Alles oder nichts

Florian Huber beleuchtet mit „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ eindrucksvoll die Untergangsstimmung im Jahr 1945 aus Sicht deutscher und ausländischer Augenzeugen

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Auf den massiven Ledermöbeln lehnte eine Familiengruppe, die so intim und lebendig wirkte, daß man kaum glauben konnte, daß diese Menschen nicht mehr am Leben waren. Am Schreibtisch saß Dr. Kurt Lisso, den Kopf in die Hände gelegt, als ob er ausruhen wollte. Auf dem Sofa lag seine Tochter und in dem dick gepolsterten Armsessel saß seine Frau. Die Ausweise und Dokumente der ganzen Familie waren ordentlich auf dem Schreibtisch ausgebreitet.“

20. April 1945. Die Fotoreporterin Margaret Bourke-White (1904–1971), die im Gefolge der US-Truppen nach Deutschland gekommen ist, erhält in Leipzig von einem Kollegen den Tipp, zum Neuen Rathaus zu fahren. Die erste Kriegsberichterstatterin der US-Armee entdeckt den NS-Funktionär und seine Familie in einem holzvertäfelten Dienstzimmer und macht Aufnahmen, die ikonischen Status erlangen werden. Kurt Lisso, stellvertretender Oberbürgermeister und Stadtkämmerer von Leipzig, hatte am 18. April 1945 gemeinsam mit Frau und Tochter Selbstmord begangen. Mit Zyanid.

Warum sich prominente Nationalsozialisten wie Hitler und Goebbels, aber auch Funktionäre wie Lisso beim Kriegsende das Leben nahmen, liegt auf der Hand. Sie wussten, dass ihnen der Prozess gemacht werden würde. Warum aber entscheiden sich damals auch scharenweise „einfache Bürger“ für Selbstmord?

Florian Huber, promovierter Historiker, Sachbuchautor und Dokumentarfilmer, hat sich nun in „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ dem „Untergang der kleinen Leute 1945“, so der Untertitel, gewidmet. Das Buch ist in vier Teile aufgegliedert: Im ersten Teil nimmt der Autor den Leser mit nach Demmin, einer Kleinstadt im Osten Mecklenburgs, die laut Huber zwischen Ende April und Anfang Mai 1945 „zum Schauplatz einer Selbstmordwelle ohne Beispiel“ wird.

Basierend auf größtenteils veröffentlichen Dokumenten – Tagebüchern, Briefen, Berichten, Erinnerungen und Erzählungen – rekonstruiert Huber detailliert die damaligen Geschehnisse, die nur schwer zu ertragen sind: Quer durch alle Schichten, Berufe und Altersgruppen begehen in Demmin hunderte Bürger Suizid. In immer neuen quälenden Schilderungen wird der Leser Zeuge, wie sich Menschen erhängen, die Pulsadern aufschneiden, erschießen, Gift nehmen und ins Wasser gehen – und dass nicht selten, ohne vorher ihre Partner oder Familien getötet zu haben.

Angst vor der Invasion der Amerikaner, Briten und Franzosen im Westen und der Sowjets im Osten, Angst vor Rache, dem Verlust der Ehre, der Heimat, der Familie, des Lebens und des Lebenssinns – das sind laut Huber die Ursachen für die Massenselbstmorde in der deutschen Zivilbevölkerung nicht nur in Demmin, sondern im ganzen Reichsgebiet. Und diese Ängste seien nicht erst kurz vor Kriegsende aufgetreten, sondern seitdem festgestanden habe, dass der Krieg nicht zu gewinnen sei: „Die Niederlage der deutschen Armee bei Stalingrad […] war der Auslöser gewesen für eine erste Kette von Selbstmorden im ganzen Reich, die in der Furcht vor dem Bolschewismus im Speziellen und vor der düsteren Zukunft Deutschlands im Allgemeinen gründete.“

Wie viele Menschen während des Krieges in Deutschland Suizid begingen, lässt sich nicht genau beziffern, weil die Behörden damals Informationen zurückhalten. Im Jahr 1939 sollen es aber noch rund 22.000 gewesen sein. Dagegen liegen Angaben für Berlin und das Jahr 1945 vor: Rund 7000 Selbstmorde, von denen mehr als die Hälfte im April begangen wurden, also genau in dem Monat, in dem Sowjets und Polen die Reichshauptstadt angriffen und in großen Teilen besetzten.

