Die Entfaltung eines Schriftstellers

Theo Buck bejubelt Hans Joachim Schädlich

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das von Theo Buck verfasste Buch über Hans Joachim Schädlich läuft auf die unausgesprochene Forderung hinaus: Der nächste Nobelpreisträger für Literatur kann eigentlich nur Schädlich heißen. Zwar wurde der 1935 in Reichenbach im Vogtland geborene Schriftsteller bereits mit über zwanzig Preisen überhäuft, aber die Krönung fehlt noch. Aber warum sollte es „nur“ der Nobelpreis für Literatur sein? Eigentlich hat der unermüdliche Kämpfer für seinen Einsatz im Kalten Krieg auch den Friedens-Nobelpreis verdient, denn er hat sich nach Auffassung seines Biografen „als ein scharfer Kritiker in der Tradition von Aufklärung, Humanismus und Demokratie“ erwiesen. Buck verweist auch darauf, dass Schädlich dotierte Preise nicht nur verdient, sondern auch nötig habe: Er sei nämlich „kein Autor, der, wie etwa Günter Grass oder Martin Walser, vom Verkauf seiner Bücher gut leben kann“, denn „seine Bücher bleiben vom breiten Lesepublikum weithin unbeachtet“.

Für den Germanisten ist diese Ignoranz von Seiten der Leserschaft nicht nachvollziehbar, denn schließlich ist nach seiner Auffassung Schädlich einer der bedeutendsten, ja eigentlich (was man zwischen den Zeilen lesen kann) der bedeutendste deutschsprachige Schriftsteller der Gegenwart: „Schädlich gehört zu den wenigen international beachteten deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart.“ Er sei „ein sicher und nüchtern urteilender, politisch engagierter Autor“, „ein Chronist besonderer Art“, ein „Meister der Verbindung von historischen Zeugnissen mit eigener Erfindung.“ Er vermittle erzählerisch „die wesentlichen gesellschaftlichen Themen unserer Zeit an konkreten Beispielfällen: die verheerenden Auswirkungen der faschistischen und kommunistischen Diktaturen, deren Verrat am Menschen, wie überhaupt die Bedrohung des Humanen in der Geschichte.“ Schädlings „literarisch-gelassen ausgetragener Kampf“ gelte ebenso „der lähmenden Selbstgenügsamkeit“. Buck ordnet ihn daher in die Reihe der besten Literaten der Weltliteratur ein. Er sei „unzweifelhaft“ ein Autor, der seit der Veröffentlichung seines Buchs „Mal hören, was noch kommt / Jetzt, wo alles zu spät is“ in „einer von Joyce, Henry Müller und Beckett durchgesetzten Literaturtradition stehe.“

Aus allen Epochen von der Antike bis zur Gegenwart greift sich Buck bekannte Namen heraus und stellt Schädlich mit ihnen auf eine Stufe. Ein Beispiel: „Zweifellos kann man Äsop als einen Wahlverwandten Schädlichs betrachten.“ Schädlichs Bücher seien „Bravourstücke“, die „typisch Schädlich’sche Erzählrede“ mache „ihm keiner nach“, behauptet Buck und fasst seine Bewunderung immer wieder in Sätzen wie diesen zusammen: „Mit seiner Erzählkunst gehört er zu den wenigen begnadeten ‚indirekten‘ Pädagogen, deren didaktische Kommunikation ohne Erziehungspose auskommt.“ In überschwänglichen Lobeshymnen feiert Buck den Schriftsteller Schädlich als „Minimalisten mit maximaler Wirkkraft“. Von Anfang an seien „Präzision, Knappheit, ‚Röntgenblick‘ auf die Wirklichkeit, dynamische Transformation des Faktischen, Parabelcharakter, Ironie und kritische Verve“ die wesentlichen Elemente von Schädlichs Schreibmerkmalen gewesen. Stets erschließe Schädlich mit seinen „farbenreich geschilderten, spannungsvollen, atmosphärisch dichten“ Erzählungen „dem Leser die ganze Ambivalenz des Menschseins.“ Klar, dass sich „die Entfaltung eines Schriftstellers“ nur „in der Freiheit“ vollziehen kann, und die gibt es nach Bucks Erkenntnis natürlich nur im Westen. Also blieb dem in der DDR aufgewachsenen Schädlich nicht anderes übrig, als seine Ausreise in die BRD zu betreiben. Er musste „den diktatorischen Zensur-Staat und dessen Denk- und Sprachmonopol für immer hinter sich lassen“, was ihm am 10. Dezember 1977 tatsächlich gelang: „Mit der Überfahrt über die Zonengrenze [!] wurde der ‚eingereiste Ausreisende‘ wirklich zum freien Schriftsteller.“ Im „Paradies“ angekommen, hätte er eigentlich aufblühen müssen, aber das Gegenteil trat ein: Er erkrankte schwer und musste sich in psychiatrische Behandlung begeben. Seine Lebenskrise, die auch zur Scheidung seiner zweiten Ehe führte, dauerte fünf Jahre. Verständnisvoll beschreibt Buck, dass die Psychiaterin Ursula Ploog, die Schädlich behandelte, seine neue Lebensgefährtin wurde. Von ihr hat er sich 1992 getrennt und lebt danach als „Einzelexistenz“.

