Mythen der Gegenwart auf der Spur
Zum Sammelband „Wir sind alle Kannibalen“ mit Artikeln von Claude Lévi-Strauss
Von Monika Grosche
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAuch mehrere Jahre nach seinem Tod darf sich die Leserschaft des berühmten Ethnologen Claude Lévi-Strauss doch noch über posthume Veröffentlichungen freuen. So erschien 2014 die deutsche Übersetzung des Sammelbandes „Nous sommes tous des cannibales“. Wie das französische Orginal vereint der deutschsprachige Titel „Wir sind alle Kannibalen“ Artikel von Claude Lévi-Strauss, die dieser für Zeitschriften geschrieben hatte. Den Löwenanteil machen 16 Essays aus, die er in den Jahren 1989 bis 1992 in der italienischen Zeitschrift „La Repubblica“ veröffentlicht hatte.
Wenn man diese heute liest, kann man sich kaum vorstellen, dass sie alle bereits vor Jahrzehnten entstanden sind, widmet er sich darin doch gesellschaftlichen Mythen und Phänomenen, die unser gesellschaftliches Zusammenleben auch heutzutage durchaus noch prägen. Dies trifft auch auf den berühmten Essay „Der gemarterte Weihnachtsmann“ zu, der ebenfalls in dem Sammelband enthalten ist. Diesen hatte Lévi-Strauss für Jean-Paul Sartres Zeitschrift „Les Temps modernes“ geschrieben, nachdem in Dijon am 24. Dezember 1951 ein Weihnachtsmann an der Kathedrale aufgehängt und schließlich verbrannt worden war. – Diese Aktion war Teil einer landesweiten Kampagne von empörten Klerikern und Christen, die den aus den USA immigrierten roten Weihnachtsmann als heidnische Konkurrenz zu Christkind und Nikolaus ansahen.
Lévi-Strauss veranlasste dies, sich scharfsinnig und pointiert mit dem Wandel weihnachtlicher Rituale auseinanderzusetzen. Denn, so freute er sich: „Es kommt nicht alle Tage vor, dass der Ethnologe auf diese Weise Gelegenheit findet, in seiner eigenen Gesellschaft die plötzliche Entwicklung eines Ritus, und sogar eines Kults zu beobachten“. Hingebungsvoll, detailliert und (wie stets) äußerst kenntnisreich widmete er sich so unterschiedlichsten Interpretationen des Weihnachtsfestes und führte diese allesamt auf ein einheitliches, ursprünglich zugrundeliegendes Muster zurück. Es betrachtete Weihnachten als ein Fest, bei dem die Toten die Lebenden besuchen.
Doch nicht nur der Weihnachtsmann muss sich in „Wir sind alle Kannibalen“ dem forschenden Blick des Anthropologen stellen. Auch in den übrigen Zeitschriftenartikeln jüngeren Datums griff Lévi-Strauss alltägliche gesellschaftliche Themen auf und beleuchtete diese aus seiner persönlichen Sichtweise. Dabei ist die Bandbreite der Themen geradezu enorm: Da geht es um die Massentierhaltung in der Landwirtschaft ebenso wie um das Bevölkerungswachstum und die Entwicklung des Menschen seit seinem Ursprung in Afrika. Diskussionen um Beschneidungsrituale von Mädchen und Jungen in unterschiedlichen Kulturen finden genauso inhaltlichen Widerhall wie auch Kannibalismus, Vegetariertum oder die Bedeutung von Verwandschaftsbeziehungen, veranschaulicht am Beispiel von Prinzessin Diana.
Wer hinter dieser etwas plakativen Aufzählung eher oberflächliche Artikel vermutet, kennt den Wissenschaftler Lévi-Strauss jedoch schlecht. Auch wenn dieser aktuelle (Medien-)Ereignisse oder Diskurse aufgriff, tat er dies nicht um der Effekthascherei oder gar einer Anbiederung an den populärwissenschaftlichen Zeitgeist willen. Vielmehr nutzte er diese als Schreib- und Denkanstöße, um seinen ungeheuren Schatz an gesammeltem Wissen um die menschliche Natur zu offenbaren, der ihn zu einen der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts machte.
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