Das Verborgene unter der Eisbergspitze erspüren

Der Tagungsband „Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989“ gibt neue Impulse in der wissenschaftlichen Forschung zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit

Von Sonja KerstenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sonja Kersten

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die DDR? Ein Unrechtsstaat. Ein diktatorisches Land, das seine Bürger in ihren Menschenrechten beschnitt, sie unterdrückte, mittels scharfer Verbote und Sanktionen, kruder Machenschaften der Staatssicherheit und totalitärer Willkürlichkeit beherrschte: Den öffentlichen, professionellen Diskurs zur DDR-Vergangenheit prägen klare Worte. Und doch bilden diese offiziellen Erinnerungen, so beschreibt es Sozialwissenschaftler Thomas Ahbe in seinem Beitrag im vorliegenden Tagungsband bildhaft, nur die Spitze eines Eisbergs in der gesamten ostdeutschen Erinnerung: Neben den Narrativen des professionellen Diskurses beziehungsweise – mit den Worten des Historikers Martin Sabrow gesprochen – des staatlich privilegierten Diktaturgedächtnisses existiere im Sinne der Eisberg-Metapher unter der Wasseroberfläche ein immenser Laiendiskurs, der in sich andere Narrative eine: Erinnerungen und Erzählungen nämlich, die sich nicht ohne Weiteres mit der offiziellen Identitätserzählung der Bundesrepublik in Einklang bringen lassen, die aufgrund ihrer Ambivalenz nicht wahrgenommen werden, „weil sie die Narrative des Diktaturgedächtnisses nicht nur ergänzen und differenzieren, sondern auch dementieren“. Dabei nehme dieses laienhafte Arrangementgedächtnis (Sabrow) den weit größeren Teil in der ostdeutschen Erinnerung an die DDR und damit im kollektiven Gedächtnis des Landes ein. Ahbes soziologisch-diskursanalytische Studie zum gegenwärtigen Identitätsgefühl ehemaliger DDR-Bürger bezeugt dies eindrücklich, zeigt sie doch auch, dass sich die gemeinhin etablierte Ansicht, Differenzgefühle zwischen Ost und West seien in der bundesdeutschen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts überwunden, auch mehr dem öffentlichen Diskurs als der Gefühlslage vieler Ostdeutscher entspricht.

Mit dem Bild des Eisberges liefert Ahbe schließlich eine Metapher, die in gewisser Hinsicht dem Gesamtkonzept des vorliegenden Sammelbandes „Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989“ zugrunde gelegt werden kann. Denn einleitend heißt es auch bei den Herausgeberinnen Elisa Goudin-Steinmann und Carola Hähnel-Mesnard: „[D]er Diskurs der ehemaligen DDR-Bürger über die eigene Identität [gehorcht] anderen Regeln […] als der ‚offizielle‘ Diskurs über die Einheit und über die Zeit der deutschen Teilung“. Noch immer seien Ostdeutsche bemüht, diesem eine andere, ihre Geschichte entgegenzustellen. Facetten dieser „Gegenstimmen“ aufzuspüren, unter die Wasseroberfläche zu blicken, ist ein Hauptanliegen des Bandes, der aus der im Herbst 2011 an der Pariser Universität Sorbonne veranstalteten, transdisziplinären Tagung „Narrative kultureller Identität – Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989“ hervorging. Aus geschichts-, sozial-, kultur- und literaturwissenschaftlicher Perspektive gehen die insgesamt 19 Beiträger des Bandes vor allem folgenden Fragen nach: Was kennzeichnet das kollektive Gedächtnis der Ostdeutschen zwanzig Jahre nach dem Mauerfall? Auf welche Weise und mit welchen narrativen Strategien werden die individuellen und kollektiven Erfahrungen in den Geschichten über die ehemalige DDR verarbeitet? Inwiefern markieren diese Erzählungen eine kritische Distanz zum öffentlichen Diskurs über den Stand der Einheit, zur „offiziell verordneten Gegenwartsdeutung“? Und schließlich: Welche Bedeutung kommt den Erinnerungen in der Identitätskonstitution zu? Gibt es eine spezifisch ostdeutsche Erinnerungskultur?

