Im Haus der Enttäuschungen

Der israelische Autor Amos Oz wirft im Roman „Judas“ einen neuen Blick auf die Geschichte des Verräters

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie sähe die Welt aus, wenn … Es ist eines der Kerngeschäfte der Literatur, Fakten, Ideen und Mythen gegen den Strich zu lesen und neu zu interpretieren. Was also wäre geschehen, wenn die Juden vor 2000 Jahren jenen nazarenischen Wanderprediger namens Jesus als einen der ihren akzeptiert hätten? „Die Kirche wäre nicht entstanden. Und vielleicht hätte ganz Europa eine nachgiebige und geläuterte Version des Judentums übernommen. So wären uns die Diaspora, die Verfolgungen, die Pogrome, die Inquisition, die Ritualmordbeschuldigungen, die Judenfeindlichkeit und auch die Schoah erspart geblieben.“ Die Geschichte hätte einen ganz anderen Verlauf genommen – einen besseren?

Darüber denkt der Theologie-Student Schmuel Asch nach, der Protagonist in Amos Oz‘ neuem Roman Judas. Die historische Weichenstellung hätte sich demnach im Garten Gethsemane vollzogen, und als ihr Urheber dürfte ausgerechnet der „Verräter“ Judas gelten. Ihm wäre das Christentum zu verdanken. Was uns Amos Oz erzählt, ist weit mehr als ein spitzfindiges Gedankenspiel, seine Lesart der Judas-Geschichte demonstriert, wie groß die Wirkungen von kleinen Ursachen sein können. Hätte Judas nicht Jesus beschworen, den Tod am Kreuz auf sich zu nehmen, dieser wäre ein beliebiger Prophet unter vielen geblieben.

Das alles geht Schmuel Asch durch den Kopf, als er im Winter 1959 an der Jerusalemer Rav-Albas Gasse den Dienst in einem düsteren Haus antritt. Eine Suchanzeige am Schwarzen Brett an der Universität hat ihm den Weg dahin gewiesen. Gegen Logis und ein kleines Entgelt soll er einem körperbehinderten alten Mann als Diskussionspartner dienen.

Der schüchterne junge Mann steckt in einer Lebenskrise. Über die väterliche Firma ist der Konkurs verhängt worden, und seine Freundin hat ihn verlassen, um ihren Ex-Freund zu heiraten. Schmuel ist bereit, alle Brücken einzureißen und seine theologische Magisterarbeit über „Jesus in den Augen der Juden“ abzubrechen. In den nächsten Monaten werden sich seine sozialen Kontakte auf den scharfzüngigen Gerschom Wald und seine attraktive Schwiegertochter Atalja Abrabanel beschränken. Täglich von fünf bis elf Uhr abends findet er sich in der Bibliothek ein, um mit dem alten Mann zu diskutieren – oder zu schweigen. Dieser erweist sich als lustvoller Gesprächspartner, der sich auch für Schmuels Thesen interessiert und ihm rät, sie argumentativ auf die eigentliche Hauptfigur zuzuspitzen: Judas Ischariot. Warum sollte dieser wohlhabende Priester im Garten Gethsemane für läppische 30 Silberlinge einen Menschen verraten, den ganz Jerusalem längst kannte? Erst eine argumentative Volte verleiht der Leidensgeschichte Jesu überhaupt Sinn. Judas war der treueste unter den Jüngern Jesu. Er allein glaubte an die Göttlichkeit des Nazareners, und er allein schien zu ahnen, dass diese Göttlichkeit nur durch ein Wunder erkannt werden würde. Als Jesus aber nicht vom Kreuz stieg, sondern von seinem Vater verlassen starb, beging Judas Selbstmord, bevor das Oster-Wunder geschah. Während Jesus als Sohn Gottes wieder auferstand, blieb Judas der Verräter, der im Namen auf das jüdische Volk hindeutete. Die Geschichte nahm ihren Lauf.

Die Gespräche zwischen Schmuel und Gerschom Wald sind kleine brillante Glanzstücke, in denen der Wirklichkeit ein Spiegel der verpassten Möglichkeiten vorgehalten wird. Sie hellen die gedrückte Stimmung im Haus ein wenig auf, auch wenn sie gegen die hartnäckigen Hausgeister „Enttäuschung und Trauer“ nicht ankommen. Der alte gebrechliche Herr und seine Schwiegertochter bilden eine Gemeinschaft, die durch eintönige Rituale bestimmt ist. Der etwas unbeholfene, liebenswürdige Schmuel wird zunehmend angesteckt von dieser dumpfen Melancholie. Er fühlt sich zur viel älteren Atalja hingezogen, deren Geheimnis er nur zu gerne ergründen möchte. Atalja war einst mit Micha verheiratet, Walds Sohn, der 1948 auf brutale Weise im Krieg umkam. Die Trauer über diesen Verlust füllt das Haus ganz aus. Schmuel, der Atalja seine schüchterne Zuneigung mit gefalteten Papierschiffchen signalisiert, werden von ihr bestenfalls ein feines Schmunzeln und ein paar zärtliche Gesten zuteil. Hinter ihrer harten Schale erlaubt sich Atalja keine Träume mehr, und Gerschom Wald lebt nur in bissigen Debatten auf.

