Gralshüter des Sozialismus

Vor 100 Jahren wurde der Schriftsteller Stephan Hermlin geboren

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

„Es ist interessant, dass es der kulturelle Bereich war, der Dinge hervorgebracht und in die Öffentlichkeit gestellt hat, die Vorstufen waren zu der großen politischen Bewegung“, resümierte Stephan Hermlin nach dem Mauerfall im Dezember 1989 in einem Interview in seiner ihm eigenen Mischung aus Tatsachenverdrehung und naiver Selbsttäuschung.

Hermlin, der sich auch nach der „Wende“ immer noch vehement für einen „erneuerten Sozialismus“ engagiert hatte, galt über Jahrzehnte hinweg als graue Eminenz der DDR-Kultur. Aus dem gemeinsamen antifaschistischen Widerstand verband ihn eine enge Freundschaft mit Erich Honecker. „Ich hatte zwar keine Macht, aber ich hatte Einfluss auf ihn“, beschrieb Hermlin einmal rückblickend sein Verhältnis zum langjährigen DDR-Staatsoberhaupt.

Allerdings hat Hermlins Ruf als politisch integrer Autor kurz vor seinem Tod erheblichen Schaden genommen. Der Frankfurter Publizist Karl Corino hatte in seinem Band „Außen Marmor, innen Gips“ einige Ungereimtheiten in Hermlins Biographie entlarvt. Danach soll der Autor weder am spanischen Bürgerkrieg teilgenommen haben noch in einem KZ inhaftiert gewesen sein.

Stephan Hermlin, der am 13. April 1915 als Sohn wohlhabender Eltern unter dem bürgerlichen Namen Rudolf Leder in Chemnitz geboren wurde, trat zum Leidwesen seines großbürgerlichen Elternhauses  bereits als 16-Jähriger in die Kommunistische Partei ein. Gerade 30-jährig erschien in Zürich sein literarischer Erstling „12 Balladen von den großen Städten“. Hermlins Frühwerk war geprägt von der Zerrissenheit seines Lebenswegs, es erinnert gleichermaßen an die großen bürgerlichen Poeten Rilke und Benn wie an die kommunistischen Autoren Brecht und Aragon.

Einige Monate nach dem missglückten Hitler-Attentat schrieb er die immer noch lesenswerte Novelle „Der Leutnant Yorck von Wartenberg“. Darin thematisiert Hermlin seine Vision von der Selbstbefreiung der Deutschen vom Faschismus. Als er 1947 – nach zweijähriger Zwischenstation als Rundfunkjournalist in Frankfurt am Main – in die damalige SBZ übersiedelte, wuchsen in seinem Werk zusehends die Einflüsse von Brecht und dem späteren Kulturminister Johannes R. Becher. Trotzdem beharrte Hermlin – im krassen Widerspruch zu den SED-Leitlinien – auf der Selbstcharakterisierung als „spätbürgerlicher Autor“.

Im Gegensatz zu seiner ideologischen Anpassung an das kommunistische Regime steht sein Eintreten für die in der DDR verpönten „Klassiker der Moderne“, für Joyce, Proust, Kafka und Beckett. Verdient gemacht hat sich Hermlin auch als Übersetzer und Herausgeber der surrealistischen französischen Lyrik. Damit wurde er zum literarischen Ziehvater einer außergewöhnlichen Lyrikergeneration, deren herausragende Vertreter wie Sarah Kirsch, Rainer Kunze, Günter Kunert und Bernd Jentzsch der DDR alsbald den Rücken kehrten.

Jüngeren DDR-Poeten gegenüber zeigte er sich abweisend, beschimpfte die staatlich schikanierten Ulrich Schacht und Frank Wolf Matthies als „Ausreiser mit Sack und Pack und schönen Papieren“, und Thomas Rosenlöcher und Bert Papenfuß-Gorek stempelte er als „Dilettanten“ und deren Werke als „dekadentes Geschwafel“ ab.

Nur einmal ist Stephan Hermlin gegen den staatskonformen Strom geschwommen. Als Wolf Biermann 1976 ausgebürgert wurde, gehörte er zu den Initiatoren der Protestpetition. Dies geschah wohl nicht primär aus politischer Überzeugung, sondern aus verletzter Eitelkeit, denn Hermlin hatte den Liedermacher und Lyriker 1962 entdeckt.

Stephan Hermlin, der unzählige Novellen, Erzählungen, Gedichtbände, Essays und Aufsätze veröffentlicht hat, verteidigte noch in der Wendezeit seine Stalin-Hymnen: „Man konnte nicht für die Sowjet-Union sein, ohne für Stalin zu sein.“ Politische Lehren – dies bewies sein letzter Band „In den Kämpfen dieser Zeit“ (1995) – aus der Geschichte hat er nicht gezogen und sich bis zuletzt als einer der letzten intellektuellen Gralshüter des Sozialismus behauptet. Am 6. April 1997 ist Stephan Hermlin im Alter von 81 Jahren im Kreis seiner Familie in Berlin-Hohenschönhausen gestorben.