Der Krieg im Osten

Ein wissenschaftlicher Sammelband untersucht die deutsche Besatzung in der Sowjetunion

Von Martin MunkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Munke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

27 Millionen Opfer hat der Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion von 1941 bis  1945 auf sowjetischer Seite gefordert – eine Zahl, die in der deutschen Öffentlichkeit lange kaum präsent war, bis sie aktuell in den Debatten um das Verhältnis zu Wladimir Putins Russland angesichts des Konfliktes in der Ukraine größere Verbreitung fand. Doch auch hier wurde sie nur einseitig rezipiert, indem sie gänzlich auf das heutige Russland übertragen wurde. Dass ein Großteil besonders der zivilen Opfer aus der heutigen Ukraine und dem heutigen Belarus stammte, wird demgegenüber nicht wahrgenommen oder gar bewusst verdrängt. Die Geschichtswissenschaft dagegen hat sich in der Vergangenheit sehr intensiv mit Krieg und deutscher Besatzung auseinandergesetzt. Es existieren mehrere Gesamtdarstellungen, etwa diejenige des Klagenfurter Historikers Dieter Pohl zur „Herrschaft der Wehrmacht“ (2008). Zahlreiche Einzelstudien haben, oft mit regionalem Schwerpunkt, die unterschiedlichsten Detailaspekte erhellt – etwa die Dissertation der Mitherausgeberin Babette Quinkert zu „Propaganda und Terror in Weißrussland 1941–1944“ (2009). Quellenmaterial für solche Untersuchungen steht reichlich zur Verfügung. Häufig muss man zur Einsicht nicht einmal ein Archiv besuchen; so wurden an der Forschungsstelle Ludwigsburg die „Ereignismeldungen UdSSR“ und die „Berichte aus den besetzten Ostgebieten“ des Reichssicherheitshauptamtes ediert und veröffentlicht.

Zum 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion wurde 2011/12 eine Reihe wissenschaftlicher Veranstaltungen organisiert. Dazu zählte im November 2012 auch eine Fachkonferenz des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, die, international besetzt, einen Überblick zum aktuellen Kenntnisstand lieferte. Jörg Morré, der Direktor des Museums, und Babette Quinkert, heute Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Museum in Berlin, legen nun einen Sammelband mit den überarbeiteten Beiträgen der Konferenz vor. 21 Beiträge in den Kategorien „Vernichtungskrieg“, „Reaktionen“ und „Erinnerung“ bilden sowohl die Ereignis- als auch die Nachgeschichte der militärischen Auseinandersetzungen und der Vernichtungsaktionen der deutschen Seite ab. Dies geschieht in einer Mischung aus ausführlichen wissenschaftlichen Aufsätzen mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat und kürzeren, eher essayistisch gehaltenen Beiträgen wie etwa denen des in Bern lehrenden Christian Gerlach und der stellvertretenden Direktorin des Museums der Geschichte in St. Petersburg, Julia Demidienko. Diese beiden Namen zeigen bereits einen der großen Vorzüge des Bandes: Er versammelt die Expertise von Wissenschaftlern aus mehreren Nationen und beruht gleichermaßen auf deutschen wie auf ost(mittel)europäischen Quellenbeständen. Oft handelt es sich bei den Texten um Ausschnitte aus größeren Untersuchungen der Autoren, so dass zugleich ein aktueller Überblick zum Stand der internationalen Forschung gegeben wird.