Es fällt auf, dass bei allen Auseinandersetzungen, die Schädlich führt, Buck sich stets bedingungslos auf seine Seite schlägt. Diese Einstellung nimmt zuweilen sogar groteske Züge an. Als zum Beispiel Klaus Bednarz dem Schriftsteller 1992 zu seinem umstrittenen Roman „Schott“ die Frage stellte, ob es sich um „experimentelle Literatur“ handele, brach Schädlich den Dialog ab. Buck erklärt dies so: Bednarz sei „in herkömmlichen literarischen Kategorien befangen“ gewesen und habe „die grundfalsche Frage“ gestellt. 

Angriffe auf Schädlich verbieten sich nach Buck von selbst, denn: Schädlich sei ein Schriftsteller, „dessen Leben und Werk durchgängig bezeugt, daß er sich stets gegen jegliche Form von Rassismus und diktatorische Gewalt gewandt hat. Unverkennbar geht von all seinen Texten eine tiefe Humanität aus. Stets will er in der Wahrheit leben und schreiben. Wer deshalb Schädlich in Sachen Menschlichkeit juristisch belangt, unterliegt von vornherein einem groben Irrtum.“

Wenn dies trotzdem jemand unternimmt, dann kann dies nur ein Irrtum sein oder auf Böswilligkeit beruhen, wie Buck in Bezug auf den Fall Jerzy Zweig feststellt: „Zweifellos haben Jerzy Zweig und sein Anwalt den Text über die Begebenheiten in Buchenwald falsch verstanden oder falsch verstehen wollen.“ Jerzy Zweigs Schicksal wurde von Bruno Apitz in seinem Roman „Nackt unter Wölfen“ dargestellt. Nach Schädlichs Auffassung hat er „als unschuldiges Opfer herhalten“ müssen und sei für die „wahrheitswidrige Propaganda der DDR“ missbraucht worden. Jerzy Zweig hat Schädlich – nach Bucks Meinung zu Unrecht – verklagt, der Prozess endete mit einem Vergleich.

Als der Schriftsteller in der DDR lebte, hat er Renate Steinitz, die Tochter des angesehenen Ethnologen Wolfgang Steinitz, geheiratet. Der Schwiegervater, antifaschistischer Widerstandskämpfer und einflussreiches SED-Mitglied, war ihm in vielerlei Hinsicht behilflich, sodass er beim Studium in Leipzig und Berlin alle seine Wünsche realisieren konnte und 1959 als Diplom-Germanist ins Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften übernommen wurde. 1964 hat Schädlich Krista Maria Hübener, Tochter des Landrats von Rügen, kennen gelernt, die er nach der 1965 erfolgten Trennung von seiner ersten Frau Renate heiratete.

Vor seiner Ausreise aus der DDR hatte Schädlich von dort das Manuskript seines Buch „Versuchte Nähe“ in die BRD geschmuggelt. Es wurde vom Rowohlt-Verlag veröffentlicht und 1977 auf der Frankfurter Buchmesse erfolgreich vermarktet. Schädlich hatte zahlreiche West-Kontakte geknüpft und zusammen mit anderen Autoren gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann protestiert, weshalb die DDR nach Verhandlungen bereit war, ihn ausreisen zu lassen.

„Ersichtlich ist der Meister parabolischen Erzählens im Begriff, sich langsam, aber sicher in die Weltliteratur einzureihen.“ Dieser vorsichtig formulierte Satz überrascht, denn Bucks Buch legt nahe, dass Schädlich im Olymp längst angekommen ist und das Präsidium übernommen hat.