Der Sammelband gliedert sich (entsprechend der wissenschaftlichen Disziplinen) in drei Teile: Einen ersten Komplex bilden Untersuchungen aus soziologischer und geschichtspolitischer Perspektive. Studien zu Erinnerungsdiskursen in der bildenden Kunst, in Musik und Film bilden den zweiten Themenkomplex. Der Schwerpunkt des Bandes liegt jedoch auf dem dritten Teil, der sich der Erzählliteratur widmet und sich von literaturwissenschaftlicher Warte aus den genannten Fragen annimmt. Denn gerade in der Literatur sehen die Herausgeberinnen „de[n] Ort, an dem zum dominanten Diskurs gegenläufige Erfahrungen und Erinnerungen vermittelt werden“.

Auf diese Weise entsteht aufgrund der verschiedenen Blickwinkel und Themenbereiche ein überaus spannender, vielseitiger Sammelband zum „Wende“-Diskurs seit 1989, der aber deutliche Schwerpunkte im 21. Jahrhundert setzt und daher nicht nur reizvoll zu lesen ist, sondern vor allem auch neue Impulse für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit, der „Wende“ und ihren Folgen geben kann.

Während Ahbe sich im Rahmen des ersten Themenfeldes in seinem Beitrag „Die ostdeutsche Erinnerung als Eisberg“ noch deutlich auf gesellschaftliche Befindlichkeiten konzentriert, rückt im Gegensatz dazu Anna Ransiek in ihrer Studie „Anders-Sein in der DDR“ das Einzelschicksal einer in der DDR sozialisierten Afro-Deutschen in den Fokus und zeigt mittels der Analyse eines lebensgeschichtlichen Interviews als Fallbeispiel, dass der antifaschistische und damit auch antirassistische Diskurs der DDR zu einer Negierung von selbst erfahrenem Rassismus sowohl in der Zeit vor 1989 als auch in der Gegenwart des wiedervereinten Deutschlands führte.

Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive beschäftigt sich Susan Baumgartl in ihrem Beitrag „Der ‚eigene‘ Aufbruch oder Freiheit ohne Einheit?“ mit den Unterschieden in der Erinnerung an die Leipziger Montagsdemonstrationen im Herbst 1989. Während vor allem der 9. Oktober 1989 in der öffentlichen Geschichtspolitik zum Schlüsseldatum der Friedlichen Revolution und Leipzig zum zentralen Erinnerungsort stilisiert wird, der an den „Bürgermut und die Handlungsmacht der ‚einfachen Leute‘“ erinnern soll, sind die subjektiven Erinnerungen der Leipziger sehr viel ambivalenter, verbinden sie doch auch Verunsicherung, Desorientierung sowie das Gewaltmoment der öffentlichen Auseinandersetzungen mit diesem Ereignis. Im öffentlichen Gedenken allerdings finden sich diese Erinnerungsfacetten kaum wieder. Die im gesamtdeutschen kollektiven Gedächtnis verankerte Erzählung vom „Gleichstellungsvorsprung“ ostdeutscher Frauen, die besagt, dass die selbstverständliche Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit als historische Schlüsselerfahrung der Frauen in der DDR gilt, unterzieht Ramona Katrin Buchholz in ihrem Aufsatz „Vergessen durch Erinnern“ einer kritischen Analyse. Anhand der seit 1989 erschienenen Interviewliteratur zeigt sie auf, dass die tatsächliche Erfahrungswelt vieler ostdeutscher Frauen mit diesem öffentlichen Bild nur bedingt vereinbar und durch sehr viel heterogenere Sichtweisen gekennzeichnet ist. Medienanalytisch hinterfragt Dominique Herbet in ihrem Beitrag zum „DDR-Erinnerungsdiskurs in der Monatszeitschrift RotFuchs (1998-2011)“ die Erinnerungspraktiken des linksradikalen Publikationsorgans und legt offen, dass sich das Blatt der antidemokratischen Rhetorik der einstigen SED-Presse bedient und mit seiner Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen in der Bundesrepublik auf einen geschichtsrevisionistischen Erinnerungsdiskurs abzielt, eine reaktionäre Anschauung verbreitet und mit propagandistischen Mitteln eine ostdeutsche Identität zu konstruieren versucht.