Mehr als die Hälfte der Aufsätze ist dabei dem zeitgenössischen Kriegsgeschehen gewidmet. Die Bandbreite der behandelten Themen reicht von eher „klassischen“ Fragen wie derjenigen nach dem Umgang mit Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern über kontrovers diskutierte Aspekte wie den gezielten Einsatz von Hunger als Kriegswaffe bis hin zu neueren kulturwissenschaftlichen Überlegungen zu Geschlechterrollen und -mustern. Und auch bei den vermeintlich altbekannten Themen gibt es viel neues zu entdecken. Die Forschung hat sich mit ihnen zwar ausführlich befasst, dies aber vor allem mit Blick auf das Reichsgebiet und das westliche Europa. Wie es Kriegsgefangen im Osten erging und unter welchen Regimen die Zwangsarbeiter litten, ist wiederum vergleichsweise unbekannt. Der Leiter der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain in Sachsen, Jens Nagel, zeigt etwa, dass in den zivilverwalteten Gebieten – also im Generalgouvernement und den Reichskommissariaten Ostland und Ukraine – eine flächendeckende Registrierung von Gefangenen stattfand. In den Regionen unter Militärverwaltung wurden sie jedoch nur unsystematisch erfasst. Der in London wirkende Historiker Felix Römer weist nach, dass der sogenannte Kommissarbefehl trotz manch anders lautender Angaben in den Einheiten der Wehrmacht flächendeckend umgesetzt wurde. Fast 10.000 gefangene Politoffiziere der Roten Armee wurden auf diesen Befehl hin erschossen. Insgesamt kamen zwischen 2,5 und 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene ums Leben, außerdem ermordeten die Deutschen in der Region mehr als 2,6 Millionen Menschen jüdischen Glaubens. Allein im Reichskommissariat Ukraine waren zudem im Juli 1943 etwa 7,5 Millionen Menschen zum Arbeitseinsatz zwangsverpflichtet, wie der in Den Haag tätige Markus Eikel feststellt. In der Exekution dieser Politik lassen sich zwar gewisse Parallelen zur Arbeitseinsatzpolitik in der Sowjetunion finden, das Ausmaß von Gewaltanwendung war unter deutscher Herrschaft jedoch bei Weitem größer. Zu ähnlichen Befunden kommt die Heidelberger Historikerin Tanja Penter in ihrer Regionalstudie zum Donbass. Hier wie anderswo war es auch ein „Nebeneinander von Zwängen und Freiräumen“, das den Alltag der Bevölkerung unter beiden Diktaturen prägte.

Ambivalenzen dieser Art finden sich auch in den Reaktionen auf den deutschen Einmarsch wieder, gab es doch eine Reihe von Kollaborateuren, die mit der Wehrmacht zusammenarbeiteten. Zwischen 400.000 und 450.000 Menschen wurden wegen entsprechender Handlungen nach dem Rückzug der Deutschen bestraft. Sergej Kudryashov und Matthias Uhl, die beide am Deutschen Historischen Institut in Moskau arbeiten, befassen sich mit diesem in vielen Facetten noch nicht vollständig ausgeleuchteten Thema. In die Verbrechenspolitik waren so auch Einheimische eingebunden: „Verrohung“ erscheint den Autoren ein „wichtiger Teil des Zusammenspiels von Nationalsozialismus und Kollaboration“. Neben bekannten Personen wie dem Anführer der „Russischen Befreiungsarmee“ Andrei Wlassow sind es vor allem die vielen Hunderttausend „Hilfswilligen“, deren Geschichte bis heute allenfalls punktuell geschrieben ist. Auf der anderen Seite gab es viele Formen des Widerstands, wie Anika Walke (St. Louis) am Beispiel jüdischen widerständigen Verhaltens in Belarus aufzeigt. Solche Handlungen waren eingebettet in Kontexte nichtjüdischer Zivilisten, der Partisanenbewegung und der Roten Armee. Das in der Sowjetunion viel beschworene Ideal einer klassenlosen Gesellschaft ohne nationale und gesellschaftliche Gegensätze wurde dabei aber häufig von „wieder aufflammenden Antisemitismus durchkreuzt“ – ein Aspekt der sowjetischen Kriegserfahrung, dem bisher ebenfalls wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde.

Der Umgang mit all diesen Geschehnissen bleibt bis heute ein umstrittenes Feld. Und während sich in Deutschland meist nur Experten damit auseinandersetzen, ist er im östlichen Europa ein Teil jenes heiß umkämpften „Schlachtfeldes der Erinnerung“ (Anne-Katrin Lang und Claus Leggewie), das die Historie im öffentlichen Leben so oft zu einem Problem von eminenter politischer Bedeutung macht. Keine Schlacht, die nicht noch einmal geschlagen, keine historische Persönlichkeit, deren Einschätzung eindeutig und von allen gleichermaßen akzeptiert erfolgen würde. Umso aussichtsloser und auch anmaßender erscheinen vor diesem Hintergrund die Forderungen nach einem einheitlichen europäischen Geschichtsnarrativ ­– das angesichts der gehörten (nicht der geäußerten) Stimmen in den öffentlichen Debatten zudem nur wieder ein westeuropäisches sein könnte und zentrale Wahrnehmungen und Erfahrungen eines Großteils der Bevölkerung des Kontinents außer Acht lassen würde.

