Ein amerikanisches Mädchen in der Villa Hügel
Mary Bruce schildert ihre Erinnerungen an das Nachkriegsdeutschland
Von Nina Gehrmann
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Das Gute und das Böse, alles hatte sich vermischt“, resümiert die zwölfjährige Mary Hanford Baldy im Jahr 1952 auf ihrem Rückweg aus Deutschland in die USA. Viel wurde über die Nachkriegszeit aus der Perspektive von deutschen Kindern und Jugendlichen geschrieben, wenig jedoch über die Nachkriegszeit aus der Sicht einer amerikanischen Heranwachsenden, wie in der vorliegenden autobiographischen Publikation der Literaturprofessorin Mary Bruce. Trotz der zeitlichen Distanz von beinahe 60 Jahren erinnert sich Bruce in 14 Kapiteln lebhaft und detailliert an ihre Ankunft in Deutschland 1949, an mitgehörte Gespräche über Politik und Weltgeschehen, den nicht immer unkomplizierten Besuch einer britischen Schule – und daran, was es hieß, als Amerikanerin auf die vom Krieg niedergeschlagenen Deutschen zu treffen.
Immer wieder stößt kindliche Naivität auf das Ressentiment der Erwachsenen, den Haß der Sieger gegenüber dem Kriegsverlierer Deutschland; nicht selten beobachtete das Mädchen die Politik der Alliierten mit Empörung und Unverständnis. So überschreitet Mary im Laufe der Zeit mit immer größerem Verständnis die Barrieren zwischen den Alliierten und den Deutschen, wenngleich unwissend über die tatsächlichen Vorgänge im Land während und nach dem Krieg. Sie lernt die deutsche Haushälterin Emmy zu schätzen und empfindet Sticheleien gegenüber den Kriegsverlierern als zunehmend unangebrachter. Einen Wendepunkt erhalten die Ereignisse, als Mary von einer Vergewaltigung an einer jungen Deutschen durch einen amerikanischen Soldaten erfährt. Von nun an fühlt sie sich der Nation von Kriegshelden, für die sie die Amerikaner anfänglich gehalten hatte, nicht mehr richtig zugehörig.
Neben all diesen Ernsthaftigkeiten berichtet die Autorin wiederholt von scheinbaren Banalitäten, wie ihrem Hund Joey, von Comic-Heften oder ihren Schwimmbadbesuchen im Keller der Villa Hügel, welche für das sensible und fantasievolle Mädchen zum Zufluchtsort vor Langeweile und ein Refugium für das Ausleben ihrer Träumereien wird.
Am Rande führt das Buch – bei der Drucklegung durch die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung unterstützt – ebenfalls an die Kriegshistorie des Industriekonzerns Krupp heran. Marys Vater arbeitete in der Kohlenkommission in der Villa Hügel, der Kruppschen Familienresidenz in Essen. Was das Mädchen aus Gesprächen der Eltern über Krupp nicht selbst entnehmen kann, ergänzt Thomas Dupke in Erklärungen nicht nur zur Essener Industriefamilie, sondern u. a. auch zum Zweiten Weltkrieg oder der amerikanischen Außenpolitik. Diese Erläuterungen sind den Erinnerungen von Mary Bruce als Anmerkungen beigefügt. Wenngleich sie auch am Ende des 14. Kapitels umständlich platziert sind, könnten sie für die jugendliche Zielgruppe dennoch hilfreich sein. Hieran schließt sich ein ebenfalls von Dupke verfasstes Nachwort an, in dem er die Relevanz der literarischen Erinnerungen von Mary Bruce, insbesondere im Hinblick auf die Zielgruppe, hervorhebt.
Ein 15-seitiger Bildteil ergänzt Bruces Schilderungen anschaulich und vermittelt den jungen Lesern einen Einblick in die Lebenswelt der Villa Hügel und der Amerikaner, die sich zu Nachkriegszeiten in Deutschland aufhielten. Abgerundet wird das Buch durch ein Verzeichnis mit weiterführender Literatur.
Vereinzelte orthographische Mängel schränken das Verständnis der Lektüre keinesfalls ein. Während das Gros ähnlicher Publikationen oder Fernsehdokumentationen die kindliche Perspektive von Deutschen auf das Kriegs- und Nachkriegsgeschehen einnimmt, werden diese Begebenheiten im vorliegenden Werk in den interessanten Blickwinkel der Gegenseite gerückt. Die Erinnerungen von Mary Bruce laden den Leser nicht nur zur Reflexion über das damalige Verhältnis der am Krieg beteiligten Staaten ein, sondern regen ihn zugleich an, eine Brücke zum aktuellen Zeitgeschehen zu schlagen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen