Das Sagen des Unsagbaren

Bettina Albert untersucht Tod und Dichtung im frühen Mittelalter

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Entlastung vom Absoluten – ein Rückgriff auf Odo Marquards griffige Konzentration der Blumenberg’schen Philosophie bietet sich immer dann an, wenn das Thema Narration und Tod berührt wird: Die Menschen halten das Absolute nicht aus. Erzählung erlaubt Distanz, erlaubt das Ordnen und Sinnvollmachen (wie auch immer man das verstehen will) des ansonsten Unbegreiflichen und erlaubt schließlich in gewisser Weise gar das Überwinden der Finalität des Todes. Diese anthropologische Konstante mag uns in den Formulierungen großer Philosophen unserer Zeit zugänglicher erscheinen, letztlich aber prägt sie das Menschsein doch immer und fundamental. So ist es wenig verwunderlich, dass ein beachtlicher Teil der auf uns gekommenen (jedenfalls westlichen) Literatur mit der Verhandlung dieses fundamentalen Themas beschäftigt ist. Und es wundert auch nicht, dass Zeiten von Umbruch und Wandel gleichsam als Katalysator solcher Erzählungen fungieren. Die vorliegende Studie (eine Dissertation unter Betreuung von Fritz Peter Knapp und Theo Stemmler) springt mitten in diese weitläufige Diskussionslandschaft, und auch die angestrebte Beschränkung auf frühmittelalterliche Zeit sowie volkssprachliche schriftliterarische Überlieferung bedingt keine klar abgesteckten Grenzen in Sichtweite.

Nach recht umfangreichen Prolegomena, die eine Art Gesamtschau der Ausgangslage versuchen, folgen drei Großkapitel, jeweils weiter unterteilt. Die Untersuchung arbeitet zunächst Todesdarstellungen ab, etwa im Beowulf oder Hildebrandslied, zentral von Jesus sowie Heiligen und Märtyrern, schließlich auch von Gegenspielern des Helden. Ein kleiner Exkurs ist dem natürlichen, dem weiblichen und schließlich dem freiwilligen Tod gewidmet. Das „Gefolge des Todes“ bildet das nächste Großkapitel, mit Fokus auf der literarischen Darstellung von u.a. Rabe, Wolf, Adler und Wurm, sowie einer umfangreicheren Diskussion von Beasts of Battle und Beasts of Death, also Kombinationen von Einzeltieren. Hier werden mehrere Assoziationskomplexe erarbeitet, die anschließend an einer Auswahl von Texten geprüft werden. Das dritte Kapitel widmet sich Reaktionen auf den Tod, wesentlich also Trauer und Bestattung in ihrer literarischen Darstellung. Ein knappes Schlusskapitel und ein kleiner Anhang mit tabellarischen Übersichten schließen die Studie ab. Warum einige Tabellen im Fließtext eingegliedert, andere hingegen erst im Anhang aufgenommen sind, ist nicht ersichtlich; ebenso wirkt die einzelne Schwarz-Weiß-Abbildung zu Kriegspropaganda im Jahre 1914 ein wenig verloren.

Wie von der Verfasserin Bettina Albert angekündigt, liegt der Kern der Arbeit im close reading einer Auswahl an volkssprachlicher (hier: altenglischer, altsächsischer und althochdeutscher) Dichtung schwerpunktmäßig des Zeitraums von 800 bis 1000 n. Chr. Durchaus überzeugend arbeitet sie nach jeweils kurzer Darlegung der Ausgangsposition eine Vielzahl an Strophen und Versen ab, die sich mehr oder weniger zu einem Gesamtbild verknüpfen. Die durchdachte Gliederung und überschaubare Länge der Kapitel sichern weitgehenden Überblick, auch wenn man sich manches Mal eine etwas ausführlichere Diskussion der Prämissen gewünscht hätte: Hier finden sich, vor allem in erläuternden Fußnoten, bisweilen bloß vermeintliche Selbstverständlichkeiten, die durch wenig oder keine weiterführende Literatur gestützt sind. Positiv fällt von Beginn an das Bestreben der Verfasserin auf, ihre eigene Position herauszustellen und an den Texten zu begründen; kein beliebtes ‚einerseits – andererseits‘ verwässert die Argumentation. Ebenso wenig handelt es sich um ein bloßes Zusammentragen oder Reflektieren bereits bekannter Thesen; hier wurde an den konkreten Texten gearbeitet und dabei über eine Vielzahl an Einzelbeobachtungen die narrative Vielfalt des untersuchten Phänomens ‚Tod‘ belegt. Und das geht durchaus auch mit punktueller Kritik bestehender Forschung einher – der Verfasserin ist ganz offensichtlich daran gelegen, selbst eine gewisse Ordnung in die wuchernde Forschungslandschaft zu bringen.