Ähnlich Homogenisierungsansprüche finden sich wiederum in den Diskursen der Länder des östlichen Europa selbst, zumal Erinnerung und Gedenken im öffentlichen Raum hier oft als eine „rein staatspolitische Angelegenheit“ daherkommen (so die im schwedischen Uppsala wirkende Imke Hansen in ihrem Beitrag). Für Russland unter Wladimir Putin stellt der „Große Vaterländische Krieg“ einen zentralen Bezugspunkt der politischen Identität des Landes dar. Gerade mit Blick auf das so bedauerte Auseinanderbrechen der Sowjetunion bildet der „Sieg über den Faschismus“ einen wichtigen Anknüpfungspunkt für neue Großmachtansprüche und den Versuch von deren Einlösung, wie die Siegesparaden am 9. Mai einmal mehr zeigen dürften. Diese „patriotische Erinnerung“ und ihre Verherrlichung der Leistungen des russischen Volkes gehen in ihrem Kern zurück auf die Ära Breschnew, nachdem unter Stalin eben nur der Diktator persönlich im Mittelpunkt des Gedenkens stehen durfte. Eine ähnliche Dominanz tradierter Muster konstatiert der in Kiew lehrende Christian Ganzer für den Fall von Belarus. Dies geht so weit, dass neue Forschungsergebnisse des Historikers zum Kampf um die Festung von Brest 1941 auf einer Konferenz im Land zwar vorgetragen wurden, im Tagungsband dann allerdings nicht auftauchten. Die Erinnerung an dieses Aufeinandertreffen deutscher und sowjetischer Truppen bildet im Übrigen ein weiteres Beispiel für die Asymmetrien der historischen Wahrnehmung – im „Westen“ kaum präsent (wie übrigens auch die über eine Million Opfer fordernde Hungerblockade von Leningrad, die im Band ebenfalls thematisiert wird), in der Sowjetunion und bis heute gerade in Belarus als „Heldenfestung“ (siehe Sewastopol und Wolgograd/Stalingrad) ein zentrales Moment politisch-gesellschaftlicher Identitätsbildung.

Die widerstreitenden Erinnerungen weiter Teile der ukrainischen Bevölkerung dürften mittlerweile auch dem deutschen Zeitungsleser nicht mehr ganz unbekannt sein. Dies gilt etwa mit Blick auf Stepan Bandera, einen der Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und deren Kollaboration mit der Wehrmacht. Teile des „Euromaidan“ versuchten an diese Traditionslinie des Versuchs der Schaffung eines unabhängigen ukrainischen Staates anzuknüpfen, was gerade international starke Kritik hervorrief. Auch die Frage des „Holodomor“, der Hungerkatastrophe mit Millionen Toten der frühen 1930er-Jahre, für deren internationale Anerkennung als durch Stalin intendierten Völkermord sich besonders Ex-Präsident Wiktor Juschtschenko einsetzte, bleibt weiter ein heißes Eisen. Und doch sieht Frank Golczewski, emeritierter Osteuropahistoriker an der Universität Hamburg, hier auch positives: An die Stelle der traditionellen Heldenverehrung trete erstmals im nationalen Diskurs ein auf die Opfer zentriertes Gedenken, wie es etwa für die deutsche Erinnerungslandschaft mittlerweile typisch ist. Auch 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Vergangenheit so in vielen Punkten noch gegenwärtig, wie die Beiträge des Bandes eindrucksvoll aufzeigen.

Titelbild

Babette Quinkert / Jörg Morré (Hg.): Deutsche Besatzung in der Sowjetunion 1941-1944. Vernichtungskrieg - Reaktion - Erinnerung.
Schöningh Verlag, Paderborn 2014.
416 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783506777805

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch