Mehr und weniger als eine Literaturgeschichte

Eine neue Edition präsentiert Johann Joachim Eschenburgs „Kleine Geschichte des Romans von der der Antike bis zur Aufklärung“

Von Malte LorenzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Lorenzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johann Joachim Eschenburg (1743-1820) steht im Schatten zahlreicher prominenterer Zeitgenossen. Schuld ist freilich nicht ein missgünstiges Urteil der Nachwelt, sondern vielmehr der Umstand, dass sich in seinem publizistischen Werk kaum literarische oder theoretische Neuerungen finden lassen. In seiner Zeit war er gleichwohl kein Unbekannter. Eine weitgespannte Korrespondenz weist ihn als geachtetes Mitglied der Gelehrtenrepublik aus, während seine Lehrtätigkeit am Braunschweiger Collegium Carolinum, seine Übersetzungen, seine literaturkritische Arbeit und seine wissenschaftstheoretischen, ästhetischen und kulturhistorischen Veröffentlichungen ihn als umtriebigen Vermittler europäischer Kultur zeigen. Diesen Intellektuellen zwischen Aufklärung und Romantik ins Bewusstsein der Gegenwart zurückzuholen, bemüht sich seit einigen Jahren Till Kinzel. Nach einem gemeinsam mit Cord-Friedrich Berghahn im Heidelberger Universitätsverlag Winter veröffentlichten umfangreichen Sammelband über den Braunschweiger ‚Professor für Schöne Litteratur und Philosophie‘ folgten einige kleinere Editionen im Wehrhahn Verlag. Dort ist nun auch eine Kleine Geschichte des Romans von der Antike bis zur Aufklärung aus der Feder Eschenburgs erschienen, die um seine Übersetzung von Diderots Ehrengedächtnis Richardsons ergänzt wird.

Im Hauptteil versammelt der Band Kurzcharakteristiken jener Schriftstellerinnen und Schriftsteller und ihrer Werke, die Eschenburg in seine Beispielsammlung zur Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften aufgenommen hatte, einer Anthologie exemplarischer Auszüge literarischer Texte. Wo er bei den anderen Gattungen auf Zitate zurückgriff, behalf er sich im Fall der längeren Prosaerzählungen und der Romane mit knappen biographischen Angaben, einer kurzen Inhaltsangabe der relevanten literarischen Texte und einer kritischen Würdigung von Stil, Aufbau, Intention und Wirkung. Diese Darstellungen hat Kinzel im vorliegenden Band versammelt.

Der vom Herausgeber gewählte Titel führt demnach ein wenig in die Irre. Den Leser erwartet keine kohärente Entwicklungsgeschichte der Gattung des Romans, sondern zunächst nach Nationalsprachen und sodann nach Autoren gegliederte Einzeldarstellungen, denen überdies eine vorwiegend an ästhetischen Kriterien orientierte wertende Vorauswahl Eschenburgs zugrunde liegt. Angesichts der rasanten Zunahme von Romanen auf dem Buchmarkt geht es ihm darum, die guten Exemplare aus dem „Schwalle der Romane“ hervorzuheben und derart zur Geschmacksbildung seiner Schüler und anderer Zeitgenossen beizutragen. Das bedeutet jedoch nicht, dass literaturhistorische Fragen gar keine Rolle spielen würden. Wenigstens den Kapiteln, die sich den jüngeren Nationalsprachen widmen, sind kurze Skizzen vorangestellt, die einen Überblick zur Entstehung und Entwicklung der jeweiligen Romanliteratur bieten. Deren Zweck allerdings besteht vornehmlich darin, die poetische Defizienz und die zweifelhaften literarischen Vorlieben früherer Zeiten, vor der „großen Reform der Romanendichtung“, darzustellen. Angesichts der französischen Literatur vor dem 18. Jahrhundert kommt Eschenberg zum bezeichnenden Fazit, dass sich hier zwar reichlich Material für eine Geschichte der Literatur böte, Beispiele für einen guten Geschmack jedoch kaum. In den Darstellungen der einzelnen Schriftsteller und Schriftstellerinnen hingegen kommt Eschenburg immer dann auf literaturhistorische Aspekte zu sprechen, wenn sich die Übernahme von Motiven oder eines plots aus literarischen Vorlagen erweisen lässt.

