Der Mensch als Subjekt oder Objekt des Netzes?

Jaron Lanier fordert einen grundlegenden Mentalitätswandel der digitalen Gesellschaft

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass die Entwicklung unserer sich digitalisierenden Gesellschaft von blankem Zukunftsoptimismus, gleichsam kritiklos vorangetrieben würde, wird man seit einigen Jahren kaum mehr sagen können. Zwischen staatlichen Totalüberwachungsprojekten und der Datensammelwut diverser Großkonzerne erscheinen die Ideale einer demokratischen Verbindung freier und gleicher Menschen, mit denen die Netzkultur einst angetreten war, rückblickend als geradezu naive Utopien. Das Netz als Instrument staatlicher Überwachung, als monopolistisches Aggregat unternehmerischer Macht, als Agent dezentralisierter Propaganda – viel ist nicht geblieben von den einst hohen Idealen. Und das große Wort von der Freiheit wird allenfalls noch dort im Munde geführt, wo es um die Freiheit von Kosten geht. Oder aber dann, wenn andernorts Facebook, Twitter etc. angeblich zum Sturz despotischer Regimes beitragen, freilich kaum je mit mehr als kurzfristigem Erfolg. Umgekehrt bleibt die nun durchaus vorhandene Kritik an der zunehmend erschreckenden Wirklichkeit unserer Netzwelt weitgehend folgenlos. Der Abstraktionsgrad dieses Geschehens bedingt offenbar eine außerhalb interessierter Kreise ziemlich saft- und ergebnislos geführte öffentliche Debatte.

Was also ist aus den Verheißungen des technischen Fortschritts geworden? Das darf man sich fragen, und das fragt sich auch Jaron Lanier, „digitaler Idealist“ der ersten Stunde und sogenannter Netzpionier. Im vergangenen Jahr wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet – ein bezeichnender Vorgang im Falle einer Branche, die zu großen Teilen mehr oder weniger heimlich immer noch hofft, die Folgen der Digitalisierung könnten gleichsam folgenlos an ihr vorüberziehen. Dem 1960 geborenen Lanier, dem gerne die Erfindung des Begriffs der „Virtual Reality“ zugeschrieben wird, ist die Desillusionierung auf jeder Seite seines bei Hoffmann und Campe in deutscher Übersetzung erschienenen Buches „Who owns the future?“ (2013) abzulesen. Dies gilt allerdings nicht uneingeschränkt: Zugleich gehört er zu jenen Autoren, die das alte Ideal vom Netz zu retten versuchen, und zwar mit Konzepten, die den Anliegen vieler anderer Aktivisten geradezu entgegengesetzt scheinen. Weder zu einem Dystopisten noch zu einem Apokalyptiker geworden, von pauschaler Kulturkritik und gar Maschinenstürmerei weit entfernt, bemüht er sich um konstruktive Vorschläge im Sinne einer „humanistischen Informatik“. Diese beruht in seinem Fall auf der Grundidee, die Herkunft von Informationen – mit anderen Worten: der Mensch – sei nicht weniger wertvoll als die Speicherung, Verarbeitung und weitere „Verwertung“ von Daten. Von den Erlösungsphantasien zeitgenössischer Techno-Eschatologen hält Lanier allerdings auch nicht viel. Wenn er die Vorstellung der „technologischen Singularität“ diskutiert, mit der beispielsweise Ray Kurzweil schon für die nächsten Jahrzehnte rechnet, wird deutlich, dass es auch Lanier um einiges geht, wenn nicht um alles: Seine „humanistische Informatik“ ist auch das Gegenmodell zu einer projektierten Abschaffung des Menschen.

Im Kern seines Modells steht ein auf Mikrozahlungen gestütztes Netz, in dem die Urheber von Daten für die von ihnen gelieferten, über sie erhobenen Informationen bezahlt werden. Jene Nutzer von Google oder Facebook etwa, die sich bisher als Kunden dieser Unternehmen sehen, obwohl sie vielmehr deren Ware sind, würden für die von ihnen gelieferten, von den Konzernen jeweils verwerteten Daten ein (geringes) Entgelt erhalten. Überdies verweist Lanier in seinem Buch immer wieder auf Ted Nelson und dessen „Project Xanadu“ der 1960er-Jahre – ein Hypertext-Konzept, für das insbesondere eine konsequente Zweiwegeverlinkung kennzeichnend war, das sich aufgrund seiner Komplexität allerdings nicht durchsetzen konnte. Statt Daten immer wieder zu kopieren und so, möglicherweise ohne auf ihre Urheber zu verweisen, ihrer ursprünglichen Zusammenhänge zu entkleiden, könnte das Netz auch eine Neuzusammenstellung von Inhalten ermöglichen, bei der deren Quellen jeweils transparent bleiben, sowohl für den Rezipienten als auch für den Urheber.

