Kafka in den Straßen

Lilian Loke gelingt mit ihrem Romandebüt das fesselnde Psychogramm eines Karrieristen, der erst im Prozess des Scheiterns zu sich selbst findet

Von Daniel KasselmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Kasselmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Meyer ist Makler für Luxusimmobilien in ‚Mainhattan‘. Er kommt als Sohn eines Schuhmachermeisters aus kleinen Verhältnissen und hat nie vergessen, wie er sich als Bub sein Taschengeld mit Schuhputzen in der Werkstatt des Vaters für 50 Pfennige pro Paar durch dreckige Arbeit hart verdiente. Der Vater war so geizig, dass er Teebeutel zweimal aufgoss und Wandkalender für das Jahr X aufbewahrte, an dem sie wieder aktuell werden würden. Der Mangel der scheinbaren Armut der Familie war ein ständiger Begleiter des Jungen, dem die erleuchteten Fenster der Stadt allesamt wie Schaufenster erschienen und der sich in seinen ungläubigen Blicken in die Fenster der Gründerzeithäuser des Frankfurter Westends mit ihren Stuckdecken, Lüstern und deckenhohen Bücherregalen das fette schöne Leben, ein anderes Leben mit Möglichkeiten von Straßen gepflastert mit Gold erträumte.

Nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann und Weiterbildungen zum Immobilienkaufmann ist Meyer nun bei Falber Immobilien, einer der noblen Maklerfirmen der Mainmetropole, angekommen und sehr erfolgreich, denn er macht seine Arbeit mit absoluter Hingabe und Akribie. Trotz seines Erfolgs ist er bodenständig geblieben: Er fährt einen alten 94er Jaguar XJS, trägt eine Rolex und Maßkonfektion, sein Apartment hat er mit Möbeln aus dem Schwedenhaus eingerichtet. Seine Beziehung fällt da schon eher aus der Reihe: Seine Freundin Nadja ist die Tochter einer Frankfurter Bankerfamilie. Seine einzige Freundschaft verbindet ihn mit einem ehemaligen Arbeitskollegen aus der Bank. Mit dem blinden Koll geht er regelmäßig in die Schirn-Kunsthalle, wo er ihm Bilder beschreibt, die jener seit einem Unfall selbst nicht mehr sehen kann. Meyers größte Liebe gilt der Stadt Frankfurt am Main:

Schön ist das falsche Wort. Wiesbaden ist schön, die Regelmäßigkeit der Architektur, die aufwändigen historischen Fassaden. Frankfurt läuft außer Konkurrenz, seine architektonische Gewalttätigkeit, manchmal geht Meyer durch die enge Hochhäuserschlucht der Neuen Mainzer Landstraße, den Kopf in den Nacken gelegt wie ein Tourist, genießt die Beklemmung, die die kalte Größe der Türme auslöst, fast eine Angst, aber delikater, als spanne es einem hauchdünnen Draht um Lunge und Herz.

Als Meyers Vater überraschend stirbt, sieht der Sohn sich mit einem kuriosen Erbe konfrontiert, das die Fundamente seiner ärmlichen Jugend ins Wanken bringt und von ihm zwingend die Beantwortung der Frage einfordert, wer sein Vater eigentlich war. Doch zunächst macht er Tabula rasa und vernichtet das Andenken; das Haus, in dem sich die Schuhmacherwerkstatt des Vaters befindet wird samt Grundstück zum Objekt von Meyers neuestem Immobilienprojekt. Als das Gebäude mitsamt Werkstatt dem Erdboden gleich gemacht ist, scheint Meyers größter Erfolg zum Greifen nahe.