Die Romanhandlung wartet nicht mit überraschenden Wendungen auf. „Judas“ ist ein Kammerspiel, das zu gleichen Teilen reich ist an atmosphärischer Dichte, psychologischer Feinzeichnung und intellektuellem Scharfsinn. An der Reizfigur des Judas entspinnt sich eine Diskussion, die längst von den unterschiedlichsten Orthodoxien besetzt worden ist.

In seiner Heimat erregt Amos Oz immer wieder die Gemüter. Sein Engagement als linker Friedensaktivist gilt vielen unumwunden als Verrat. Dieser politischen Wertschätzung wird er im neuen Roman gerecht, indem er die Judas-Geschichte mit der Zeitgeschichte verknüpft. Die Diskussionen über den Verräter Judas verschieben sich allmählich auf eine (erfundene) Figur aus dem politischen Epizentrum des Zionismus. Schealtiel Abrabanel, Ataljas Vater, war bei der Gründung des Staates Israel 1948 ein Gegenspieler von David Ben Gurion. Abrabanel teilte weder Ben Gurions Militarismus noch dessen nationale Begeisterung. „Ben Gurion litt seiner Meinung nach an einem Messianismuskomplex“, der nicht aufgehört habe, wie Schmuel einmal äußert, „hohle biblische Phrasen zu verbreiten, von der Erneuerung früherer Zeiten und der Verwirklichung der Visionen der Propheten“. Demgegenüber trachtete Abrabanel nach einem Ausgleich mit den Arabern in einem Gebilde, das nicht von nationalstaatlichen Grenzen definiert wäre. Er war überzeugt, dass ein Land Israel, wie es Ben Gurion schuf, bestenfalls „ein paar Jahre halten, höchstens zwei, drei Generationen“ überleben würde. Abrabanels böses Orakel wurde mit dem Stempel des Verrats gebrandmarkt, er blieb ein Araberfreund und verstummte nach seiner Niederlage 1948, um wenig später im Haus der Enttäuschungen an der Rav-Albas Gasse zu sterben.

Im Reizwort des Verrats überlagern sich die beiden Debatten, die Gerschom Wald und Schmuel Asch führen. Der Verrat des Judas war von größter Tragweite, in ihm steckt, wie Amos Oz im März 2015 in einem Interview mit der NZZ bemerkte, „das Tschernobyl des europäischen Antisemitismus. Sie kontaminierte ganz Europa und auch andere Teile der Welt. Man hasste die Juden für Gier und Gottesmord.“ Und Abrabanels Idee einer Koexistenz zwischen Juden und Arabern? So illusorisch sie anmutet, taucht sie doch hin und wieder am nahöstlichen Horizont auf, nicht als Utopie, aber als möglicher Ausweg aus der realpolitischen Verstrickung.

Wie sähe die Geschichte Israels aus, wenn sich Schealtiel Abrabanel 1948 mit seinem Versöhnungskurs durchgesetzt hätte? Der Reiz an Gedankenspielen liegt darin, dass sie sich nicht beweisen müssen. Insofern sind sie müßig. Doch sie halten der „Alternativlosigkeit“ der Geschichte Optionen des Handelns entgegen. Ob die nahöstliche Welt mit Abrabanel anstelle von David Ben Gurion eine bessere geworden wäre, kann bezweifelt werden. Darum geht es Amos Oz gar nicht. Er möchte es sich nur nicht nehmen lassen, über die Figur des Verräters – als der er selbst gilt – ein mögliches Szenario zu denken, das kreative Auswege aus dem verfahrenen Status Quo reflektiert. Denkverbote sind bloß Ausdruck von Fantasielosigkeit und orthodoxer Rechthaberei.

Diesen Diskurs verarbeitet Judas brillant und unangestrengt in einem intellektuell anregenden und atmosphärisch dichten Roman. Dass dies auch im Deutschen gelingt, ist der Übersetzerin Mirjam Pressler zu verdanken, die dafür mit dem Übersetzungspreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden ist. Judas liest sich auch in der Übertragung höchst geschmeidig, differenziert und stimmig.

Titelbild

Amos Oz: Judas. Roman.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
335 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518424797

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