Buck stellt alle Buchveröffentlichungen von Schädlich von „Versuchte Nähe“ (1977) bis „Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II.“ (2012) vor. Der Roman „Narrenleben“, 2015 erschienen, entstand zu der Zeit, als Buck seine Buch schrieb und konnte daher nicht erfasst werden. Der 1987 erschienene „Tallhover“ ist Schädlichs bekanntestes Buch. Buck bezeichnet den „Text als Gegenentwurf zu einem Bildungsroman“. Er entfalte „ein punktuell verkürztes, im Detail aber äußerst genaues Bild der realhistorischen Entwicklungen von der Restaurationsperiode bis zur DDR-Diktatur“. Buck konstatiert: „Die Titelfigur konfrontiert uns mit der fatalen Inkarnation des immergleichen Spitzels der Macht.“ Auch Günter Grass war von der Figur beeindruckt und „erbat sich von Schädlich die Erlaubnis, ‚eine Erweiterung zu erfinden‘.“ Nach Buck blieb Schädlich „nichts anderes übrig, als seine Zustimmung zu geben“. Grass machte aus dem Spitzel Tallhover in seinem Roman „Ein weites Feld“ einen Hoftaller, was zum Bruch der Freundschaft führte.

Über diesen Streit berichtet Buck leider nur kurz. Da es sich um eine prototypische Auseinandersetzung handelt, anhand der sich Schädlichs Auffassungen aufzeigen lassen, hätte man sich eine eingehendere Darstellung gewünscht. Denn Günter Grass hatte Schädlich nach dessen Übersiedlung in die BRD großzügig geholfen und ihn in vielfacher Weise unterstützt. Dass Schädlich die Freundschaft aufkündigt, weil Grass seine „Tallhover-Figur populistisch verkehrt, also verfälscht“ habe „durch die Verharmlosung des Stasi-Spitzel-Systems“, lässt tiefgreifende Rückschlüsse auf seine Person zu. Für Schädlich ist der Antikommunismus das beherrschende Thema, von dem ausgehend er Freund und Feind in Schubladen einordnet.

Bei einer Biografie kommt es nach Buck „darauf an, Leben und Werk in die richtige Relation zueinander zu bringen.“ Dies ist ihm selbst aber leider nicht gelungen. Er hat es offenbar gemerkt, denn er schreibt: „Es ist mehr eine Werkbiographie geworden als eine detaillierte Lebensbeschreibung. Entscheidend war für mich die versuchte Wiedergabe der Wirkungsmacht seiner Bücher, ihrer formalen und fiktionalen Erfindungskraft. Mir erscheint nämlich das Werk auch als eine indirekte Autobiographie.“

Schädlichs Lebensumstände werden stets mit einer ideologischen Schablone erfasst. Dies geht schon aus der Kapitel-Aufteilung des Buchs hervor. „Leben unter ‚diktierten Verhältnissen‘ im Nationalsozialismus und in der SBZ/DDR“ ist das erste Kapitel überschrieben, „Die Entfaltung eines Schriftstellers in der Freiheit“ lautet die Überschrift zum zweiten Kapitel. Die DDR wird permanent mit der NS-Diktatur gleichgesetzt, ja eigentlich legt Buck nahe, dass der Terror in der DDR noch größer gewesen sei als im „Dritten Reich“. „Schädlichs Leben und Werk kann in den Anfängen als eine individuelle Gegenparabel zum Totalitarismus des Dritten Reiches und der DDR gesehen werden“, behauptet Buck, denn „noch als Kind und dann während der ganzen Jugendzeit sowie danach in Studium und Beruf“ habe er „die aufs übelste Weise ‚lehrreichen‘ Schulen beider Diktaturen“ durchlaufen.

Merkwürdig: Buck schreibt, Schädlich hielte sich Ideologen „gezielt vom Leibe“. Wie kann er dann einer seiner engsten Freunde geworden sein? Eine Einführung in das Leben und das Werk von Hans Joachim Schädlich ist durchaus wünschenswert. Theo Buck hätte sie schreiben können, denn er bringt viele Voraussetzungen mit, die zur Abfassung eines solchen Buchs nötig sind. Aber leider fehlen ihm auch entscheidende Kategorien, nämlich Sachlichkeit in der Darstellung, Distanz und Objektivität. Er weiß, dass Biografien „durch die zusammengestellten Informationen über gewisse Lebensumstände den Zugang zur poetischen Reflexion eines Autors erleichtern“ können. Solche Denkanstöße hat er durchaus geliefert, es ist aber mehr als fraglich, ob sie Reflexionen in seinem Sinn auslösen werden. Denn penetrante Einseitigkeit erreicht selten ihr Ziel; sie löst vielmehr Abwehrreaktionen aus. So muss man als Fazit festhalten: Bucks übertrieben einseitige Parteinahme ist als Freundschaftsdienst sicherlich gut gemeint, aber für Schädlich schädlich.

Titelbild

Theo Buck: Hans Joachim Schädlich. Leben zwischen Wirklichkeit und Fiktion.
Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2015.
279 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783412224493

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