Mit Dilthey über Fluglärm philosophieren

Matthias Jungs „Wilhelm Dilthey zur Einführung“

Von Julian GärtnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Gärtner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Individuum est ineffabile – diese Sentenz stellt Wilhelm Dilthey (1833–1911) anspielungsreich seiner monumentalen Schleiermacher-Biografie vor. Sie machte ihn schon zu Lebzeiten weithin als genauen Kenner der abendländischen Geistesgeschichte bekannt. Ebendieser vermeintliche Klassiker-Status hemmt jedoch oftmals den Versuch, das diverse Themenspektrum Diltheys fassen zu wollen – Dilthey wird zu wenig zur Kenntnis genommen. Nach Hans-Ulrich Lessing 2011 setzt auch Matthias Jungs letztjährig in zweiter Auflage erschienener Junius-Band Wilhelm Dilthey zur Einführung hier an: „Es ist an der Zeit, Dilthey aus den Schubladen herauszuholen […] und sich mit ihm […] auf Augenhöhe der für uns aktuellen Fragestellungen auseinanderzusetzen.“

Nebst Vorwort und Anhang gliedern insgesamt fünf Kapitel sinnvoll die Einführung: Während sich die Frühphase mit der Metaphysik-Kritik, der Etablierung der Geisteswissenschaften und der inneren Erfahrung befasst, führt die mittlere Phase Natur, ästhetische Betrachtungen und Psychologie an, die sich in der Spätphase mit dem objektiven Geist und den Weltanschauungslehren verdichten. Die Kapitel orientieren sich zeitlich am Werk Diltheys und sind zugleich wichtige Meilensteine in der Entwicklung seiner Philosophie.

In der Einleitung akzentuiert Jung wichtige Punkte in Diltheys Werk. Jung spricht dort treffend von einer „doppelte[n] Abwehrhaltung“: Weder ist eine metaphysische Erklärung der Dinge an sich, noch eine naturwissenschaftliche Erklärung aus Perspektive der dritten Person hinreichend. Verstehen beginnt in einem Bereich reicherer Wirklichkeitserfahrung noch vor der Theoriebildung. Dilthey geht es laut Jung daher um eine „Kritik der historischen Vernunft“. Sie übt Kritik an geschichtlichen Erkenntnis- und Verstehensprozessen, indem sie das Moment ihrer Rekonstruktion mitvollzieht und als gänzlich geschichtlich durchschaubar macht. Jung verortet Diltheys Lebenswerk zwischen Hermeneutik, Historismus und Lebensphilosophie. Er behält dabei einen klaren Blick für die Kritikpunkte an Diltheys Philosophie. Ihr wird unter anderem historischer Relativismus oder mangelnde wissenschaftliche Fundierung vorgeworfen.

Folgt man Jung, dann ist die Frühphase Diltheys von der Auseinandersetzung mit Kant und Schleiermacher geprägt. Während die Philosophie gegenüber der Naturwissenschaft mehr und mehr an Grund verliert und sich immer feinmaschigere Wissensformen parzellieren, tritt Diltheys Philosophie aus der Binnenebene einer einzelnen Weltdeutung heraus und begreift alle Deutungen als gleichrangig: Geschichtliche Erfahrung vollzieht sich in inneren menschlichen Lebensprozessen. Das zeigt sich am prominentesten in der Einleitung in die Geisteswissenschaften, in der sich systematische Argumentation und historische Analyse auf bemerkenswerte Weise queren. Jung zeichnet deutlich nach, wie Diltheys Gedanken unter Einfluss großer Stellvertreter der historischen Wissenschaften gleichzeitig in Konflikt mit Theologie und Naturwissenschaften geraten. Das In-der-Welt-sein ist ursprünglich dreidimensional. Wille, Affekt und Erkennen sind hier die Stichworte. Mit den welthaltigen Bewusstseinstatsachen beschäftigen sich dann die Geisteswissenschaften.