Den zweiten Themenkomplex des Bandes einleitend stellt Sigrid Hofer in ihrer kunstwissenschaftlichen Untersuchung der „Kontinuitäten in der ästhetischen Praxis und ihre Bedeutung für das Künstlerverständnis nach 1989“ am Beispiel nonkonformer Künstler, die zu DDR-Zeiten die staatsferne Kunst des Informel praktizierten, heraus, dass ein Festhalten an dieser Kunstrichtung auch nach dem Mauerfall für ihr persönliches künstlerisches Selbstverständnis konstitutiv blieb und so auch für die Rezipienten ihrer Malerei weiterhin Identifizierungsmöglichkeiten im Sinne eines „sozialen Gedächtnisses“ (Aleida Assmann) bot. Anders als in vielen anderen Bereichen des kulturellen Lebens habe „[d]ie politische Wende von 1989/90 […] weder Produktionsbedingungen eliminiert noch einen Freiraum eröffnet, der direkte ästhetische Auswirkungen zu verzeichnen hätte“. Mit Blick auf die bildende Kunst müsse daher die Bedeutung des Mauerfalls prinzipiell relativiert werden. Einen Beitrag zu einem in der Musikwissenschaft noch immer bestehenden Desiderat leistet Theresa Beyer mit ihrer Analyse zu „Erinnerung und Vergegenwärtigung nach 1989 im Werk von DDR-Liedermachern“, indem sie das künstlerische Fortbestehen von Musikern wie Barbara Thalheim, Hans-Eckhardt Wenzel, Gerhard Schöne und dem Duo Sonnenschirm richtet und aufzeigt, wie die Liedermacher ihr früheres Liederrepertoire in Text, Musik und Performance für das heutige Publikum aktualisieren, DDR-spezifische Narrative in ihre Kunst integrieren und im Sinne eines „mehrdimensionale[n] Träger[s] von Erinnerung“ auch generationsspezifische Prägungen artikulieren.

Warum es im Bereich des Films nach 1989 zu keinem Äquivalent zum deutsch-deutschen Literaturstreit kam, ist Gegenstand des Essays „Deutungshoheit. Der DEFA-Film im Diskurs (1990-2010)“ von Matteo Galli. Am Beispiel von Volker Schlöndorffs polemischer Äußerung zur DEFA-Filmproduktion (2008) und Andreas Dresens Reaktion (2009) unter Rückbezug auf Florian Henckel von Donnersmarcks „Das Leben der Anderen“ (2006) führt Galli vor Augen, inwiefern gegenwärtig gerade jüngere ostdeutsche Regisseure auf filmischer Ebene die Deutungshoheit über das Thema DDR für sich einklagen und insofern an eine Kontroverse anknüpfen, die im Bereich der Literatur bereits in den 1990er-Jahren heftig geführt wurde und mittlerweile weitestgehend zum Erliegen gekommen ist. Damit schlägt Gallis in gewisser Weise die Brücke zum dritten und umfangreichsten Teil des Sammelbandes, in dessen Beiträgen einerseits die Frage ostdeutscher Identitäten, andererseits die verschiedenen Formen des literarischen Erinnerungsdiskurses seit 1989 im Mittelpunkt stehen.