Einige grundsätzliche Monita müssen leider dennoch genannt werden. So wäre der Arbeit ein abschließendes Lektorat fraglos zu Gute gekommen: fehlende Einheitlichkeit bei der Setzung von Anführungs- und Fußnotenzeichen, uneinheitliche oder falsche Zitation von Publikationen in Fußnoten und Bibliografie (z.B.: Band 20 des RGA2 ist nicht von Johannes Hoops herausgegeben), sowie allgemeine Flüchtigkeitsfehler (z.B.: Vermischung ‚der/das Korpus‘, Walther/Walter Haug, Rudolf/Robert Nedoma) fallen immer wieder störend ins Auge. Die weitgehende Ausklammerung der altwestnordischen Überlieferung ist angesichts der sprachlichen Hürde verständlich; weniger leuchtet ein, warum die wenigen Referenzen dann nahezu ausschließlich auf Studien verweisen, deren Publikation mindestens 30 Jahre zurückliegt. Hier hätte man auch einen forschungsgeschichtlich kritischeren Blick gewünscht: Formulierungen etwa aus Vilhelm Grønbechs „Kultur und Religion der Germanen“ aus dem frühen 20. Jahrhundert (erste deutsche Übertragung in den späten 1930er Jahren) zu Fragen etwa des ‚Tatenruhms der Toten‘ in der nordgermanischen Vorstellungswelt sind in dieser Form heute kaum zu teilen, werden von der Verfasserin aber unkommentiert übernommen. Einige Aussagen, wie die Verortung der Gesta Danorum von Saxo Grammaticus unter altnordischer Literatur (neben einer Fornaldarsaga und einer färöischen Ballade), sind in solcher Formulierung schlicht falsch. Hier wäre die konsequente Ausklammerung der entsprechenden Überlieferung wohl sinnvoller gewesen als unsichere Exkurse in unbekanntes Terrain. Die Darlegung des mediävistischen Referenzrahmens der Studie im kulturgeschichtlichen Abschnitt der Prolegomena ist von dieser unkritisch-oberflächlichen Haltung leider geprägt, wie auch einzelne Abschnitte der Untersuchung. So wäre die Rede von altgermanischer Dichtungstradition und mündlich-germanischer Literatur, von germanischem Geistesleben, germanischen Stämmen und einer Völkerwanderungszeit fraglos diskussionsfähig. Der Anspruch der Verfasserin, den „historischen Kontext“ im ersten nachchristlichen Jahrtausend (und darüber hinaus) erhellend zu skizzieren, ist unzweifelhaft zu ehrgeizig gewesen. Befremdlich ist diese offensichtliche Unterschätzung allerdings angesichts der Tatsache, dass Fritz Peter Knapp (neben zahlreichen Einzelstudien) 2011 eine monografische Einführung in kulturhistorische Grundlagen der europäischen Literatur vorgelegt hat; hier hätte die Verfasserin für die Veröffentlichung 2014 nacharbeiten können.

Eine angemessene Würdigung der vorliegenden Studie sollen diese Einwände nicht mindern. Die Kombination der wuchtigen Themenkomplexe ‚Tod‘ und ‚Narration‘, der Blick gespannt über Sprachgrenzen und Jahrhunderte der (literatur)historischen Entwicklung – diese angestrebte Synthese übersteigt schlicht die Kapazität einer Dissertation. So wird man ohne Vorbehalt der abschließenden Hoffnung der Verfasserin zustimmen dürfen, dass ihre Arbeit die bestehende Forschungsdiskussion um interessante Facetten bereichert und damit zugleich zum Stimulus weiterer Untersuchungen des spannenden Fragenkomplexes werden kann.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Bettina Albert: Der Tod in Worten. Todesdarstellungen in der Literatur des frühen Mittelalters.
Tectum Verlag, Marburg 2014.
288 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783828833012

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