Kein roter Faden, sondern ein Wollknäuel

Die kunterbunte Anthologie „Writing Worlds. Welten- und Raummodelle der Fantastik“ versammelt aktuelle Tendenzen der Fantastikforschung

Von Ksenia GorbunovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ksenia Gorbunova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Obwohl der Anteil ungenießbarer fantastischer Literatur im Verhältnis zum gesamten Genre genauso groß sein mag wie die Menge an nicht funktionierender Belletristik, wird fantastische Literatur im Gegensatz zur nicht-fantastischen insgesamt als Schundliteratur abgetan. Dennoch erfreut sich Fantastik eines lebhaften Interesses in der Popkultur – Blockbuster werben mit Special Effects, die fantastische Welten erfahrbar machen, Fantasy-Trilogien überfluten die Bücherläden und übernatürliche Elemente würzen die Plots der Videospiele. Auf wissenschaftlichen Zuspruch stößt das Fantastische hingegen nicht. Dass sich Wissenschaftler davor größtenteils scheuen, wurzelt womöglich im Vorurteil, dass Populäres trivial sei und als solches unwürdig zum Gegenstand ernster Forschung gekürt zu werden, womöglich gilt es aber auch als zu eng definiert innerhalb der Genrekonventionen, um spannende Interpretationsansätze zu gewährleisten.

Wie gewinnbringend die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Fantastik unter anderem für Kultur-, Semiotik- und Fiktionsforschung sein kann, zeigt die Anthologie „Writing Worlds. Welten- und Raummodelle der Fantastik“, in der eine Auswahl an Beiträgen zur vierten Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung im September 2013 in Wetzlar präsentiert wird und die nach Angabe der vier Herausgeber „der […] Vielfalt des Spektrums gegenwärtiger fantastischer Äußerungsformen Rechnung“ tragen soll. Offensichtlich gibt es fantastikbegeisterte Geisteswissenschaftler und was dabei herauskommt, wenn sie tagen, ist fürwahr vielfältig! So umfasst das Band Analysen von Filmen, Videospielen, Horror-, Fantasy-, Science-Fiction- und prähistorischer Prosa, Graphic Novels, sowie von Lyrik und antiken Schriftdokumenten, und das kunterbunt gemischt, häufig alles in einem einzigen Beitrag. Die Vielfalt hört jedoch nicht bei der Bandbreite der behandelten Medien auf.

Nicht nur das „Writing“ im „Writing Worlds“ muss weit definiert werden, denn es handelt sich eben nicht ausschließlich um eine Sammlung literaturwissenschaftlicher Aufsätze, und sollte nicht als das „Schreiben“, sondern als „Erschaffen“ von Welten verstanden werden – auch alle anderen Titelbegriffe „Welt“, „Raum“, „Modell“ und „Fantastik“ erfordern dehnbare Definitionen, um die Varietät der gesammelten Beiträge fassen zu können. Die Worte „Welt“ und „Raum“ bezeichnen nur in wenigen Beiträgen das „setting“ der analysierten fantastischen Werke, und davon beschränkt sich keiner auf das Erforschen der bloßen Weltentwürfe. Es wirkt, als würden die fantastischen Weltenmodelle, deren Schöpfung die Herausgeber als prägnanteste Artikulation des „Schlüsselimpulses literarischer und künstlerischer Produktivität“ im Vorwort anpreisen, nur in Kombination mit Figurenanalyse und Handlungsentwicklung an Bedeutung gewinnen. An mancher Stelle ist dies aus methodischer Hinsicht plausibel. Aber weil (wie von den Herausgebern angemerkt) das mimetische Potenzial fantasischer Weltschöpfungen für sich ein spannendes Thema ist, ist es doch schade, wenn die Betrachtungen der „Weltenkonzepte“ beizeiten komplett zugunsten von „Figurenkonzepten“ weichen muss. Unter „Räumen“ fassen einige der Wissenschaftler in ihren Untersuchungen tatsächliche Orte auf, wenn etwa dem Wald in Märchen bestimmte narrative Funktionen zugeschrieben werden oder die „Reise“ im Bildungsroman als ein Transgress-Raum betrachtet wird.