Regine Criser zeigt in ihrer Abhandlung „Zwischen Anpassung und Instrumentalisierung“ am Beispiel von Romanen Jens Sparschuhs, Brigitte Burmeisters und Annett Gröschners, inwiefern sich die Protagonisten mit dem durch Klischees und Stereotype geprägten Diskurs über die Ostdeutschen auseinandersetzen und dabei in der Interaktion mit westdeutschen Figuren „hybride Lebensnarrative“ (200) entwerfen. Um das Motiv des Doppelgängers in Klaus Schlesingers Roman „Trug“ (2000) geht es in Daniel Argelès Aufsatz „Der Andere im Spiegel“, indem er darlegt, inwiefern der geschilderte Identitätstausch zwischen einem Düsseldorfer und einem Ostberliner zur Reflexions- und Spiegelfläche der Identitätsprobleme in der Nachwendezeit wird. Anne-Marie Pailhès spürt in ihrem Beitrag „Regionale Identität in der DDR: Heinz Czechowski und Sachsen“ die enge Verbindung von sächsischer Regional- und nostalgischer DDR-Identität im Leben und Schreiben des Dichters auf. Anhand der Autobiographie „Die Pole der Erinnerung“ (2006) des nur drei Jahre später verstorbenen Autors zeigt sie, wie sich seine Sehnsucht nach Sachsen zu einer Sehnsucht nach der DDR als Heimat transformierte und schließlich dazu führte, dass sich bei ihm „die DDR-Identität über eine regionale Identität geschoben [hatte]“. Dem autobiographischen Erzählwerk „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ nimmt sich Katja Schubert in ihrer Studie „‚Are you sure this country does exist?‘“ an. Indem sie die narrative Strategie des Blickwechsels im Kontext des Rückblickens auf die Vergangenheit untersucht und im analytischen Vergleich mit Wolfs Text „Blickwechsel“ (1970) verdeutlicht, inwiefern ein Nachdenken über Auschwitz und ein „Sprechen über vierzig Jahre leben und arbeiten in der DDR“ in Wolfs „Stadt der Engel“ ineinandergreifen, legt Schubert gleichfalls Wolfs Unvermögen offen, eine „neue Sprache“ für die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und deren Verstrickung mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu finden.

Im Gegensatz zu Wolfs weitreichender Darstellung der deutschen Geschichte seit der Weimarer Republik entfaltet Thomas Brussig in seinem vielgelobten Roman „Wie es leuchtet“ (2004) ein gesellschaftliches Panorama auf synchronischer Ebene, indem zahlreiche Stimmen aus Ost und West darin zu Wort und dadurch vielfältige Befindlichkeiten zum Ausdruck kommen. Maike Van Liefde analysiert in ihrem Aufsatz „Furor Melancholicus – Furor Satiricus“ deshalb das Prinzip der Dialogizität in Brussigs Roman, das die Darstellung der Vielschichtigkeit und Varianz von Erinnerungen (an die DDR) in besonderem Maße ermöglicht. Von differenzierten Erinnerungen handelt auch Reinhard Jirgls Roman „Abschied von den Feinden“ (1995), den Johanna Vollmeyer in ihrem Beitrag „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ mit Blick auf die Gewaltdarstellung und das Motiv der verfeindeten Brüder als Ausdruck der Erinnerungskonkurrenz untersucht. Asako Miyasaki untersucht die „DDR-Erinnerung anhand des Topos Sibirien im Zwischenraum der Geschichtsdiskurse“ am Beispiel von Lutz Seilers Erzählung „Turksib“ (2008) und führt in diesem Zusammenhang den Begriff der „halbbewussten Erinnerungserzählung“ ein, mit dem die Unmöglichkeit des Erzählers, die eigenen Erinnerungen zu bewältigen und seine Erzählung zu beherrschen, terminologisch greifbar gemacht werden soll. Den abschließenden Beitrag liefert Paweł Wałowski mit einer Studie zum narratologischen Muster der Flucht in die DDR in der deutschen Gegenwartsliteratur. Unter dem Titel „‘Weg von der Bundesrepublik in den Osten‘ als verkehrte Grenzüberschreitung“ zeigt er, dass dieses umgekehrte Fluchtmotiv bei den Figuren zu einem Nachdenken über die DDR vor der Folie der bundesrepublikanischen Verhältnisse führt.

Neben der interdisziplinären Ausrichtung des Sammelbandes ist als ein weiteres positives Anliegen hervorzuheben, dass er einen möglichst breit aufgestellten Untersuchungsgegenstand, das heißt ein Analysespektrum zum Ziel hat, das möglichst viele verschiedene Alterskohorten und soziale Gemeinschaften berücksichtigt, schließlich greifen – so die Herausgeberinnen – die „unterschiedlichen Generationen und Gruppen jeweils auf andere narrative Strategien zurück […], um ihre eigene Erfahrung als Teil einer kollektiven Erfahrung zu vermitteln“.