In Berlin setzt auch der zweite Teil von „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ ein. Die Stadt wurde, so Huber, in den letzten Kriegswochen zum „Epizentrum der deutschen Selbstmordepidemie“. In diesem Kapitel bewährt sich die Auswahl der Quellen, die der Autor vorgenommen hat: Für seine Schilderung greift Huber hier nicht nur auf Dokumente deutscher Augenzeugen hauptsächlich aus dem bürgerlichen Milieu zurück, sondern auch auf solche von Emigranten wie Hannah Arendt und von ausländischen Augenzeugen. Bei ihnen handelt sich etwa um Journalisten wie den Dänen Jacob Kronika und die Französin Stéphane Roussel. Ihr „fremder Blick“ dient dem Autor als kritischer Gegenpart; er ist in der Regel distanzierter und analytischer als der der Einheimischen.

„Er ist verzweifelt“, zitiert Huber den Journalisten Kronika aus seinem kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Buch „Der Untergang Berlins“ über einen linientreuen deutschen Kollegen, den der Däne Anfang März 1945 trifft,  „– aber die Tyrannei zwingt ihn weiterzumachen, weiter wie bisher, weiter wie seit 1933 … Das ist in Wirklichkeit die furchtbare Tragödie des deutschen Volkes: es hat keine Kraft und sieht keine Möglichkeit, sich von der Herrschaft des Bösen freizumachen“.

Auch im zweiten Teil verwebt der Autor gekonnt Lebensgeschichten unterschiedlicher Deutscher, die in Berlin, Ostpreußen, in Schlesien oder der Vorderpfalz leben. Die Gestaltung des Buches, der häufige Szenen- und Ortswechsel, erinnert an Dokumentarfilme zum Dritten Reich und Zweiten Weltkrieg, in denen Schwarz-Weiß-Aufnahmen und Einblendungen von Überlebenden, die ihre Erlebnisse schildern, einander abwechseln. Huber kommt seinen Figuren nahe, weil er sich in ihre Gedankenwelt einfühlen und die Beweggründe für ihr Verhalten überzeugend herausarbeiten kann. Auch lässt er sie selbst das Wort ergreifen. Hierbei kommt es aber gelegentlich zu inhaltlichen Wiederholungen, die in einem Film gut und nötig sind, im Buch allerdings redundant wirken.

Weshalb sich Anfang der 1930er-Jahre immer mehr Deutsche dem Nationalsozialismus zuwandten, geht Huber im dritten Teil seines Buches nach: Die Enttäuschung über die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die für viele demütigenden Bestimmungen des Versailler Vertrags, die sozialen Nöte infolge von Inflation und Weltwirtschaftskrise und nicht zuletzt die ungeliebte Staatsform der Demokratie. Das alles hoffen viele durch einen „Führer“ wie Hitler zu überwinden und aus Deutschland wieder ein großes, starkes Reich zu machen, in dem Ruhe herrscht, es Arbeit gibt und das von seinen Nachbarn respektiert wird: „Das Bewusstsein, gebraucht zu werden, seinen Platz in der Gemeinschaft zu haben und daraus sein Selbstwertgefühl zu ziehen, war die Verlockung dieser ,neuenʻ Zeit. Dagegen verblassten gewisse Zumutungen, die mit dem Dienstbetrieb einhergingen.“

Als der Krieg verloren war und das nationalsozialistische Herrschaftssystem zusammenbrach, sahen zehntausende Deutsche ihre Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft zerstört und wählten verzweifelt den Selbstmord. Diejenigen, die überlebten, machten sich an den Wiederaufbau, schwiegen und verdrängten. Der zwölf Jahre währende „emotionale Ausnahmezustand“ war, so Huber, zu Ende: „Anstelle der gemeinsamen Leidenschaft trat die nüchterne Sehnsucht nach einem stilleren, umgrenzten Leben ohne Abenteuer, Aufwallungen und schwer beherrschbare Erregungen.“

Florian Huber ist mit „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ ein ungeheuer aufschlussreiches und spannend geschriebenes Buch über die Massenselbstmorde in Deutschland zum Ende des Zweiten Weltkriegs, über ihre Ursachen und ihre Tabuisierung in der Zeit nach 1945, gelungen. Auch wenn das Thema bereits in Überblicksdarstellungen, Berichten und Erinnerungen behandelt worden ist, so hat Huber ihm hier erstmals ein ganzes Buch gewidmet. Er füllt damit nicht nur eine Leerstelle, sondern liefert auch das Psychogramm eines Volkes, dessen Mehrheit zwölf Jahre lang das „Alles oder nichts“-Spiel der Nationalsozialisten mitgemacht hat, um dann erst am Ende aufzuschrecken und auch sich selbst als ihr Opfer zu fühlen.

Titelbild

Florian Huber: Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945.
Berlin Verlag, Berlin 2015.
303 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783827012470

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