Jung betont wiederholt, dass die Abgrenzung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften für Dilthey nur ein Notbehelf ist. Beide oszillieren zwischen methodischer Koexistenz und Tilgung von Differenzen. Jung nimmt sich auch kritischer Fragen an, wie der nach dem Status besagter Bewusstseinstatsachen: Sie sind durch die Perspektive der ersten Person, durch ein Innewerden zugänglich. In ihnen stehen alle Teile einerseits immer untereinander in Beziehung und konstituieren andererseits das Ganze des Seelenlebens. Hierin sieht Jung ein frühes hermeneutisches Motiv bei Dilthey. Zugleich aber sind Bewusstseinstatsachen von der äußeren Natur abhängig und machen Naturwissenschaften unentbehrlich – eine fruchtbare Einsicht auch in Bezug auf derzeitige Diskussionen zur Interdisziplinarität. Für Dilthey korreliert in geschichtlicher Abfolge, die Jung gut nachvollziehbar darlegt, der Niedergang der Metaphysik mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften. Erleben wird durch Abstraktion dem Kontext enthoben und ist somit immer eine Konstruktion des Verstandes. Die Geisteswissenschaften interessieren sich demgegenüber für die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit.

In der mittleren Phase rückt die Ästhetik in den Fokus Diltheys. Im Rahmen des erworbenen seelischen Zusammenhangs kann Erleben mittels Einbildungskraft vergegenwärtigt werden. Besonders poetische Werke werden dabei beachtet. Ihnen fällt es in Diltheys Poetik zu, das bewusste Erleben in Bildern auszudrücken. Sie machen sie verständlich und fühlbar. Mit Aristoteles Mimesis-Begriff im Hinterkopf erklärt Jung: „Dichtungen sind sprachliche Gestaltungsformen welt- und selbstbezüglicher Erlebnisse. Gegenstand der Dichtung ist […] der handelnde Mensch.“ Weitergehend seien Dichter nach Dilthey Virtuosen des affektiven Betroffenseins. Sie lassen Bildelemente fallen, ergänzen und steigern sie zu sogenannten Lebensmetaphern. Für Dilthey ist die Einbildungskraft von psychischen Vermögen des Willens, Fühlens und Erkennens geprägt: „Beispielsweise wird derjenige, der lange Zeit unter der Einflugschneise eines Flughafens gewohnt hat, den Lärm eines startenden Jets vermutlich mit geringerer Aufmerksamkeit bedenken als sein gerade erst eingezogener Nachbar.“ Jungs Beispiele – hier für das kognitive Bildungsvermögen – sind nicht so trivial, wie sie daherkommen. Immer wieder gelingt es ihm anschaulich zugleich Diltheys Gedanken zu entwirren und zu aktualisieren. Mit Dilthey lässt sich eben auch sinnvoll über Fluglärm sprechen.

Jung argumentiert, dass Diltheys Philosophie in dieser Phase pragmatisch-biologisch wird. Sie sieht die gegenseitige Anpassung von Mensch und Umwelt in einer Schleife: Die soziale und physische Umgebung gibt durch Eindrücke und Bilder Impulse in ein Triebsystem ab. Emotion, Kognition und Volition wandeln sich wiederum zu Handlungen um. Das einzelne Ich erfährt dann Selbigkeit – Diltheys Begriff für veränderliche, nicht formal-identische Selbsterfahrung. Laut Jung ziele die psychologische Grundlegung der Geisteswissenschaften darauf ab, die innere Kontinuität von Erlebnis und Ausdruck und den Anschluss der Perspektive der ersten Person zu sichern.  Bewusstseinsphänomene stehen auch neurobiologischen Ansätzen gegenüber offen. Man kennt sie von Stefan Nagel oder Gerhard Lauer.

