Wo noch etwas zu holen ist

Hanno Plass hat zum 130. Geburtstag von Georg Lukács einen bilanzierenden Sammelband zum Status seines Denkens vorgelegt

Von Thomas MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ja, was bleibt von Georg Lukács‘ Theorie? Zunächst kann zu seinem 130. Geburtstag konstatiert werden: eine bestimmte öffentliche Aufmerksamkeit. Das in jeder Hinsicht verdienstvolle, von Ulrich von Bülow und Stephan Schlak verantwortete Themen-Heft der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ zu Lukács animierte etwa die „FAZ“ am 28. Januar 2015, dem Philosophen eine ganze Seite ihrer Beilage „Geisteswissenschaften“ zu widmen. Wie immer man zu den dort publizierten Texten stehen mag – allein das Photo mit der halbverfallenen, an Lukács erinnernden Gedenkplakette in Budapest, ließ aufhorchen. Denn auf diese Weise wurde die Aufmerksamkeit geschult: Ist Lukács überhaupt noch gefragt? Inwieweit können aktuelle Theorieangebote, etwa Thomas Piketty und seine Schule oder all die vielen Radikalen, die sich bereits im Modus des Postdemokratischen bewegen, mit dem „Klassiker“ verschränkt werden? Oder gar: Kann uns Lukács „helfen“?

Immerhin: Axel Honneth nimmt den Begriff der „Verdinglichung“ erneut auf, die Zeitschriften „Telos“ und „Kulturphilosophie“ geben Lukács‘ Überlegungen immer wieder Platz, das Jahrbuch der entsprechenden Gesellschaft meldet sich mit interessanten Texten zurück. Das fragmentierte Schild scheint also keineswegs zum Sinnbild zu werden. Doch halt: Wer im „Geschäft“ der Ideengeschichte nicht erst seit gestern tätig ist, der weiß um Konjunkturen.

Deshalb sind bilanzierende Sammelbände immer dann zu begrüßen, wenn sich die Konturen einer bestimmten Person oder eines Denkens zwischen grellem Aufscheinen und völligem Absinken ins unkommunikative Spezialistentum bewegen. Der von Hanno Plass herausgegebene Band „Klasse Geschichte Bewusstsein“ hilft hier entscheidend. Zehn Texte versuchen Lukács‘ Auseinandersetzung mit den drei titelgebenden Begriffen – historisierend, rekonstruierend, kritisch reflektierend, schließlich bis in unsere Zeit fortschreibend – attraktiv zu halten.  

Das ist aus vielerlei Gründen gar nicht so einfach, zumal dann, wenn der 1923 im Malik-Verlag erschienene Klassiker „Geschichte und Klassenbewußtsein“ im Zentrum der rettenden Kritik steht, wie es hier der Fall ist. Theodor W. Adornos Diktum von 1930, wonach sich in dem von ihm etwa fünf Jahre zuvor intensiv rezipierten Buch „ein paar vorzügliche Stellen“ finden ließen, es ansonsten aber „erschreckend Haare gelassen hat und ein unausstehliches Heidelberger Lokalkolorit verbreitet“, steht bei weitem nicht allein. Selbst große Teile der marxistischen Lukács-Rezeption tun sich mit dem Werk schwer, das durch die Selbstdeutungen des Autors noch weiter litt: verehrt, aber kaum gelesen zu werden, schien die logische Folge für die Schrift zu sein. Bleibt man beim Adorno des Jahres 1930, dann zeichnen sich hier bereits Missverständnisse ab. So wird eine Konstruktion, die auf persönlichem Ressentiment basiert, in den Rang einer Argumentfiliation erhoben: das „unausstehliche Heidelberger Lokalkolorit“ ist nämlich längst in Frankfurt am Main heimisch geworden. So zeige sich in dem Buch, dass es von ihm aus nur ein Sprung zu Karl Mannheim sei, „vor allem in der ganz abstrakten Fassung des Ideologiebegriffs, der auf diese schematisch und idealistisch deduzierte Weise nie zu handhaben“ sein werde. Mannheim, Norbert Elias, Jakob Katz, das ist ein großer Kreis, der zum Teil mit Martin Buber Seminare abhält, etwa über „Assimilation“. Hätte Adorno zugegeben, wie sehr die philosophiehistorischen Konstruktionen in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ nicht von „Heidelberg“, sondern von „Marburg“ oder „Hamburg“ abhängen – nämlich vom äußerst positiv erwähnten Ernst Cassirer?

