Über den Abgrund hinweg

Die Korrespondenz zwischen Georges Perec und Eugen Helmlé

Von Olaf KistenmacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Kistenmacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der französische Schriftsteller Georges Perec wird seit einigen Jahren in Deutschland wiederentdeckt. Im Halbjahresrhythmus legt der Schweizer Verlag diaphanes lange vergriffene Perec-Titel neu auf, die nur noch antiquarisch zu überzogenen Preisen zu bekommen waren. Lange kannte man Perec (1936- 1982), der 1967 bei der Gruppe „L‘ Ouvroir de Littérature Potentielle“ (Oulipo) aufgenommen wurde, für seine amüsanten Sprachexperimente. So schrieb er mit La disparation einen Roman, in dem er ausschließlich Worte verwendete, die kein E enthielten. Auf Deutsch müsste der Titel eigentlich „Das Verschwinden“ lauten; doch da der Übersetzer Eugen Helmlé sich die gleiche Regel auferlegte, bekam die deutsche Fassung den Titel Anton Voyls Fortgang.  In der aktuellsten Wiederveröffentlichung Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler wird eine weitere Facette in Perecs Werk erkennbar: die „soziologische“. Perec war beeinflusst von den marxistischen und poststrukturalistischen Debatten im Frankreich der 1960er Jahre; er las Georg Lukács, kunsttheoretische Schriften des großen sowjetischen Filmemachers Sergej Eisenstein und war befreundet mit dem Stadtsoziologen Henri Lefebvré. In Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler fordert Perec, das Staunen über das Alltägliche zu erlernen, wie es der Titel der deutschen Ausgabe von L‘Infra-ordinaire vormacht: „Stellen Sie Ihrem Kaffeelöffel Fragen. Was ist hinter der Tapete? Wie viele Bewegungen sind notwendig, um eine Telefonnummer zu wählen? Warum? Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler?“

Auf den ersten Blick weist der im Ritter Verlag 2014 erschienene Band, Georges Perec: Tisch-Ordnungen. Essay von 1973 bis 1982, viele Überschneidungen mit den bei diaphanes veröffentlichen Essaysammlungen auf.  Doch bei dem Text „Still Life/Style Leaf“ handelt es sich um eine wichtige Korrektur, denn die vermeintliche Wiederholung im Text birgt in Wirklichkeit über 40 kleine, aber bedeutsame Variationen, wie Sabine Mainberger im Nachwort hervorhebt. So zeigt beispielsweise im ersten Teil der Display eines Taschenrechners die Ziffern 315308, die, auf den Kopf gestellt, sich als das Wort BOESIE lesen lassen.  Im zweiten Teil des Textes, der scheinbar den ersten wiederholt, sind es die Ziffern 35079, auf dem Kopf als Wort gelesen: GLOSE.  Mainberger zeigt in ihrem Nachwort außerdem, wie Perecs Werk, das er selbst in „Denken/Ordnen“ in vier Gruppen unterteilt, insgesamt zusammenhängt: So lassen sich die alltagssoziologischen Fragestellungen im Rahmen des umfassenderen Projekts lesen, die Bedingungen der Möglichkeit eigener Identität zu ergründen. Die eigene Identität ist stets das Produkt der eigenen – individuellen und kollektiven – Geschichte; entsprechend dreht sich, so Mainberger, Perecs Werk auf seine spielerische Weise zugleich um „Fragen der Erinnerung und des Gedächtnisses“, wozu auch das „fiktive Geschichtenarchiv“ in Perecs größtem Roman Das Leben. Gebrauchsanweisung zu zählen ist.  Das Verfahren, sich der eigenen Identität über Äußerlichkeiten zu nähern, und das Kreisen um den Verlust der Eigentlichkeit erinnern nicht nur an den französischen Poststrukturalismus – sie sind zugleich als eine spezifisch jüdische Erfahrung nach der Shoah lesbar. In dem Begleitbuch zu einem Film über Ellis Island, den Perec mit Robert Bober drehte, schreibt Perec, dass die Tatsache, Jude zu sein, anders als bei Bober nicht auf die jüdische Tradition verweist, sondern „etwas Ungestaltes, an der Grenze des Sagbaren“.

Perecs Leben war durch einen existenziellen Verlust geprägt. Er war das Kind polnischer Juden, die nach Frankreich emigriert waren. Sein Vater fiel im Kampf gegen Nazi-Deutschland, seine Mutter wurde nach Auschwitz deportiert und ermordet. Perec selbst überlebte nur, weil er bei Verwandten unter falscher Identität unterkam. In seiner Autofiktion W oder die Kindheitserinnerung rekonstruiert er in Ansätzen die Geschichte seiner Familie. An anderer Stelle schildert er, dass seine scheinbar rein formalen Experimente wie der Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen oder die stadtsoziologischen Essays in Träume von Räumen Beiträge zu einem umfassenden autobiografischen Projekt sind, das Perec nie fertigstellen sollte. Vor dem Hintergrund dieser Verschränkung von Werk und Autor ist es bedauerlich, dass David Bellos‘ umfangreiche Biografie Georges Perec. A Life in Words noch nicht übersetzt wurde. Am nächsten kommt man dem Menschen Georges Perec einstweilen durch seinen Briefwechsel mit seinem Übersetzer Eugen Helmlé, das dessen Freund und Kollege beim Saarländischen Rundfunk, Ralph Schock, bei Conte herausgegeben hat.

Eugen Helmlé arbeitete 1966 schon an einer Übersetzung von Perecs Debütroman Die Dinge, als er sich an den jungen, mit dem Prix Renaudot ausgezeichneten Autor wandte. Perec antwortete bereitwillig auf die Fragen des Übersetzers, wollte allerdings am Schluss wissen, ob dem Deutschen „die 20 bis 30 Zitate“ aus Gustave Flauberts Éducation sentimentale aufgefallen seien, die er in seinem Roman versteckt hatte. Das waren sie nicht. Bei seinem zweiten Roman, Ein Mann der schläft, benutzte Perec das gleiche Verfahren, wies jedoch seinen Übersetzer vorsorglich darauf hin, dass er „ein gutes halbes Dutzend Autoren zu Hilfe gerufen [habe], aber oft ihre Gedanken umgeformt, darunter Kafka, Melville, Dante, Joyce etc.“.  David Bellos vermutet allerdings, dass Perec viel weiter gegangen ist und dass fast jeder Satz in Ein Mann der schläft zumindest ein leicht modifiziertes Zitat ist. Der Verlust einer eigenen Stimme und Sprache thematisierte Perec in seinem ersten, allerdings erst posthum veröffentlichten Roman selbst. Der Condottiere handelt von einem Kunstfälscher, der daran verzweifelt, dass er lediglich andere kopieren kann, aber unfähig ist, ein eigenes Bild zu malen.

Mit dem Briefwechsel über Die Dinge beginnt mehr als eine freundschaftliche Verbindung zwischen einem Autor und seinem Übersetzer (Helmlé sollte in den folgenden Jahren ein Großteil von Perecs Werken ins Deutsche übertragen). 1969 lasen beide im Saarländischen Rundfunk, was sich auf der dem Buch beiliegenden CD nachhören lässt, und schon kurz darauf erarbeiteten sie gemeinsam das Hörspiel Die Maschine, das nur auf Deutsch existiert, in einer Sprache, die Perec nicht beherrschte. Das berühmte Oulipo-Mitglied zeigt sich in dem Briefwechsel als ein wahres Ideenfeuerwerk. Es ist auf der anderen Seite Helmlé, der Perec zu der schlanken Endfassung führt, in der drei Computer das Goethe-Gedicht Wandrers Nachtlied analysieren. Das Vorhaben, ein Hörspiel zu entwickeln, in der die Sprache selbst der einzige Gegenstand ist, ohne eine irgendwie geartete Handlung auszuarbeiten, führte dazu, dass Die Maschine um drei Begriffe kreist: „die Dichtung, das Schweigen, der Geist (oder der Fehler)“.  Zwar zählen die Computer korrekt die Anzahl der Substantive, Verben, Zeilen et cetera, aber sie verfehlen den Sinn der Poesie – mitunter auch auf bizarre Weise. Helmlé schreibt, ihm gefalle es sehr, dass eine Maschine an einer Stelle „Deutschland über alles“ mit dem Gedicht assoziiert.