Die Arbeit Meyers an seiner Karriere kann man als Rahmenhandlung der eigentlichen Geschichte von „Gold in den Straßen“ bezeichnen. Lilian Loke beschreibt eindringlich die Arbeitsweise des Protagonisten, der mit Herzblut für seine Sache brennt, nicht in erster Linie für die Provision, sondern für seine Aufgabe, der entsprechenden Klientel neue Lebensräume vorzustellen und zu ermöglichen. Dieser Kniff ermöglicht es dem Leser, sich in den Cahrakter einzufühlen und sie auf ihrem Weg zu begleiten. Meyers sozialer und moralischer Sparringpartner ist der blinde Koll, durch seine Begleitung fühlt sich Meyer überhaut erst sehend, wenn er Bilder in der Schirn beschreibt. Dessen Ansichten über Geld, Moral und Schuld sind Meyers Korrektiv.

Eine Nebenhandlung des Romans betrifft das Leben im Hotel. Meyer träumt lange davon:

Wenn Meyer es sich leisten könnte, nur noch in Hotels zu wohnen, in der eigenen Stadt. Luxusaskese. Wenn dein Leben in einen Koffer passt. Dann kannst du alles sein. (…) Er muss nicht wohnen, um zu makeln, muss nicht kaufen, um zu verkaufen. Was dir fehlt, siehst du deutlicher. Verzicht schärft Wahrnehmung. Wenn du dich leer machst, kannst du alles aufnehmen, durchscheinen lassen, wie ein Glasgefäß.

Schließlich setzt Meyer seinen Traum zumindest für ein paar Wochen in die Realität um und wird so zum Luxusstadtnomaden.

Weitere Nebenhandlungen sind Meyers Beziehung zu Nadja, die schließlich arge Risse bekommt, die überfällige Auseinandersetzung mit seiner Mutter, die bereits vor einigen Jahren die Scheidung einreichte und aus Meyers Sicht danach die gemeinsame Komplizenschaft verriet, Stadtfahrten durch die Mainmetropole und die Beschreibung von rivalisierenden Nebenfiguren wie dem Immobilienkollegen Gläsker, der gegen Meyer im Wettbewerb um den neuen Leitungsposten des Frankfurter Büros von Falber-Immobilien zunächst den Kürzeren zieht.

Meyers großes Bauprojekt mit dem klingenden Namen „Metropolitan West“ erweist sich für ihn als fataler Rohrkrepierer, da die Immobilie noch vor der Fertigstellung des Rohbaus auf eine Art und Weise den Besitzer wechselt, die nichts mit Meyers ursprünglichen Plänen zu tun hat. Darüber verliert er vorübergehend sein Gefühl für die Materie seines Berufs. Er, der die Werkstatt des Vaters dem Immobilienprojekt und der eigenen Karriere geopfert hat, muss erst mühsam und über Umwege auf das Geheimnis kommen, das seinen Vater zu dem sturen Geizkragen machte, der er in den Augen des Sohns war.

Gold in den Straßen ist das Psychogramm des Protagonisten als kafkaesker Sohn auf der Suche nach seinen Wurzeln und dem, was er selbst eigentlich sein will, dramaturgisch geschickt verwoben mit einem Gesellschafts- und Sittengemälde des heutigen Upperclass-‚Mainhattan‘, einem Panorama der Metropole als einzigem aller möglichen Lebensräume und philosophischen Fragestellungen über Geld, Moral und die Art der Möblierung des eigenen Lebens. Diese Vielschichtigkeit macht Gold in den Straßen zu einem durchweg unterhaltsamen bis spannenden, dabei immer anspruchsvollen Lesevergnügen, gespickt mit stellenweise brüllkomischen Momenten – beispielsweise wenn der inzwischen erwachsene Meyer seinem Vater auf einem Flohmarkt einen Satz Münzen schenken möchte, und der Vater aus Geiz das Geschenk nicht annimmt, sondern den eigenen Sohn zu der Peinlichkeit nötigt, sie zurück zum Verkäufer zu bringen und umzutauschen. Freund Koll erweitert als blinder Seher Theiresias die Perspektive des Romans in den Bereich der antiken Mythologie. Ihn mit Blick auf Kategorien wie Schicksal, Hybris und die Freiheit des Einzelnen in Abhängigkeit zur Elternschaft zu lesen, erweitert die Dimensionalität der Geschichte noch einmal.

Titelbild

Lilian Loke: Gold in den Straßen. Roman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2015.
352 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783455405224

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