Dies ist insofern lobenswert, als es eine Öffnung oder Weitung des Untersuchungsfeldes bedeutet, die den Blick auch auf Jüngere zu richten erlaubt (ja es sogar einfordert!), sind sie es doch letztlich, die mit Blick auf die Zukunft eine ostdeutsche kulturelle Identität aufrecht erhalten (können). Ihre Wichtigkeit und Bedeutsamkeit im gegenwärtigen literarischen Feld beziehungsweise in der (ost)deutschen Erinnerungskultur allgemein ist daher alles andere als unerheblich. Die Herausgeberinnen nennen diese jüngeren Alterskohorten die „Wende- und Nachwendekinder“ und rekurrieren dabei auf die sich erst vor wenigen Jahren zusammengeschlossene Initiative „3te Generation Ost“[1], die entgegen früherer Tendenzen (man denke etwa an die Zonenkinder-Debatte und das daran anknüpfende Florieren nicht immer wohlwollender Generationszuschreibungen) entschieden ein gemeinschaftsstiftendes Zusammengehörigkeitsgefühl für sich proklamieren, indem sie, die als Kinder und Jugendliche in beiden deutschen Systemen aufwuchsen, ihre einzigartigen Erfahrungen und Kompetenzen – etwa Integrationsleistung, Pragmatismus, Engagement und Wandelerfahrung – als produktive Vorzüge herausstellen, mit denen sie in besonderer Weise den Erinnerungsdiskurs zur DDR-Vergangenheit und deutsch-deutschen Geschichte prägen können.

Welche Bedeutung diesen jüngeren Altersgruppen im Kontext des deutschen Vergangenheitsdiskurses zukommt, führt in besonderem Maße Hanna Haags soziologische Studie aus dem ersten Themenkomplex des Sammelbandes vor Augen. Haag untersucht das Verhältnis der „Nachwendekinder“ zur deutsch-deutschen und speziell zur DDR-Vergangenheit. Dies erweist sich als ein besonders lohnenswertes und interessantes Vorhaben und eröffnet neue wissenschaftliche Perspektiven und Anschlussmöglichkeiten für viele Disziplinen, da diese nach 1989/90 geborenen Kinder – wie sie schreibt – über keinerlei eigene Erfahrungen und Erinnerungen aus der Zeit der deutschen Zweistaatlichkeit verfügen. Da sie „in die Zeit des Umbruchs hineingewachsen“ sind, besteht für sie zwar ein lebensgeschichtlicher Bezug zur DDR-Vergangenheit, doch können sie diesen nicht mit ihren eigenen Erfahrungen und Erinnerungen füllen. Ihr Wissen setzt sich daher zusammen aus den Erzählungen innerhalb der Familie einerseits und den öffentlich, medial und schulisch vermittelten Vergangenheitsbildern andererseits. Zwischen beiden Polen oszilliert das Wissen der „Nachwendekinder“. Auf diese Weise bilden sie – so lässt sich Haags These zusammenzufassen –  ihre ganz eigene Identität: die Identität der Nachwendegeneration. Indem sie sich mit den elterlichen Lebenserfahrungen und Erinnerungen (teilweise) identifizieren, die für sie fremde DDR-Geschichte dadurch neu interpretieren, interpretieren sie gleichermaßen auch DDR-spezifische Werte und Deutungsmuster neu, die ihnen als Identifikationsangebot dienen (Haag spricht hier von Prozessen der Reidentifikation und Reinterpretation). Dies wiederum, so ließe sich folgern, kodiert bisherige (in der Gesellschaft) vorherrschende Bilder der DDR gerade in der jüngeren Bevölkerung neu und bringt – als logische Konsequenz – eine Etablierung neuer Sichtweisen auf die deutsch-deutsche Vergangenheit im voranschreitenden 21. Jahrhundert mit sich.

Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive wird dem Anspruch, auch Narrative jüngerer Alterskohorten in den Blick zu nehmen, in besonderem Maße Bernd Blaschke gerecht, in dem er sich in seiner anregenden Untersuchung auf Emotionen in der Erinnerungsliteratur ostdeutscher Autorinnen und Autoren konzentriert, die in den 1960er- und 1970er-Jahren geboren wurden und damit – mit den Worten der Herausgeberinnen – als „Wendekinder“ zu bezeichnen sind. Namentlich: Jana Hensels „Zonenkinder“, Claudia Ruschs „Meine freie deutsche Jugend“, Jens Biskys „Geboren am 13. August“, Maxim Leos „Haltet euer Herz bereit“ und Daniel Wiechmanns „Immer bereit!“. Damit rückt Blaschke nicht nur ein bislang nur torsohaft wissenschaftlich erschlossenes Textkorpus ins Zentrum des Interesses, sondern wählt mit seinem analytischen Instrumentarium aus der Emotionsforschung zugleich einen innovativen Zugang. Ihm liegt an der Offenlegung der vielfältigen „Palette an Emotionen“, die gerade den Erinnerungsbüchern jüngerer Autorinnen und Autoren einbegriffen ist. Dies auf zweierlei Ebenen: zum einen hinsichtlich der Emotionen, die von den Erzählinstanzen erinnert werden (Emotionserinnerungen), und zum anderen mit Blick auf die Emotionen, die durch die Erinnerungsprozesse ausgelöst werden (Emotionssemantiken). Blaschke gelingt es auf diese Weise, einen Emotionsreichtum innerhalb der DDR-Erinnerungsliteratur aufzuzeigen, der die gemeinhin vorherrschende Annahme, Trauer, Ostalgie und Sehnsucht seien die dominierenden (artikulierten) Gefühle, falsifiziert und dementiert: Auch Wut und Ärger, Ekel und Abscheu, Scham, Stolz, Angst, Freude, Glück und Neid stellt er als markante Emotionen heraus. Seine Beobachtungen führen zu zuweilen interessanten Wendungen und Neubewertungsmöglichkeiten in der Betrachtung einzelner Werke. So mag es doch beispielsweise verwundern, dass seiner Studie zufolge gerade Claudia Ruschs „Meine freie deutsche Jugend“ am deutlichsten durch Szenen des Jubels und der Euphorie, und damit durch das Gefühl der Freude und des Glücks gekennzeichnet ist, obschon in der memorierten oppositionellen DDR-Kindheit die permanente Bedrohung durch den Staat eine so große Rolle einnimmt. Nicht weniger erstaunt es, dass hingegen gerade Jana Hensels Debüt „Zonenkinder“, das sich doch stets am resolutesten gegen den Vorwurf der rückwirkenden Verklärung und Ostalgie behaupten muss(te), starke Neidgefühle verbalisiert.

Durch ihren generationellen Vergleich des Schriftstellers Christoph Hein mit seinem Sohn Jakob Hein richtet auch Hélène Yèche in ihrem Beitrag „Über die narrative Konstruktion von Identität. Zwischen Noch-DDR-Literatur und Ost-Moderne“ den Blick auf das Potenzial jüngerer Autorinnen und Autoren. Dabei diagnostiziert Yèche für sie – am Beispiel Jakob Heins (Jahrgang 1971) – eine Neuorientierung im Betrachten, Aufarbeiten und Schreiben der DDR-Vergangenheit, die keinem „Wahrheitsgehalt“ oder „moralischen Anspruch“, keinen „nicht geheilte[n] Wunden“ (273) gerecht werden muss. Damit benennt Yèche eine Tendenz in der (ost)deutschen Erinnerungskultur, die sich – um abschließend ein letztes Mal Ahbes Eisberg-Metapher zu bemühen – als eine neue Facette in den Erinnerungsdiskursen „unter der Wasseroberfläche“ seit dem beginnenden 21. Jahrhundert zu formieren beginnt und wohl in Zukunft mehr und mehr an Bedeutung gewinnen dürfte.

Die Gesamtschau der Beiträge spiegelt in ihrer disziplinären wie thematischen Vielfalt gelungen den Facettenreichtum der Erfahrungen, Aspekte und Sichtweisen, die die „Ostdeutsche[n] Erinnerungsdiskurse nach 1989“ beleben. Dies macht Steinmanns und Hähnel-Mesnards Tagungsband zu einem wichtigen Beitrag in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der deutschen Erinnerungskultur insgesamt.

Titelbild

Elisa Goudin-Steinmann / Carola Hähnel-Mesnard (Hg.): Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989. Narrative kultureller Identität.
Frank & Timme Verlag, Berlin 2013.
364 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783865964267

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