Wende im Tal der Ahnungslosen

Peter Richters „89/90“ blendet zurück in die Zeit, in der Deutschland wieder eins wurde

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Endlich mal ein Wendebuch, das diesen Namen auch verdient. Keine DDR-Reprise, kein Identitätsgekrampfe im wiedervereinigten Deutschland, weder Ostalgisches noch Westalgisches – nein, ein semifiktionaler Bericht aus jenen zwei Jahren, die man sich später – fälschlicherweise – angewöhnt hat, die „Wendejahre“ zu nennen: „89/90“. Doch die vom Rezensenten mit Bedacht gewählten Worte „Bericht“ und „semifiktional“ deuten schon an, was der vorliegende Text eigentlich nicht ist – ein Roman nämlich.

Von dem 1973 in Dresden geborenen und heute in New York für die Süddeutsche Zeitung arbeitenden Peter Richter ist bereits 2004 die Reportage „Blühende Landschaften. Eine Heimatkunde“ erschienen. Der ernüchternde Report eines Ostdeutschen, der zur Wendezeit noch im Gymnasialalter war und in den frühen 90ern zum Studieren in den Westen aufbrach, enthielt neben vielen unterhaltsamen Episoden auch eine Art Fazit – und das lautete so: „Ich bin 1993 nach Hamburg gezogen und dort zu etwas geworden, von dem ich vorher gar nicht wusste, dass es das überhaupt gibt: zum Ostdeutschen.“

Das amüsante Buch reihte sich ein in eine Reihe von Texten, mit denen um die Jahrtausendwende die Kinder und Enkel jener hervortraten, die einst aus der DDR die große Alternative zum kapitalistischen Westen machen wollten. Jetzt befragten junge Autoren wie Jakob Hein, Claudia Rusch, Julia Schoch, Toralf Staud, Annette Simon oder Jana Hensel die Generationen ihrer Väter und Mütter, Großväter und Großmütter danach, was auf dem Weg ins Goldene Zeitalter schiefgegangen war. Und das ganz ohne Häme, sondern mit ehrlichem Interesse an einer Vergangenheit, die so schlecht doch nicht gewesen sein konnte, wenn ihre unmittelbaren Vorfahren, Männer und Frauen, denen sie gelernt hatten, Vertrauen entgegenzubringen, sich einst dafür einsetzten.

„Blühende Landschaften“ stach aus der Vielzahl jener Texte damals durch Witz, Lebendigkeit und die Tatsache heraus, dass es beide Seiten – den alten Osten und den neuen Westen – in den Blick und aufs Korn nahm. „89/90“ nun, punktgenau im 25. Jahr der deutschen Wiedervereinigung erschienen, erinnert den Leser an vielen Stellen an jenen 11 Jahre zurückliegenden Report. Wieder werden wir mitgenommen in Richters Heimatstadt Dresden und erleben die Zeit kurz vor, während und nach 1989 aus der Perspektive eines Abiturienten. Wer sich dabei an die beiden anderen Dresdner Autoren erinnert, die mit umfangreichen Romanen über jene Jahre Berühmtheit erlangten, Uwe Tellkamp und Ingo Schulze nämlich, liegt nicht falsch, muss sich allerdings darauf einstellen, bei Richter auf eine Art von Realität zu treffen, die sich von jener der feingeistigen Salons des bürgerlichen Dresdens hoch über den Niederungen des Staatssozialismus doch ziemlich unterscheidet.

Statt in die Villen jener, die sich um den DDR-Alltag nicht allzu sehr bekümmerten, nimmt uns das Ich von „89/90“ nämlich dahin mit, wo es wehtut. Gelegentlich sogar sehr weh.Denn der Ich-Erzähler und sein kleiner Freundeskreis, den man am Beginn des Buches bei harmlosen illegalen Freibadbesuchen nach Einbruch der Dunkelheit kennenlernt, nutzen eine Zeit, in der die Ordnung nach und nach verloren geht, ehe mit der wiederhergestellten staatlichen Einheit Deutschlands neue Ordnungsmächte in Dresden Einzug halten, zu höchst anarchischen Späßen. Das reicht von der Hausbesetzung über chaotische Punkkonzerte in aus dem Boden schießenden absonderlichen Locations mit noch absonderlicheren Namen bis zu den Straßenschlachten, die sich erst Ausreisewillige mit der Volkspolizei, später dann Linke und Punks mit Faschisten liefern.