Andere wiederum suchen in fantastischen Werken nach religiösen, sozialen und moralischen Strukturen, deren Eigenschaften einen abstrakten semantischen „Raum“ begrenzen. Manche beschränken das Aufzeigen von „Welten- und Raumodelle[n]“ in ihren Aufsätzen auf die bloße Zusammenfassung der konstituierenden Elemente auf der Ebene des Erzählten (sprich: Inhaltwiedergaben), manche zeigen Konstellation von Räumen und den in ihnen verankerten psychologischen Entwicklungsstadien von Figuren modellhaft auf, anderen wiederum geht es in ihren Beiträgen überhaupt nicht um das Aufzeigen von irgendwelchen Raummodellen, sondern um theoretische Grundannahmen zur Fiktionalität. Und ob es um die im Titel versprochenen „Welten- und Raummodelle der Fantastik“ bei der Betrachtung eines noch nicht mal fiktionalen Textes des Altertums gehen kann bzw. inwiefern man in der metaphernreichen, verdichteten Sprache der Lyrik von Fantastik und nicht-Fantastik sprechen kann, sei dahin gestellt.

Das Spektrum von Beiträgen, die dem Band seinen Titel gaben, bis zu solchen, bei denen der Titel völlig irreführend ist, und den Aufsätzen, die dazwischen einzuordnen sind, korrespondiert auch mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen des Wissenstandes der Leser seitens der Beitragsautoren und -autorinnen. Mal nehmen Inhaltswiedergaben von Filmen, die ohnehin in aller Munde waren, mehr Platz ein, als die eigentliche Erarbeitungen einer Thematik, ein anderes Mal scheint ein enges Spezialgebiet überhaupt keiner weiteren Erläuterung zu bedürfen. Das schränkt die Leserschaft dieses Bandes sicherlich trotz der Behandlung eines akut populären Phänomens und brisanter Fragestellungen auf die geisteswissenschaftlichen Kreise ein, obwohl gerade bei solchen Veröffentlichungen die Möglichkeit gegeben wäre, einen reflektierteren Umgang mit den Medien „in den Massen“ zu fördern und aufzuzeigen, dass Wissenschaft sich auch um Sachen drehen darf, die – salopp gesagt – „Spaß machen“ und auch für naive Rezipienten zugänglich sind. Ein Wissenschaftler, der die Begeisterung der Beitragsautoren und –autorinnen für das Genre der Fantastik nicht teilt, wird sich wohl amüsieren, wenn es über die Kinderanimation „Shrek“ im wissenschaftlichen Schreibstil heißt, im Wohnraum des Helden gäbe es „installierte […] Merkmale des Schmutzes“, oder bei der Analyse von Ego-Shootern Platon und Epikur zitiert wird. Schließlich hätten diese skeptischen Wissenschaftler in gewisser Weise Recht damit, diese Produktionen als trivial einzustufen.

Die Herausgeber hatten es sich zur Aufgabe gemacht, mit dem Band die Vielfalt an Tendenzen in der aktuelle Fantastik-Forschung aufzuzeigen – das ist ihnen in jeder Hinsicht gelungen. Die thematische Eingrenzung auf die Behandlung von „Welten- und Raummodelle[n] der Fantastik“ ist in Anbetracht dieser Vielfalt sinnvoll, was allerdings als roter Faden hätte dienen können, entpuppt sich als roter Wollkneuel, dem es nicht gelingt, stringent von einem Beitrag zum nächsten zu leiten. Die Aufsätze sind in fünf Blöcke unterteilt, vier davon beinhalten Beiträge in deutscher Sprache und im letzten sind englischsprachige versammelt. Diese Untereinheiten sind wie der Band mit allumfassenden Titeln versehen, und lassen viel Raum zum Raten, inwiefern sich die so kategorisierten Arbeiten auf die Titel beziehen. Die einzelnen Beiträge wecken durchaus Interesse und den Wunsch, zur jeweiligen, darin behandelten Sparte weiterzurecherchieren, aus der zu bemängelnden Komposition entsteht aber für sie kein Mehrwert. Wenn man in dem Band einen informativen Streifzug durch die wissenschaftlich erschlossenen Welten und Räume der Fantastik erwartet, wird man sich höchstens mit einigen abgeschotteten Inseln begnügen müssen, die mal ein Kontinent aus Todorov & Co gebildet hatten.

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Pascal Klenke / Laura Muth / Claudia Seibel / Annette Simonis (Hg.): Writing worlds. Welten- und Raummodelle der Fantastik.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2014.
280 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783825363796

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