einer bunten, offenen Fadenheftung. Die Gestaltung ist ansprechend und auf das Wesentliche beschränkt; nichts also, das vom Inhalt ablenkt. Und dieser ist manchmal verwirrend, bisweilen unverständlich, nachdenklich, packend, vor allem aber ‚anders‘: „Hier ist eine Tanzbewegung: Ich stehe, schaue geradeaus. Drehe die linke Schulter nach links-hinten, lasse den Brustkorb folgen, die Arme schwingen nach, ich schwinge wieder zurück, twiste den Oberkörper so, dass die linke Schulter leicht nach vorn zeigt. Gehe in die Knie, beuge das linke Bein stärker als das rechte, verstärke den Twist, senke mich dabei immer weiter in Richtung Boden ab, bis ich mit meiner rechten Beckenseite dort lande.“
Was sich hier einfach anhört und nach einer losen Aufeinanderfolge von Regungen klingt, dauert in Wirklichkeit gerade einmal zwei Sekunden und ist ein komplexes Zusammenspiel zahlreicher Muskeln; diesen vielschichtigen Ablauf versucht Martina Hefter in „Tanzen“ in Worte zu fassen. So wie der Tänzer nacheinander verschiedene Muskeln an- und entspannt, um die einzelnen Tanzelemente auszuführen, verfolgt das Auge Wort für Wort das Geschriebene, das sich in gedanklicher Synthese zu der Bewegungssequenz zusammenfügt.
In ihren Essays der „Edition Poeticon“ verarbeiten die Autor*innen Erfahrungen zu jeweils einem Thema ihres Alltags – sei es Schönheit, Film oder Geschlecht – und zur zeitgenössischen Lyrik. Sie spielen mit der Fantasie ihrer Leser*innen, stoßen Erinnerungen und Assoziationen an. Was diese Reihe mit ihren gerade mal 15 x 9 cm großen Heftchen ausmacht, schildert Martina Hefter vortrefflich in ihrem Tanz-Essay: „Das Ganze verstehe man am besten als Installation. Geht in das Buch, wie ihr in einen Raum hineingehen würdet, und dort bestaunt, untersucht, bewundert, hinterfragt, erkundet die Sammlungen, den Verhau, das Gerümpel, die Diamanten, die Schubladen.“
Es sind kleine, eigenwillige Kunstwerke, äußerlich wie ‚innerlich’, die Asmus Trautsch im Berliner Verlagshaus J. Frank herausgibt. Die einfache aber wirkungsvolle Gestaltung der „Edition Poeticon“ verkörpert das Gesamtkonzept des Verlagshauses: Die Typografie lässt der Imagination genug Raum, lädt gleichzeitig zum Anfassen und Anschauen ein.
Das Verlegerkollektiv Johannes CS Frank, Andrea Schmidt und Dominik Ziller konzentriert sich in seinem Programm vor allem auf Kurzprosa und Lyrik. Poesie halte einen ganz eigenen Weg bereit, um Phänomene in der Welt wahrzunehmen und zu untersuchen, erklärt Frank im Interview mit der taz. So stellt die „Edition Poeticon“ allerlei Fragen zum Gebrauch und zur Funktion von Lyrik: „Schreibt Geschichte Gedichte oder machen Gedichte auch Geschichte?“ Durch die Verschränkung von zeitgenössischer Literatur mit anspruchsvollen Typografien und Illustrationen werden die einzelnen Kunstformen für Autor*innen und Leser*innen in bester Manier zusammengebracht.
In diesem Jahr feiert der Verlag bereits sein zehnjähriges Bestehen. Begonnen hatten Frank, Schmidt und Ziller ihre Zusammenarbeit mit dem Literaturmagazin Belletristik. Zeitschrift für Literatur & Illustration. Aus den Beiträgen einiger Autor*innen entwickelte sich eine längerfristige Zusammenarbeit mit den Herausgeber*innen und das Verlagshaus J. Frank wurde gegründet. Mittlerweile betreut der Verlag verschiedene Editionen: neben der „Edition Poeticon“ beispielsweise auch die „Edition Belletristik“ und die „Edition Polyphon“. Der Verlag wuchs über die Jahre durch den Aufbau und die Etablierung diverser Reihen. Autoren, Illustratoren und Verleger arbeiten hier eng zusammen. Die drei Gründer begreifen den Verlag als Ideenlabor – eine Freiheit, die sich insbesondere Independent-Verlage nehmen können, um neue Möglichkeiten der Gestaltung von Texten auszuloten. Dies spiegelt sich auch in dem kleinen grauen Heftchen. „Poetisiert euch.“ heißt es in der unteren linken Ecke auf der Rückseite – eine Anspielung auf den berühmten Essay von Stéphane Hessel. Denn das Verlagshaus legt Wert auf Texte, die gegenüber den Vorgängen in der Welt Stellung beziehen: „Alle wollen sie, aber glauben nur an sich, Artefakte oder Dinge. Käufliche am liebsten. Am leichtesten lässt sich an käuflich zu erwerbende Dinge glauben. Die können verglichen werden, ausgetauscht, um- oder erworben,“ schreibt Swantje Lichtenstein in „Geschlecht“.
Die Stärke der Edition ist die Kombination aus Kürze und Emphase; zumindest für den Moment bringt sie die Weltanschauung der Leser*innen ins Wanken. Ihr ästhetisches Potential entfalten die Essays quasi wie ein Gedicht. „Poetisiert euch.“ bedeutet also mutmaßlich: Aktiviert euer Denken. Überdenkt eure Haltung. Bildet euch eure eigene Meinung.
Passend dazu ruft der Verlag zum Indiebookday 2015 auf: „Independisiert euch.“
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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