Adorno hat es bei solchen Aussagen Gott sei Dank nicht belassen, sondern, wie gleich einige der Beiträge bekräftigen, ein ganz anders geartetes Modell negativ-dialektischer Substanzialisierungen von Geschichte, Klasse und Bewusstsein zu schaffen gesucht. Ihn bei seinen Argumenten zu packen, ist dann sicherlich der Weg, Lukács gegenüber einem Common sense-Marxismus zu profilieren. Stefan Müller und Johannes Rhein leisten in ihrem Beitrag über „Totalität, Vermittlung und Unmittelbarkeit“ eine klare und kluge Rekonstruktion der Wahlverwandtschaften zwischen Adorno und Lukács – exoterisch und esoterisch – und klären über die Differenzen zwischen den beiden Denkern auf. Danach kann man sich bei Detlev Claussen über die Übergänge und Brüche zwischen Kritischer Theorie und Marxismus informieren – von einem Zeitzeugen, aber ohne jede Erinnerungstrunkenheit. Dass Agnes Heller für die Einleitung gewonnen werden konnte, und sie, wie jedes Mal, Neues zu sagen hat, veredelt den Band. Wer Heller liest, der weiß eben auch, dass Theorie für den Menschen gemacht wird. Und trotz aller Unkenrufe blasierter Dogmatik: eben nicht umgekehrt.

Rüdiger Dannemann schreibt seine Wiederaneignungsgeschichte des Verdinglichungsbegriffs weiter, wobei die Bemerkungen zu Martha Nussbaum, aber auch zu Axel Honneth kritisch zu diskutieren wären. Ein wenig mehr Mut zum gegen-den-Strich-bürsten, gerade im Hinblick auf metaphysische Fallstricke, die sich in deren Entkernungsarbeiten gegenüber Lukács‘ Erbe zeigen, wäre wünschenswert gewesen. Sein systematisch ausformulierter Appell hingegen, dem Verdinglichungsprojekt Gegenwartstauglichkeit zu attestieren, kann nur unterstützt werden. Alle anderen Beiträge liefern auf hohem sprachlichen, begrifflichem und systematischen Niveau Spezialprobleme, die zugleich aber mit und gegen Lukács die unabgegoltenen Elemente eines ganz eigenartigen Theorieprofils herausarbeiten.

Wünsche? Vielleicht öffnet man sich nicht nur nach „links“, um etwas zu verstehen. Lukács hat das jedenfalls nicht getan. So wären Laubes Arbeit über den Historismus und Joas‘ Arbeiten über die Wandelbarkeit religiöser Argumentationsmuster, ja selbst Elemente der neuen radikalen politischen Theologen in den USA einmal mit dem Ungarn abzugleichen. Aber das kommt vielleicht noch.

Schließlich: Man vergleiche diesen Sammelband einmal mit dem gänzlich anders gearteten von, Rahel Jaeggi und Daniel Loick herausgegeben Tagungsband „Nach Marx“ (Suhrkamp, 2013). Hält man sich nicht dabei auf, dass sich die Milieus und Interessen in Sachen „Marx und seine Interpreten“ niemals zur Deckung bringen lassen werden, so kann man dennoch konstatieren: Es bewegt sich was. Und die bornierte Formelhaftigkeit, die nichts als nur sich selbst ins Recht setzen will, kann man, falls man dazu in der Lage ist, ruhig hinter sich lassen. Die Zeit drängt. Der Sammelband zeigt auch, wo noch etwas zu holen ist.

Titelbild

Hanno Plass (Hg.): Klasse. Geschichte. Bewusstsein. Was bleibt von Georg Lukacs‘ Theorie?
Verbrecher Verlag, Berlin 2015.
317 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783957320056

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