Damit gibt er zugleich einen Hinweis, dass er wusste, über welchen Abgrund sich die beiden Poeten verständigten. Es zeugt von großem Vertrauen, dass Perec Helmlé 1971 von seinem „große[n] autobiographische[n] Projekt“ berichtete, das zurzeit ruhe.  Es handelt sich um die Rekonstruktion eines Familienstammbaums, Der Baum. Geschichte Esthers und ihrer Familie. Zur gleichen Zeit arbeitete Perec an der autobiografischen Novelle W oder die Kindheitserinnerung, die er mit Helmlé 1975 im Saarländischen Rundfunk präsentieren sollte. Anfänglich wollte Perec nicht nach Deutschland reisen. Bei seinem ersten Saarbrückenbesuch sagte er, dass er nur drei deutsche Worte kenne: „Bier“, „Gemütlichkeit“ und „Konzentrationslager“. 1967, als sich Perec und Helmlé noch siezten, adressierte Perec einen Brief an Helmlé in „Deutschland/über alles“. Perecs Cousine hat dem Herausgeber Ralph Schock geschildert, dass Perec Helmlé zunächst mit Misstrauen begegnet sei. „Er hat ihm misstraut, weil er Deutscher war. […] Aber nicht Georges hat mir davon erzählt, sondern Eugen. Später hat das keine Rolle mehr gespielt. Später haben sie einfach zusammen gearbeitet.“ So hatte auch der erwähnte Fehler in Die Maschine eine tiefere, abgründige Bedeutung und war mehr als schwarzer Humor. Dabei zeigte Helmlé für eine Feindseligkeit gegenüber den Deutschen großes Verständnis; bei Verhandlungen mit dem US-amerikanischen Sender RIAS ärgerte er sich, die Amerikaner seien „noch bürokratischer als die Deutschen (sie haben sicher deutsche Wurzeln)“.  Vor allem wenn es um Verträge und Honorarzahlungen ging, kämpfte Helmlé für seinen französischen Freund und Kollegen.

1969 schickte Helmlé für die Arbeit an dem Roman ohne E, La disparation, eine Liste deutscher Wörter, von denen „die meisten“, wie er schrieb, pejorativ seien oder „eine pejorative Bedeutung bekommen, sobald sie sich auf Juden beziehen“.  Es ist, wie Élise Clément und Tilla Fuchs in ihrem Nachwort schreiben, schwer, über diese Dimension direkt etwas aus dem Briefwechsel zu erfahren, denn die beiden sparten Persönliches oft aus. Auch über die Gespräche, die die beiden bei ihren Treffen geführt haben, findet sich in den Briefen kaum etwas. Manches, was sie sich in Briefen schreiben, klärt man im 21. Jahrhundert per E-Mail oder SMS. Doch zumindest im Fall von Georges Perec entsprach diese Zurückhaltung seinem Charakter. In W oder die Kindheitserinnerung bekannte er, Schreiben sei für ihn wie Versteckspielen, bei dem das Kind nicht wisse, was es mehr „fürchtet oder wünscht: versteckt bleiben“ oder entdeckt zu werden.

Dank des Verlags diaphanes ist uns das facettenreiche Werk des französischen Autors nun wieder zugänglich. Für Leserinnen und Leser ist es etwas verwirrend, dass sich gleich mehrere Verlage Perec angenommen haben. Der bei Ritter erschienene Essayband Tisch-Ordnungen macht zudem darauf aufmerksam, wie wichtig eine präzise Übersetzung bei einem Schriftsteller ist, der das Versteckspiel liebte. Es ist davon auszugehen, dass die Perec-Fangemeinde in den kommenden Jahren zunehmen wird. Für diese Fans gibt es bereits den Briefwechsel mit Eugen Helmlé.

Titelbild

Georges Perec: Tisch-Ordnungen. Essays von 1973 bis 1982.
Ritter Verlag, Klagenfurt, Graz 2014.
125 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9783854155027

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Georges Perec: Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler.
Diaphanes Verlag, Zürich, Berlin 2014.
99 Seiten, 10,95 EUR.
ISBN-13: 9783037348819

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ralph Schock (Hg.): »Cher Georges« – »Cher Eugen«. Die Korrespondenz zwischen Eugen Helmlé und Georges Perec (1966 - 1982).
Conte-Verlag, St. Ingbert 2015.
410 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783956020339

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