Non prodesse, sed delectare
Richard J. Evans’ Kritik an kontrafaktischer Geschichtsschreibung
Von Eva-Maria Konrad
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseRichard J. Evans, der sich nicht zuletzt durch seine ebenso umfangreiche wie beeindruckende Trilogie Das Dritte Reich als Kenner der deutschen Geschichte erwiesen hat, hat sich mit seinem neuen Buch auf ungewohntes Terrain vorgewagt: Mit Altered Pasts, das nun auch auf Deutsch erschienen ist, wendet er sich der kontrafaktischen Geschichtsschreibung zu und unterzieht dieses Genre, das in den letzten 20 Jahren einen nie dagewesenen Boom erlebt hat, einer kritischen Analyse. Der Essay-Band umfasst vier etwa gleich lange Kapitel, die aus den Menahem Stern Jerusalem Lectures hervorgegangen sind, die Evans auf Einladung der Historical Society of Israel im April 2013 gehalten hat. Evans’ Interesse am Genre des Kontrafaktischen reicht jedoch weiter zurück: Schon im Jahr 2004 hatte sein Beitrag „Telling It Like It Wasn’t“ in Historically Speaking (5/2004) hohe Wellen geschlagen und eine Reihe von Erwiderungen und Gegendarstellungen provoziert, die sich gegen Evans’ recht rigorose Zurückweisung der Sinnhaftigkeit kontrafaktischer Geschichtsschreibung zur Wehr setzten.
Dass diese aufschlussreiche Diskussion in Evans’ Buch nur wenig Niederschlag findet, ist insofern erstaunlich, als es nach wie vor sein erklärtes Ziel ist, den Anspruch kontrafaktischer Geschichtsschreibung in die Schranken zu weisen: Seiner Meinung nach sind derartige Spekulationen in den weit überwiegenden Fällen weder überzeugend noch in irgendeiner Weise nützlich für eine Erklärung von vergangenen Ereignissen und Zusammenhängen. Als unterhaltsames, oft witziges Gedankenspiel lässt Evans das Kontrafaktische zwar gelten, um ein ernsthaftes Genre, das noch dazu – wie oft behauptet – zu einem Erkenntnisgewinn beitragen könnte, handelt es sich seiner Meinung nach aber nicht.
Bevor Evans seine zentralen Argumente gegen die kontrafaktische Geschichtsschreibung aufführt, widmet er sich zunächst der Geschichte dieser Gattung und spannt dabei einen Bogen von der Romantik bis in die unmittelbare Gegenwart. In Bezug auf die Entwicklung des Genres im 19. Jahrhundert schließt sich Evans dabei in weiten Teilen der Analyse Christoph Rodieks an, der in Erfundene Vergangenheit (1997) bereits eine Linie von D’Israeli über Geoffroy bis Renouvier gezogen hat. Einen enormen Aufschwung hat die kontrafaktische Geschichtsschreibung laut Evans allerdings erst in den letzten 20 Jahren erlebt, wofür er insbesondere einen durch den Niedergang der Ideologien verursachten kulturellen Wandel verantwortlich sieht, der einen neuen Raum für Spekulationen über Geschichte eröffnet habe – eine Diagnose, die ähnlich auch schon Gavriel D. Rosenfeld in The World Hitler Never Made (2005) gestellt hat. Zudem sei dieser Boom aber auch auf die Postmoderne und die damit verbundene Auflösung der Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen zurückzuführen sowie auf die damit einhergehende Skepsis gegenüber gesicherter historischer Erkenntnis.
All dies ist sicherlich unterhaltsam präsentiert. Ein Leser, der sich nicht nur für die Ausformung einzelner kontrafaktischer Geschichten interessiert, sondern vertiefte Einsichten in die Entwicklung des Genres erwartet, wird dennoch etwas unbefriedigt zurückbleiben. Zu häufig ergeht sich Evans in einer ausgedehnten Wiedergabe kontrafaktischer Szenarien und lässt dafür eingehendere Begründungen seiner Thesen und Überlegungen vermissen. Unumgänglich dafür wäre zudem ein akribischerer Umgang mit Belegen und Fußnoten gewesen: Es bleiben nicht nur einige Zitate unbelegt, sondern auch eine Reihe von Verweisen ohne genauere Angaben (Aussagen wie: „Die Vorstellung, Friedrich III. sei ein Liberaler gewesen, hat eine neuere Biographie als Mythos entlarvt“), was sowohl die Nachvollziehbarkeit des Textes als auch ein Urteil über die Stichhaltigkeit von Evans’ Behauptungen unnötig erschwert. Überraschend ist darüber hinaus, dass gerade die zentrale Studie von Rodiek nicht im Haupttext angesprochen und diskutiert wird. Rodieks Name taucht zwar über 20 Mal in den Fußnoten auf – vor allem, da sich Evans wiederholt an dem Zitatfundus von Erfundene Vergangenheit bedient –, er hat aber nicht einmal Eingang in den Index gefunden.
Ausdrücklich betont werden muss deshalb, dass in der deutschen Ausgabe erkennbar Mühe darauf verwendet wurde, den insgesamt etwas sorglosen Umgang des Originals mit Quellenangaben und Fußnoten zu verbessern: Die Angabe von Seitenzahlen wurde mehrfach hinzugefügt oder korrigiert, Fußnoten wurden ergänzt oder an geeignetere Stellen verschoben, fehlerhafte Buchtitel korrigiert etc. Ärgerlich ist allerdings, dass dabei wiederum neue Fehler entstanden sind. Neben falschen Jahreszahlen, falschen Titeln (besonders kurios: Rosenfelds Buch The World Hitler Never Made, das im Original zu The War Hitler Never Won verunstaltet wurde, wurde in der deutschen Ausgabe zu The War Hitler Never Made), und einem mitunter fragwürdigen Umgang mit bereits vorliegenden deutschen Übersetzungen (so etwa bei Niall Fergusons Band Virtual History) erzeugt auch die Übersetzung selbst an manchen Stellen Verständnisschwierigkeiten: Wenn „the changing and evolving [!] nature of society and politics“ als „der evolutionäre [!] gesellschaftliche und politische Wandel“ wiedergegeben wird, ist dies mindestens fragwürdig, wenn „politische Ereignisse zu Begleiterscheinungen größerer politischer [!] Kräfte“ erklärt werden (anstatt zu „epiphenomena of larger historical [!] forces“), ist der Sinn kaum mehr zu erfassen.
Besser begründet sind dagegen die (sich wechselseitig bedingenden) Argumente, die Evans gegen die kontrafaktische Geschichtsschreibung vorträgt und beispielreich untermauert: Erstens sind kontrafaktische Szenarien seiner Meinung nach deshalb problematisch, weil sie häufig von unplausiblen Ausgangsbedingungen ausgehen beziehungsweise spätestens dann vollständig spekulativ werden, wenn sie sich mit längerfristigen Auswirkungen eines gegenüber der realen Vergangenheit veränderten Ereignisses beschäftigen. Je weiter sich die Darstellung von diesem Ausgangspunkt entferne, desto unabsehbarer würden die Folgen aufgrund einer Unmenge von Variablen, die dazu mit einbezogen werden müssten. Wie Evans insbesondere an Niall Fergusons Virtual History (1997) verdeutlicht, unterstellen Historiker, die mit ihren kontrafaktischen Szenarien eigentlich betonen möchten, wie sehr die Geschichte von Zufall und Kontingenz geprägt ist, in ihren Geschichten deshalb häufig ganz im Gegenteil einen „historischen Determinismus“. Wenn überhaupt, sind kontrafaktische Szenarien Evans zufolge also nur dann sinnvoll und hilfreich, wenn sie sich zum einen nur über eine sehr kurze Zeitspanne erstrecken und wenn ihre Autoren zum anderen darauf verzichten, die geschilderten Zusammenhänge als unvermeidlich darzustellen – eine Schlussfolgerung, die auf einer durchaus berechtigten Kritik fußt. Wie Evans‘ Einzelanalysen zeigen, basieren in der Tat eine ganze Reihe von kontrafaktischen Szenarien auf historisch höchst unwahrscheinlichen und somit wenig tragfähigen Ausgangsbedingungen. Wenn im weiteren Verlauf der Geschichten dann auch noch größere Kausalzusammenhänge und historische Kontexte auf unzulässige Art und Weise ausgeblendet werden, ist offensichtlich, dass eine derartige kontrafaktische Geschichtsschreibung kaum den Ansprüchen historischer Forschung genügen kann.
