Panem für Erwachsene

Viktor Pelewin spielt in der Utopie „Snuff“ auf anregende Weise mit den Versatzstücken unserer Kultur

Von Roman HalfmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Halfmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ferner Zukunft schwebt eine gigantische Wohnstätte namens Big Byz oder Byzantium über der Urkaine [sic!]. Unten leben die Verlumpten, die eigentlich Urks heißen, doch aufgrund diverser Lautverschiebungen im Laufe der Zeit zu martialischen Orks mutierten; eine verbalisierte Verrohung, die den Byzantiniern ganz gelegen ist, immerhin bemüht man sich stetig darum, die „dort unten“ zu kriminalisieren und zurecht zu stutzen, um es sich in der Stahlkugel gemütlich machen zu können. Einzige Verbindung der Welten ist ein stecknadelgroßes Portal, das einmal im Jahr zum Schreckensort eines kalkulierten, überschüssige Aggressionen abbauenden Krieges wird, dessen Setting gleichfalls genutzt wird, um Snuff-Filme zu produzieren, eine Mischung aus Porno und Kriegsfilm.

Damit ein solcher Krieg tatsächlich wie beabsichtigt wirkt und nicht zur Show verkommt, sind ganzjährig unzählige byzantinische Medienkünstler mit ihren fliegenden Kameras unterwegs, verlumpte, schnaufende Orks fakend und so die nötige Aggression anfachend.

Einer dieser Künstler ist Demian-Landulf Damilola Karpow. Er ist mit der Beste seiner Zunft und zugleich Erzähler des Romans, der auf der einen Ebene davon berichtet, wie der junge Ork Grimm durch einige glückliche Umstände nach London gerät und dort mit Hilfe eines Versatzstücke kompilierenden Computers, Manitu genannt, zum Dichter reift und am Ende das System zerstört. London selbst existiert natürlich in dieser Zukunft längst nicht mehr und Grimm vegetiert gleich aller anderen Bewohner der Big-Byz-Kugel zwischen Panorama-Bildschirmen, die lange vergangene Aussichten projizieren. – Tatsächlich ist das Dasein in der schwebenden Stahlkugel alles andere als gemütlich: Die Wohnungen sind mit Bildschirmen verkleidete Erker, Illusionen vorgaukelnd, und das politische System eine pervertierte Symphonie politischer Korrektheit, auf Smart Free Speech basierend, einer komplexen, über Jahrhunderte ausgefeilten Kontrollsprache, mit welcher die Gesellschaft stabilisiert wird. Das erleichtert das Dichten enorm: So muss man allein Begriffe in seinen Manitu eingeben und das Programm verfertigt hieraus einnehmende Verse, praktischerweise bereits gemäß der politischen Richtlinien.

Andererseits haben feministisch orientierte Lobby-Gruppen und alternde Pornostars beschlossen, sexuelle Beziehung erst ab dem 46. Jahr zu erlauben, da eben diese Stars und Feministinnen sich andernfalls diskriminiert sehen. Weshalb kaum noch Nachwuchs geboren wird und die Byzantinier sich auf dem Orkmarkt nach Babys umtun müssen. Legaler, wenngleich virtueller Sex mit Frauen unter 46 ist allein mit Hilfe von dementsprechend gestalteten Robotern denkbar, von denen auch unser Held einen besitzt: Sündhaft teuer, hat er all das mit seiner fliegenden Kamera namens Hannelore verdiente Geld investiert und erzählt in der zweiten Handlungsebene gramgebeugt vom anstrengenden Leben mit der Maschine. Kaya genannt, ist dieses Wunderwerk der Technik vielseitig einsetz- und vor allem umfänglich programmierbar. Karpow etwa maximiert die Hinterfotzigkeitseinstellung und bekommt es mit Technik zu tun, die zum Zwecke erotischer Erfüllung jedes Register nutzt und hierfür mit Grimm zu flirten beginnt, um ihren Besitzer eifersüchtig zu machen – womit die Geschichte ihren vorhersehbaren Lauf nimmt. Am Ende jedenfalls zeigt sich: Wenn der Utopist ein Idealist ist, dann der Dystopist unter dem Deckmantel flirrender Misanthropie noch weitaus vehementer.

Man merkt recht schnell, dass Pelewin eine im Grunde konventionelle Mär erzählt, angereichert gleichwohl, typisch russisch halt, mit einer Vielzahl dystopischer Elemente und irrwitziger Einfälle, die jeweils für sich durchaus anregend-verstörend sind, bis zur Hälfte des Romans die Lektüre jedoch zu einer Fleißarbeit gestalten. Hintergrundinformationen sind nur spärlich gegeben und wenn, dann zumeist so enervierend sachlich in den Kontext eingebaut, dass man eine ordentliche Portion Geduld mitbringen sollte.

Dass wiederum der bislang sich auf plattdietsche Literatur spezialisierte Verlag Tweeback den Roman, der die neue Sparte ‚Weltliteratur’ eröffnet, im Klappentext als Literarisierung des Ukraine-Konflikts preist, sei angesichts der verlegerischen Großtat und sauberen, intelligent kommentierten Übersetzung als werbestrategische Aufschneidung verziehen, wahr aber ist es nicht, hat Pelewin das Werk doch bereits 2012 vorgelegt und die Ukraine als Urkaine nur äußerst rudimentär behandelt. Gleichwohl gelingt dem Autor eine gelegentlich intelligente, jedoch immer wohltuend geschmacklose Überzeichnung heutiger Zustände, ohne gleichwohl die ausgetretenen Pfade herkömmlicher Dystopien zu verlassen oder gar die ironische Tiefe des zuletzt auf Deutsch veröffentlichten Romans „Tolstois Albtraum“ nochmals zu erreichen – so bleibt eine Art Panem für Erwachsene übrig, was ja auch kurzzeitig zu befriedigen vermag.

Titelbild

Viktor Pelewin: SNUFF. Utopie.
Aus dem Russischen von Heinrich Siemens.
Tweeback Verlag, Bonn 2015.
494 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783944985022

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