Jung stellt in Diltheys Spätphase dessen Beschäftigung mit Husserl und Hegel dar. In Die Entstehung der Hermeneutik ist Individualität eine intersubjektive Kategorie. Sie zeigt sich vermittels sprachlich fixierter Lebensäußerungen – auch bei Dilthey bevorzugter Gegenstand der Hermeneutik. Damit geht auch ein gewisser Autoritätsverlust des Autors einher. Nicht mehr nur das Gemeinte, sondern viel stärker das im Text Gesagte tritt in den Vordergrund des Verstehens. In Anlehnung an Hegel übernimmt Dilthey den Geist als zentralen Begriff. Anders jedoch ist, dass der Geist sich in sinnhaft-strukturierten Objektivationen aus dem Lebensprozess ergibt. Metaphysische Komplikationen versucht Dilthey zu umgehen, indem er den Geist immer als Ausdruck geschichtlich-sozialer Lebensprozesse versteht. Er ist also nicht individualistisch oder vom Subjekt abgelöst, sondern in Kontext und Kontinuität menschlicher Lebensprozesse eingebettet. Jung bemüht immer wieder ein Repertoire von Substantivierungen und Bindestrich-Komposita. Das kann man sperrig oder prägnant finden, hier am Beispiel des Historismus: „Dilthey verabschiedet sich vom teleologisch-metaphysischen Geschichtsdenken des deutschen Idealismus.“

Im Spätwerk begibt sich Dilthey noch einmal in den Sinnzusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen. Jung führt aus, dass für Dilthey die Autobiographie eine Ausdrucksgestalt sei, auf die deren Autor im Nachhinein keinen privilegierten Anspruch habe. Vielmehr eröffnen Gedanken, Handlungen und Erlebnisausdrücke eine bestehende Abfolge von Sinnmomenten, die in der Interpretation erlebbar werden. Damit wird aber nicht etwa, so erläutert Jung, der Lebenszusammenhang des Dichters nacherlebt. Für Dilthey ist beispielsweise das individuelle Leben des Dichters in den Zusammenhang des objektiven Geistes ergossen, sodass der Verstehensprozess einer Selbstbesinnung gleichkommt. Jung erörtert, dass es darum auch bei Diltheys metatheoretischer Beschäftigung mit den Weltanschauungen gehe: Den universalen Geltungsansprüchen subjektunabhängiger Wirklichkeiten steht ein lebensweltlicher Pluralismus gegenüber. Aus der Lebenswelt selbst gehen Weltanschauungen geschichtlich variierend hervor.

Auch indem Jung Diltheys Wirkungsgeschichte skizziert, zeigt sich letzthin seine Gewandtheit. Sein Blick umfasst nicht nur kompakt und gut verständlich das Œuvre Diltheys, sondern reicht weit darüber hinaus. Man hat es bei dessen Wirkung mit einer paradoxen Situation zu tun: Es gibt bereits bei Heidegger, Adorno und Gadamer – um nur einige Autoren zu nennen – klare und teils sehr kritische Bezugnahmen auf Diltheys Philosophie. Auch die systematische Erarbeitung und Herausgabe der gesammelten Schriften hat großen Anteil an ihrer weltweiten Popularität. Jung bleibt dennoch unzufrieden, denn er meint womöglich etwas anderes: Aktuelle Diskussion nehmen Dilthey zu wenig zur Kenntnis und fallen oft hinter vergessen geglaubte Positionen zurück. Die vorliegende Einführung soll daher Dilthey als systematischen Denker wiederentdecken und einen Beitrag zu aktuellen Forschungen leisten – zwei Ansprüche, die ein Einführungsband nur teilweise erfüllen kann. Jung veranschaulicht gut, wie Diltheys Denken reduktionistische Positionen unterläuft und erschließt mögliche Anknüpfungspunkte. Notwendigerweise bleiben Hinweise auf Alltagswelt, Lebensphilosophie, Interdisziplinarität oder Naturalismusdebatte aber inkomplett. Diese feine Einführung zieht erste wichtige Schneisen für die weitere voraussetzungsreiche Beschäftigung mit Diltheys Philosophie.

Titelbild

Matthias Jung: Wilhelm Dilthey. Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2014.
208 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783885060888

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch