Kästner auf Speed

Thomas Brussig entwirft in seinem neuen Roman „Das gibts in keinem Russenfilm“ ein Leben in der fortbestehenden DDR

Von Markus JochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Joch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schreibt der schon wieder über die DDR? Fällt ihm nichts anderes ein? Nein, und das ist gut so. Von Kairo oder New York zu handeln, wenn man sich in Thüringen oder Schwaben auskennt, war noch nie eine gute Idee. Und besonders schade wäre Zwangsglobalisierung bei Thomas Brussig. Im Dezember 1964 geboren und in Ostberlin aufgewachsen, hatte er nun mal das Glück, dass sich kurz vor seinem 25. Geburtstag die Weltgeschichte buchstäblich vor der eigenen Haustür abspielte. Seinem Erfahrungskapital vertraut der Urheber der Mauer-und-Wende-Komik nach wie vor.

Wie sich aus der Wende Funken schlagen lassen, zeigt Brussig nunmehr auf paradoxe Weise: Indem er so tut, als hätte es keinen Mauerfall gegeben, als existierte die DDR bis heute. Das kontrafaktische Erzählen von immer noch zwei deutschen Staaten hatten wir zwar schon in „Plan D“ (2011), aber Simon Urbans Geschichtsszenario war ein Agententhriller; Brussig bewegt sich in einem anderen Genre. In einer fiktiven Autobiographie erzählt er seine ersten 25 Jahre halbwegs so, wie sie sich zugetragen haben, um dann durchzuspielen, wie es ohne deutsche Einheit weitergegangen wäre.

Schon in der ,realen‘ DDR-Vita bis 1989 steckt Tatsachenphantasie. Das Kind Thomas lernt die 19-jährige Nina Hagen kennen, die sich seiner Vertraulichkeit versichert für den Fall, dass sie mal weltberühmt wird, „wat ick durchaus vorhab, meen Freundchen“. Da hören wir nicht nur die erste der urkomischen Stimmenparodien, wir bekommen auch einen Grundkurs in Autofiktion. Denn die Wahrheit ist: Es war nur Ninas Vater, den Thomas kannte, schon „sprang meine Phantasie an“. Die Erfindung wächst im Authentischen, wo genau sie beginnt, wissen wir Leser so gut wie nie. Dafür weiß der Roman-Brussig, was er von der NVA zu halten hat, sie ist ein „Ozean von Scheiße“. Ein Bild von zeitloser Schönheit.

Die Wiedervereinigung ausfallen zu lassen, beweist Wirklichkeitssinn, schließlich glaubten an sie nur 11 % der Bundesbürger, „an UFOs immerhin 19 %“. Kommod geht es zu in der Diktatur des Egon Krenz, der Tempo 120 auf der Transitautobahn glatt genehmigt und im Willen zur Bonsaireform „Klassengegner“ sagt statt „-feind“. Als die Zensur fallen soll, wittern manche Ost-Autoren allen Ernstes ihre „Entwürdigung“. Auch im Westen geachtet ist „Bombastus“, der Verlag der kritischen Edelfedern, betrieben vom listigen Geschäftsführer Thierse. Wir ahnten es, im Wolfgang steckt ein Teufelskerl.

Wer glaubt, das alles sei nur zum gehobenen Schmunzeln, irrt. Ist er auch einfallsreich wie ein Kästner auf Speed, dieser Erzähler treibt das Abgefahrene nüchtern am Wirklichen hoch. Besonders, wenn er sich für die eigene Person eine Widerstandskarriere ausmalt: Nach 89 zum Dissidenten aus Versehen zu werden, geadelt durch einen Anneliese-Löffler-Verriss und weil man beim Signieren den Berliner SED-Chef nicht erkannt hat, ist denkbar. Ebenso, als aufsteigender Jung-Autor die Prenzlauer-Berg-Reflexe der Achtziger, gerade noch belächelt als Kampf um die „suhrkampigsten Westkontakte“, unbewusst weiterzuführen. Dann hält man sein letztes Buch stets noch für verweichlicht und legt einen forciert pampigen Thomas-Brasch-Gedenkauftritt in München hin. Den gelackten Westlern bloß nicht gefallen!

Es ist eine gnadenlose Wunschbiographie um ein Ich, das durch „Wasserfarben“ und Westfernsehen schon 1991 prominent wird, mit einem DDR-kritischen „Spiegel“-Essay („Die breierne Zeit“) Georg Dreyman toppt, das die Stasi narrt, klar, dem moralisches Prestige, Westkonto, Literaturpreise und vor allem die Frauen nur so zufliegen… Tja, Jungs, ohne Einheit wäre ich noch erfolgreicher gewesen: So lautet die Botschaft, schön dreist und bei der Wahrheit des Tagtraums bleibend, während die satirische Konkurrenz lieber mit dem „Dauer-Unglücksrabentum“ kokettiert. Erzählmoralisch ist das Verfahren okay, denn anders als bei Rückblicken so mancher Gruppe-47er auf ihre Rolle in der Nazi-Diktatur handelt es sich hier um eine transparente Wunschbiographie.

Ein Hammer von der ersten bis zur letzten Seite ist auch dieses Buch nicht. Eher müde wirkt die Grass-Parodie, so gut die Großsprecherei des Originals getroffen ist. Und es hat schon schlechtere Pointen gegeben als die, dass unser Lautester den Botschafter einer Gesamt-Berliner Olympiabewerbung gibt, nur um sie vorsätzlich zu versenken. Doch macht sich Brussig letztlich über Grass’ Willen lustig, die deutsche Teilung zu zementieren, über einen Mahner, der sie als Preis deutscher Schuld verstehen will. Nun weiß alle Welt, dass das Original mit dieser Haltung 1990 gescheitert ist. Eine historisch unterlegene Position noch 25 Jahre später zu ridikülisieren, nimmt sich gratismutig aus.