Zwei Buchteile – analog zu den beiden Jahren, über die er berichtet –, 17 Unterkapitel, einen Epilog, 134 Fußnoten und knapp 400 Seiten benötigt Richter für seinen Blick zurück. Manches daran ist drastisch, vieles humorvoll, einiges auch überflüssig, wenn man es zum dritten Mal lesen muss. Das meiste aber gibt dem Leser einen guten Einblick in eine Zeit des Wandels, wo Jugendliche einerseits in Theorie und Praxis des letzten Wehrkundeunterrichts noch erlernten, wie sie im Ernstfall ihren Staat DDR zu verteidigen hatten, während sie nahezu gleichzeitig miterleben mussten, wie dieser Staat, einmal ins Taumeln geraten, ein Machtvakuum hinterließ, in dem nach Orientierung suchende junge Menschen, die noch vor Kurzem Klassenkameraden und Freunde gewesen waren, sich plötzlich mit Baseballschlägern in den Händen gegenüberstanden.

An knapp einem Dutzend Personen, die sich um seinen Erzähler herum gruppieren und allesamt mit ihren Spitznamen oder durch bloße Namenskürzel eingeführt werden, beschreibt Richters Roman das Erwachsenwerden einer Generation ohne Vorbilder im Leben. Während Eltern und Lehrer genug mit sich selbst und ihrer Neuorientierung zu tun haben, probieren die von ihnen Alleingelassenen aus, was das Chaos jenes „fabelhaften Jahrs der Anarchie“, wie der Berliner Autor André Kubiczek in seinem letzten Romantitel jene Zeit nannte, ihnen anzubieten hatte: erste Liebe und blutige Straßenkämpfe, trotziges Sich-Klammern ans Gewesene und radikales Sich-Abwenden von den Verheißungen der Warenwelt. Wut und Neugier, Gewalt und Widerstand, Hilflosigkeit und Rebellion. Das macht manchmal den Eindruck eines verantwortungslos geführten, aber durchaus heiteren Geländespiels nach Schulschluss. Gelegentlich aber scheint auch etwas Gefährlicheres durch, ein aus Ohnmacht und dem Gefühl des Überrolltwerdens resultierender Hass, der sich gegen all jene wendete, die den gesellschaftlichen Umbrüchen im Osten Deutschlands noch hilfloser gegenüberstanden.     

„Als […] die Sonne zum letzten Mal unterging über dem ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden, dem kleinen Scheißland, das aber irgendwie dann doch das unsere war, bezogen wir unsere Posten, deponierten die Munition und hielten uns bereit“, heißt es auf einer der letzten Seiten von Richters Buch. Für den ich-Erzähler und seine Freunde geht es in dieser Szene um die Verteidigung eines besetzten Hauses in der Dresdner Neustadt gegen einen in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 geplanten Angriff der rechten Szene, der allerdings ausbleibt. Den nächsten Tag – es ist der erste „Tag der deutschen Einheit“ – verbringt man dann hoch oben über dem Elbtal, hinabschauend ins Grün und ahnend, wie bald sich das alles verändern würde: „Es würde betoniert werden […] bis jede alte Hitlerautobahn wieder als strahlend weißes Band in der Landschaft lag. Es würden Häuser in unsere Städte gebaut werden, die hässlicher, engherziger, dümmer aussehen würden als alles, was jemals gebaut worden war […] Unsere Schmuddelecken würden verschwinden […] Wir konnten das ahnen, wir hatten den Westen gesehen, besuchsweise, und wir hassten es jetzt schon, dass wir auch noch Danke sagen sollten dafür.“

Titelbild

Peter Richter: 89/90. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2015.
413 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783630874623

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