Für eine Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung sind Eschenburgs Ausführungen insofern nur von untergeordnetem Interesse. Dies gilt gleichermaßen für die Theoriebildung der jungen Gattung, die im vorliegenden Band vor allem durch den einleitenden Abdruck seiner Erläuterungen über den Roman aus dem Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Redekünste dokumentiert wird. Eschenburg erweist sich dort als der Eklektiker, als der er in der Forschung wiederholt präsentiert wurde. Gleichzeitig wird hier aber auch, und dies gilt ebenso für die Wertungen der einzelnen Romane, die Zwischenposition Eschenburgs im Prozess der Emanzipation des Romans innerhalb des Gattungssystems und von außerliterarischen Zweckbindungen sichtbar. Zwar betont er im Einklang mit allen maßgeblichen Literaturtheoretikern der Aufklärung, dass die Dichtung gleichermaßen belehren und unterhalten soll, und lässt solchen wirkungsästhetischen Erklärungen mitunter noch die Warnung vor einer zu ausgedehnten Romanlektüre folgen. Immer wieder aber wird die poetologisch geforderte Einheit von Unterhaltung und Belehrung brüchig, wird das didaktische und moralische Moment der Literatur ihrem ästhetischen Reiz untergeordnet. Wo sich die Kritik nur gegen die enzyklopädische Gelehrsamkeit des Barockromans richtet, steht dies noch ganz im Einklang mit der Ästhetik der Aufklärung, die die Wirkung eines Romans ja gerade auf ästhetische Momente zurückführt. Schwierigkeiten bereiten Eschenburg erst die moralischen Freiheiten, die sich zeitgenössische Autoren wie Voltaire oder Wieland herausnehmen. Mit einigem Widerwillen zwar, doch angesichts der außer Frage stehenden ästhetischen Qualität in seinem literaturkritischen Geschmacksurteil auch machtlos, lässt er es bei einem kleinen Tadel bewenden und gibt dem Roman damit ein Eigenrecht, von dem die Autorinnen und Autoren in der Nachfolge mehr und mehr Gebrauch machen sollten. Gerade derartige Zugeständnisse an Entwicklungen innerhalb der Literaturproduktion kennzeichnen Eschenburgs Haltung: Er ist auch dann um ein gerechtes Urteil bemüht, wenn er persönlich nicht alle Eigenarten eines Werkes schätzt.

Neben solchen Eindrücken von der persönlichen Arbeitsweise Eschenburgs bietet der Band nicht nur Zugänge zu einem literarischen Kanon, der durch die Lehrtätigkeit des Verfassers am Collegium Carolinum eine gewisse Repräsentativität für das zeitgenössische Bildungswissen beanspruchen kann. Durch die häufigen Verweise auf verwendete Ausgaben und die benutzte Sekundärliteratur wird überdies ein Horizont sichtbar, in dem sich das Nachdenken, Forschen und Schreiben über Literatur im Spannungsfeld von akademischer Lehre, Literaturkritik und einer Vorstufe moderner Literaturwissenschaft bewegt. Eschenburgs poetologische, kritische und literaturhistorische Skizzen können insofern als interessantes Material zur frühen Fachgeschichte gelten, die noch nicht durch nationale Imperative geprägt ist, wie dies einhundert Jahre später der Fall sein sollte, und das überdies einen Methodenreichtum aufweist, in dem literaturimmanente Aspekte ebenso eine Rolle spielen wie biographische, politische und ökonomische.

Der im Nachwort formulierten Hoffnung des Herausgebers, dass sich heutige Leser von Eschenburg „auf fremdes Terrain locken“ lassen und sich die von ihm empfohlenen Romane in eigener Lektüre aneignen, muss angesichts der nur begrenzten Reichweite einer solchen Publikation wohl mit einiger Skepsis begegnet werden. Vielleicht aber lässt sich immerhin die eine oder andere Professorin, der eine oder andere Lehrbeauftragte von Eschenburg dazu inspirieren, mit den Studentinnen und Studenten in den Seminaren auf literarische Entdeckungsreisen zu gehen – diesseits und jenseits des heutigen Kanons.

Titelbild

Johann Joachim Eschenburg: Kleine Geschichte des Romans von der Antike bis zur Aufklärung.
Mit einem Nachwort herausgegeben von Till Kinzel.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2015.
129 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783865254214

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