Ted Nelson repräsentiert für Lanier eine von neun „Mentalitäten“ („humors“ im englischen Original), die er im Sinne seiner humanistischen Informatik für am aussichtsreichsten hält. Mit der Vorstellung einer konsequenten Durchmonetarisierung des Netzes befindet sich Lanier allerdings im Konflikt mit dem verbreiteten Geist einer Open-Source- und Open-Access-Kultur, mit der er sich in der Kritik der von ihm so genannten „Sirenenserver“ – der Daten aggregierenden und kontrollierenden Konzerne bzw. staatlichen Institutionen – ansonsten einig weiß. Das durchaus kapitalismusfreundliche Interesse Laniers verrät sich andererseits anhand der von ihm geschilderten Gefahr von Arbeitsplatz- und Wohlstandsverlusten infolge einer konsequenten Digitalisierung aller Branchen, die weit über das hinausgehen werde, was bislang bereits bekannt ist. Es wären dann auch die Industrie, selbst soziale Dienstleistungen bis hin zur Medizin betroffen, deren Leistungen kosteneffizient durch netzgestützte, digitale Roboter abgelöst werden können – die natürlich wiederum durch „Sirenenserver“ kontrolliert würden. Das auf Mikrozahlungen gestützte Netz böte hingegen die Möglichkeit, neue Wohlstandsquellen und Kreativitätspotentiale zu erschließen, wie Lanier meint.

„Sich Menschen als bloße Komponenten eines Netzwerks vorzustellen, ist – in intellektueller wie spiritueller Hinsicht – langsamer Selbstmord, was die Forscher angeht, und langsamer Totschlag, was den Rest der Menschheit betrifft.“ In diesem Sinne variiert Jaron Lanier mit seinem Buch erneut eine von ihm bereits seit langem gegen die Vorstellung ins Feld geführte These, der einzelne Mensch habe als Subjekt des Netzes zugunsten eines Kollektivs (was er einst als „digitalen Maoismus“ bezeichnete) oder einer überlegenen künstlichen Intelligenz abzudanken. In seinen Augen gibt es andere Wege zum Aufbau einer nicht selbstzerstörerischen Informationsgesellschaft, die freilich mit einem grundlegenden Mentalitätswandel einhergehen müssten und überdies langfristig vorzustellen sind. Erst wenn die ersten zwei oder drei Netzgenerationen abgedankt haben werden, erst in der Mitte des Jahrhunderts also, ist Lanier zufolge mit Besserung zu rechnen.

Diese zweifellos bedenkenswerten und anregenden Überlegungen finden sich, so muss man leider feststellen, in einem selbst an Redundanzen nicht armen, sein Thema eher unkonzentriert verfolgenden Buch, das zudem durch seine teils reichlich hölzerne Übersetzung – in der aus „liberal arts professors“ schon mal „liberale Kunstprofessoren“ werden – nicht an Verständlichkeit gewinnt. Der anbiedernde Untertitel der deutschen Ausgabe trägt auch nicht eben dazu bei, die Ernsthaftigkeit des Lanier’schen Anliegens zu unterstreichen: „Du bist nicht der Kunde der Internet-Konzerne, du bist ihr Produkt.“ Auf eine bloße Philippika oder eine augenöffnende Mahn- und Warnschrift gegen die Aktivitäten von Internetkonzernen lässt sich das Buch wahrlich nicht reduzieren.

Was man ihm nicht absprechen kann, ist, trotz der in grauen Farben gemalten Wirklichkeit des Netzes, Zuversicht. Das Informationszeitalter ist auch ein Desinformationszeitalter. Lanier weiß das natürlich. Seine Zuversicht setzt an einem anderen Punkt an, seinen Überlegungen zu Wegen hin zu einer humanistischen Netzwelt. Jaron Lanier geht es in seinem Buch darum, die progressiven Anliegen der Internetpioniere in die Zukunft fortzuschreiben – und so danach zu fragen, was sich zu diesem Zweck zu ändern hätte. Wie dies nun alles möglich sein könnte, bleibt letztlich offen. Auf die alte Frage, ob die Menschheit kollektiv in der Lage sein werde, sich allein aus vernünftiger Einsicht an verallgemeinerungsfähigen ethischen Prinzipien zu orientieren (goldene Regel), reagiert Lanier mit einem unerschütterten Grundvertrauen auf die Problemlösungsfähigkeit und den friedlichen Kooperationswillen des Menschen. Ob das berechtigt ist, ob nicht gerade die digitale Vernetzung einander nicht von Angesicht gegenüberstehender Menschen den Missbrauch von Kooperationsbereitschaft erleichtert und ihr so die Vertrauensgrundlage entzieht, muss hier dahingestellt bleiben. Vielleicht bleibt uns zwischen finsterem Kulturpessimismus und bizarrem Fortschrittsglauben auch keine andere Haltung übrig. Jedenfalls ist durchaus nicht ausgemacht, ob uns die von vielen Menschen mit großen Hoffnungen und großem Glauben in die Potenziale des Menschen vorangetriebenen Errungenschaften des informatischen Zeitalters nicht irgendwann als kolossaler Irrweg erscheinen werden – wenn uns auch dann nicht recht klar sein dürfte, wie man ihn hätte vermeiden können. Nichts würde einen Autor wie Jaron Lanier mehr wurmen, davon kann man wohl ausgehen.

Titelbild

Jaron Lanier: Wem gehört die Zukunft? „Du bist nicht der Kunde der Internetkonzerne. Du bist ihr Produkt.“.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2014.
480 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783455503180

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