Bloß nicht den Hashtag vergessen!

Twittern statt reden: Der New Yorker Autor Tao Lin präsentiert in „Taipeh“ das becketthafte Lebens eines Digital Native

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es soll ja immer noch Leute geben, die das, was sich in den unendlichen Weiten von Digitalia abspielt, für einen bloßen Abklatsch der Wirklichkeit halten, eine schlechte Kopie. Die Twentysomethings sind da weiter, ihnen ist die soziale Realität, die das magische Leuchten ihrer Displays entstehen lässt, lieber als die altmodisch-analoge. Auch wenn ihre Online-Präsenzen des eigenen Selbst tamagotchiartig nach ständiger Fütterung verlangen und dabei das Hier und Jetzt absorbieren. Paul und seine On-Off-Freundin Erin zum Beispiel. Stehen sie in einem Aufzug, schauen sie sich nicht wie ein herkömmliches Pärchen in die Augen – sondern betrachten sich gebannt auf dem Bildschirm von Pauls in Hüfthöhe gehaltenem MacBook via Frontkamera.

Und wacht Paul morgens in seinem New Yorker Appartement auf, dreht er sich als erstes zur Seite – um die digitale Erweiterung seines Selbst aufzuklappen und sein Twitter-Profil zu aktualisieren. Dass Paul, als er sich erstmals „erlaubt“, für Erin „eine Obsession zu entwickeln“, in einer Fastfood-Filiale deren vier Jahre umfassende Facebook-Chronik studiert und dabei an die 1500 Fotos ihrer Freunde durchsucht, „um auch solche zu finden, auf denen sie zu sehen war, von denen sie aber die Markierung entfernt hatte“, wundert einen da schon gar nicht mehr.

Paul ist die Hauptfigur von „Taipeh“, dem neuen Roman von Tao Lin. Mit seinem bislang dritten Roman hat sich der 31-jährige New Yorker mit taiwanesischen Wurzeln in den Augen vieler amerikanischer Kritiker vom nervigen It-Boy des Online-Undergrounds zum ernstzunehmenden Autor gemausert. Auch wenn das als erster Roman der Social Networks gefeierte Werk ganz altmodisch auf Papier daherkommt, will es doch ein neues literarisches Zeitalter einläuten. Deshalb winkt Paul auch nur ab, als seine Mutter ihrem schriftstellernden Sohn vorschlägt, einmal für längere Zeit bei ihr in Taiwan zu leben, und ihn mit dem Hinweis auf Hemingway und dessen kreativen Begegnungen mit fremden Kulturen zu ködern versucht. Von seiner „auf niedrigem Niveau produktiven“ Existenz in den USA, bei der er, das unvermeidliche MacBook auf den Knien, „an Dingen arbeitet“, Gmail-Chats führt oder auf Partys „potenzielle Kandidatinnen für eine Beziehung“ sucht, würde er einfach mehr „profitieren“, findet er.

Freilich: Dass Lins meist gelangweilter, depressiver Protagonist mit autistischen Zügen tatsächlich Bücher schreibt – im Verlauf des Romans wird er von seinem Verlag sogar auf einer landesweite Lesetour geschickt –, erscheint wenig glaubwürdig. Typisch für ihn sind Sätze wie: „Ich weiß wirklich nicht, was ich machen will“ oder bizarre Verhaltensweisen: „Paul starrte in einen Kühlschrank, beugte seinen Oberkörper nach vorn und schien offenbar darauf zu warten, dass er etwas tun oder denken würde.“ Weder wird klar, über was der notorisch unschlüssige Paul schreibt, noch wann, ist er doch ständig auf Partys, im Netz und/oder auf Drogen unterwegs.

Tatsächlich ist Paul das Alter Ego seines Autors, und Tao Lin lebt, wie er seine „Follower“ per Twitter kontinuierlich teilhaben lässt, nicht anders als sein Protagonist von Bio-Rohkost, Drogen und Partymief – und ist damit erstaunlich produktiv (sechs Bücher in vier Jahren). In „Taipeh“ hat er offenbar mehr oder weniger seinen – recht trostlos anmutenden – Alltag protokolliert. Das Resultat ist angeblich ein Destillat aus 25.000 Manuskriptseiten, geschrieben hauptsächlich auf Adderall, Pauls bevorzugter Droge, wie er in einem Interview bekannte. Adderall ist eigentlich ein ADHS-Medikament, das hilft, sich „zu fokussieren“, wie Paul im Roman aufklärt.

Womit sich der im Lauf des Romans parallel zur Internetsucht eskalierende Drogenkonsum Pauls auch schon erklärt. Von den Klassikern wie Koks oder Mushrooms bis zu den Kreationen der Pharmaindustrie wie Seroquel oder Flexeril schluckt Lins Held praktisch alles und am liebsten durcheinander. Aber eben weniger zur Bewusstseinserweiterung, sondern zur besseren sozialen Anpassung. So nimmt er sich vor, sich auf seiner Lesereise nur noch in der Öffentlichkeit zu zeigen, „wenn er ausreichend Drogen genommen hätte, um für sich selbst und/oder für andere nicht in erster Linie eine Quelle der Angst, Trostlosigkeit, Peinlichkeit etc. darzustellen“. Ein Plan, der – wenig überraschend – schiefgeht; später entdeckt Paul im Netz über sich einen Wettbewerb, in dem man anhand von Videoclips seiner Lesungen erraten soll, welche Droge er zuvor jeweils genommen hatte.

Verächter des Romans zitieren gern das Urteil des (von Lin bewunderten) Bret Easton Ellis, „Taipeh“ sei zwar stilistisch interessant, aber „langweilig“. Tatsächlich ist der nahezu handlungslose Roman als Ganzes eine Lesetortur. „Taipeh“ bietet eine schier endlos anmutende Abfolge austauschbarer Szenen und banaler Dialoge voller Missverständnisse, in denen wie unter der Lupe Pauls Persönlichkeitszerfall sichtbar wird, geschrieben in labyrinthischen Satzgebilden mit obskuren technoiden Vergleichen, die man zweimal lesen muss – um sie nur noch psychotischer zu empfinden.

Im Kleinen aber ist „Taipeh“ ein ums andere Mal schlichtweg fulminant: Nicht nur, weil es eine umfassende Symptomatologie des zerstörerischen Potenzials liefert, die das Netz im psychischen und sozialen Bereich mit sich bringen kann. Sondern vor allem aufgrund seiner schon becketthaften Situationskomik, die die Absurditäten eines Lebens als Digital Native entlarvt. So verläuft ein Kinobesuch mit Erin nach der Devise: Warum noch miteinander reden, wenn man es doch längst tweeten kann?

Als Paul schon auf der Hinfahrt das Heroin-Adderall-Advil-Gemisch wieder hochkommt, tweetet er: „im taxi zum kino, ‚schon‘ zweimal gekotzt (soll nicht heißen, xmen wäre zum kotzen)“ – um prompt einen Tweet zu lesen, in dem steht: „im taxi hand durch trennschreibe gesteckt, um paul zu streicheln, der in eine tüte kotzte, taxifahrer guckte mich sitcom-artig an“. „Erin, du hast den Hashtag vergessen“, erklärt Paul daraufhin und muss erkennen: „Ich habe den Hashtag auch vergessen. Wir werden es alle die ganze Zeit vergessen. Was sollen wir machen?“ Auf die digitalen Prothesen mal zu verzichten, wäre vielleicht ein guter Anfang.

Titelbild

Tao Lin: Taipeh. Roman.
Übersetzung von Stefan Kleiner.
DuMont Buchverlag, Köln 2014.
288 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783832197667

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