Zu putzig ist die Idee, eine sofort als die Kanzlerin erkennbare „Apfelkuchen-Angela“ zum größten Fan des fiktiven Brussig zu machen und dann auch noch zur Trauzeugin. Geht es um das Roman-Ich als Ehemann und Daddy, schleicht sich überhaupt eine Tendenz zum Süßlichen ein. Schwer zu vermeiden bei dem Thema, dennoch möge sie der reale Erzähler bald wieder ablegen.

Über die schwächeren Passagen kommt man leicht hinweg, da für weite Strecken gilt: Beim Witz- wie beim Wahrheitswert lässt Brussig das satirische Hauptfeld deutlich hinter sich. Wodurch schafft er das erneut? Zunächst durch blitzartige Umschläge vom Amüsanten ins Erschreckende, die die Diktatur  als scheinkommode zeigen. Bei allen Schnurren, etwa der um den besten Thälmann-Witz („Das ist mein voller Ernst“), wird eben auch daran erinnert, was man im Fahrstuhl eines DDR-Mietshauses besser nicht sang, wie breit die Denunziationspalette war, was mit Kindern von Republikflüchtlingen geschah und wie der Realsozialismus mit todkranken Menschen umging. Die Umschlagsfigur war bereits, wenn auch damals seltener eingesetzt, ein Pluspunkt in „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ (1999), das Gerede vom „DDR-Beschöniger“ Brussig immer schon Blödsinn.

Zudem fallen die knappen, doch nie pappkameradenhaften Porträts noch eine Idee treffsicherer aus als früher ‒ allen voran das des Dr. Gysi als Rechtsbeistand (und später DDR-Staatschef) mit vollstem Vertrauen in die eigene Vertrauenswürdigkeit. Wer den Mann jemals auf einer Pressekonferenz erlebt hat, kann Brussigs Wort von den „ankumpelnde[n] Satzeröffnungen“ nur goldrichtig finden. Die Parodie auf Leander Haußmann wiederum, ein liebevolles, aber doch ein Kollegenfoppen, hebt sich ab vom „Working with him is such a dream“-Gesülze, mit dem uns jedes zweite Making of behelligt. Erst recht realistisch ist das weniger Liebevolle ‒ dafür ein praktisches Beispiel. Will man auf einem nächtlichen Langstreckenflug trotz der verfluchten Economy-Sitze ein wenig Schlaf finden, helfen drei Dinge: Ohrenstöpsel rein, Augenmaske auf und vorher noch, um sicherzugehen, ein paar Seiten Ingo Schulze. Was ihn für den Literatur-Nobelpreis qualifiziert, den Brussig boshafterweise für ihn vorsieht.

So gelungen die zahlreichen Spitzen zum Literaturbetrieb sind, der größte Vorzug des Romans liegt in seiner Anlage. Ein Nachteil kontrafaktischen Erzählens, heißt es an der Schlüsselstelle, bestehe darin, dass es „sich über die Erfahrungen oder zumindest das gesicherte Wissen der Leser hinweg[setzt]“, daher schnell wie reiner Unsinn wirke, müßig. Brussig entgeht dieser Gefahr, da seine Leser sich nicht dumm stellen müssen. Ihr Wissen wird abgerufen.

Wenn der Ernst- im Spaßmacher für die Zeit ab 2000 einen Kapitalismus unter Führung der Partei ausbuchstabiert, die „Elektrokratie“, in der Reisefreiheit und Wohlstand dank Windkraft den DDR-Bürgern wichtiger sind als das Intellektuellending Selbstbestimmung, ist für das Publikum das chinesische Modell erkennbar, verpflanzt nach Ostdeutschland ‒ ein irrealer Geschichtsverlauf, aber einer in Sichtweite der Fakten. Zumal das Szenario die realitätsnahe und 1989 keineswegs beantwortete Frage stellt, ob sich die Ostdeutschen die Freiheit nicht hätten abkaufen lassen. Insofern bietet uns der Roman mehr als ein nettes Was-wäre-wenn. Er schärft uns ein, wie leicht die Geschichte einen anderen Verlauf hätte nehmen können.

Die krasse Abhängigkeit des einzelnen Lebens von historischen Umständen und Zufällen bildet die handlungstragende Einsicht. Brussig bezieht sie radikal auf sich selbst, wenn sein Dissidenten-Alter-ego unter den geschäftstüchtigen DDR-Bürgern an den Rand gerät, in der Elektrokratie so abgemeldet ist, wie es Anfang der Neunziger Christa Wolf und Co. im wiedervereinigten Deutschland waren. So endet das Roman-Ich ausgerechnet in der Position derjenigen, die Brussig im literarischen Feld einst entthront hat, mit der schönen Pointe, dass der Roman-Brussig auch noch so spricht wie die Altvorderen: „Ohne die Reibung mit dem SED-Staat bin ich als Schriftsteller undenkbar.“ Ein gekonntes und weises, die Kontingenz von Lebensläufen auf die Spitze treibendes Rollenspiel. Wer da immer noch glaubt, dieser Autor sei bloßer Ostalgie-Humorist, dem ist nicht mehr zu helfen, wie allen Trabis im Geiste.

Anm.: Eine Kurzfassung des Textes ist im „Freitag“ erschienen.

Titelbild

Thomas Brussig: Das gibts in keinem Russenfilm. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
383 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100022981

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