Wenn Historiker dennoch in vielen Fällen nicht davor zurückschrecken, die von ihnen dargestellten Folgen als geradezu zwangsläufig zu präsentieren, ist dies Evans zufolge – zweitens – vor allem durch politisch motiviertes Wunschdenken zu erklären. Als Missetäter macht er hier insbesondere konservative Historiker aus, die kontrafaktische Szenarien verwenden, um sich in Anbetracht des Verlustes ihrer politischen Vormachtstellung (Evans spricht vor allem den Machtverlust der Conservative Party Mitte der 90er-Jahre an) utopischen Phantasien hinzugeben, die jeder empirischen Grundlage entbehren. Eine weitere Form der Instrumentalisierung kontrafaktischer Szenarien durch Historiker wie durch Romanautoren sei die dystopische Variante, vermittels derer historische Fehlentwicklungen beklagt werden, aber auch die Notwendigkeit und/oder Richtigkeit einer konkreten historischen Entscheidung oder Entwicklung bestätigt werden kann (etwa indem gezeigt wird, welch verheerende Auswirkungen ein anderer Weltverlauf gehabt hätte).
Auch in diesem Fall trifft Evans einen wichtigen Punkt: Seine Ausführungen machen deutlich, wie häufig kontrafaktische Szenarien für (vor allem) politische Zwecke eingesetzt werden. Problematisch ist allerdings, dass Evans kontrafaktische Romane und kontrafaktische Geschichtsschreibung mitunter mit demselben Maß zu messen scheint. Ob man auch an Romane die Forderung stellen sollte, sie müssten ihre Szenarien beweisen, für sie argumentieren und im Rahmen des Plausiblen und Wahrscheinlichen bleiben, ließe sich durchaus diskutieren.
Zuletzt kritisiert Evans an kontrafaktischen Geschichten eine wiederholte, den komplexen geschichtlichen Zusammenhängen kaum angemessene Zentralstellung von einzelnen Persönlichkeiten, deren Einfluss und Entscheidungen. Dies zeige sich schon allein daran, dass die häufigsten alternativen Szenarien darin bestünden, dass eine Person entweder früher oder später stirbt als in Wirklichkeit, bestimmte Wahlen anders ausgehen oder eine Entscheidung anders ausfällt, als sie tatsächlich getroffen wurde. Laut Evans handelt es sich dabei aber erstens um ein fehlerhaftes Postulieren von Monokausalität und zweitens um ein falsches Bild von geschichtlichen Zusammenhängen: Missachtet werde nämlich, dass Entscheidungsträger ihre Entscheidungen üblicherweise nicht völlig frei treffen können, sondern in ein engmaschiges Netz aus Verantwortungen und Zwängen verstrickt sind, das ihre Entscheidungen bedingt. Selbst herausragende Persönlichkeiten seien selten alleine ausschlaggebend für eine bestimmte Entwicklung in der Geschichte, sondern vielmehr ein Rädchen in einem hochkomplexen Getriebe. Wenn kontrafaktische Szenarien etwas zeigen könnten, sei es deshalb nicht etwa die Wirkkraft von freiem Willen und Individualität, sondern vielmehr die Tatsache, wie sehr Entscheidungsträgern in ihren Entscheidungen Grenzen gesetzt sind.
Zusammengefasst hält Evans kontrafaktische Geschichtsschreibung also zwar in vielen Fällen für unterhaltsam, ein ernsthafter Zweck lasse sich damit aber nur beschränkt verfolgen. Der Erkenntnisanspruch, der häufig mit ihr verbunden werde, sei nicht haltbar, denn erstens genügen kontrafaktische Szenarien Evans zufolge in der Regel nicht den Maßstäben historischer Forschung und zweitens erfahren wir durch kontrafaktische Szenarien – wenn sie denn einmal gut begründet sind – nichts, was wir nicht auch auf anderem Wege (etwa durch Quellenstudium) erfahren hätten können.
In einer kurzen Wendung am Schluss gibt Evans allerdings noch einen Ausblick darauf, wofür kontrafaktische Szenarien doch aufschlussreich sein könnten: nicht in Bezug auf die Erforschung und Erklärung der Vergangenheit, sondern für eine Analyse der Gegenwart. Sie können einen Beitrag zur Diagnose aktueller Entwicklungen leisten und somit doch einen wichtigeren Zweck erfüllen, als allein der Unterhaltung zu dienen. Wie Evans zeigt, ist das Kontrafaktische also keine Sache der Historiographie, sondern vielmehr der Literatur, der Soziologie oder der Politologie.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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