Ein Verbündeter im Kampf um demokratische Rechte
Über das Verhältnis von Günter Grass zu Polen und dessen Rezeptionsgeschichte
Von Marion Brandt
Seine polnischen Leser hat das Werk von Günter Grass auf Umwegen und mit Verspätung erreicht. Die Blechtrommel erschien zwanzig Jahre nach der deutschen Erstausgabe im politischen Untergrund und 1983 in einem staatlichen Verlag. Die Romane Hundejahre und Der Butt wurden sogar erst nach 1989 publiziert. Kulturpolitiker und einige staatsnahe Literaturkritiker hatten Grass die Verletzung religiöser und patriotischer Gefühle vorgeworfen (gemeint waren Oskars Herausforderung der Christusfigur in der Herz-Jesu-Kirche und die Szene vom Kampf um die Polnische Post, deren Verteidiger Grass ins Lächerliche gezogen habe). Angesichts des Kirchenkampfes der damaligen Machthaber und der Diskreditierung des polnischen Vorkriegsstaates enthalten diese Vorwürfe ein reichliches Maß an Heuchelei. Karol Sauerland, der zu denjenigen polnischen Germanisten gehörte, die jahrelang für die Publikation der Blechtrommel eintraten, erinnert sich daran, dass die Bilder von der Roten Armee, vor allem die Vergewaltigungsszenen nach der Einnahme Danzigs, beim Zensor Anstoß erregten. Bezeichnend ist, dass der Roman auch in den anderen sozialistischen Ländern lange Zeit unerwünscht war. In der DDR erschien er 1986 in einer kleinen Auflage, auf Russisch sogar erst nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1995.
Das Verbot eines Romans von Weltrang, der zudem in einer Stadt spielt, die seit 1945 polnisch ist, und der auch über Polen erzählt, verlieh diesem die Aura der sprichwörtlichen (Lese-)Frucht, die bekanntlich besonders gut schmeckt. Das polnische Interesse an Günter Grass lässt sich aber natürlich nicht nur durch diese Publikationsgeschichte erklären. Die Erwartungen an das Buch wären mit Sicherheit gedämpfter ausgefallen, wenn sein Verfasser nicht einer der ersten Schriftsteller aus den früheren deutschen Ostgebieten gewesen wäre, die sich öffentlich für die Akzeptanz der Oder-Neiße-Grenze ausgesprochen hatten. Durch die Begleitung Willy Brandts auf dessen Reise nach Warschau im Dezember 1970 hatte Grass dieser Haltung sichtbaren Ausdruck verliehen.
Dass er in der Blechtrommel seine Geburtsstadt Danzig zu einem Ort der Weltliteratur erhoben hatte, war für die Neugier, die sein Buch in Polen auf sich zog, von grundlegender Bedeutung. Die Rezeption eines fremdsprachigen Schriftstellers wird aber nicht allein durch seinen literarischen Rang geprägt. Er kann dem Leser etwas Wichtiges über dessen eigene, aber auch über die fremde Kultur und die Beziehungen zwischen diesen beiden Kulturen erzählen. Sein Schaffen kann auch deshalb auf besonderes Interesse stoßen, weil es universale Fragen auf neue Weise anspricht. Tatsächlich wurde das Werk von Günter Grass in Polen zuallererst danach befragt, was es über die Deutschen erzählt, über den Nationalsozialismus und über die Beweggründe, dieses politische System zu unterstützen, aber auch über die Art und Weise, in der sich die Deutschen mit dem Dritten Reich und dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen. Was ist damals in Deutschland geschehen? Was war der „Faschismus“ oder „Hitlerismus“ (so die damaligen Sprachreglungen)? Wie kann man nach dem Nationalsozialismus ein Deutscher / eine Deutsche sein? Kann man aus der Katastrophe des Totalitarismus herausfinden? Wenn ja, wie? So oder ähnlich lauteten die Fragen, die an das Werk von Grass, vor allem an die Danziger Trilogie, gestellt wurden.
Die in Polen hoch angesehene Polonistin Maria Janion, deren Essays vor einem Jahr in einer Auswahl auf Deutsch erschienen sind, verglich Die Blechtrommel mit Thomas Manns Doktor Faustus und Michel Tourniers Erlkönig. Die Spannbreite der polnischen Interpretationen der Danziger Trilogie reicht von der These, dass Grass in seinem Werk Hannah Arendts Behauptung von der Banalität des Bösen bestätigt (Alfred Matzerath und Walter Matern seien Nazis „aus Gedankenlosigkeit“), bis zu der entgegengesetzten Deutung, dass Oskar Matzerath und Joachim Mahlke „Zeichen einer phantasmatischen Faschismusanalyse“ seien. Sie würden zwar nicht das Böse an sich verkörpern, könnten aber nach Goyas berühmter Radierung als „Ungeheuer“ betrachtet werden, die der Schlaf der Vernunft in der „Nacht des 20. Jahrhunderts“ hervorbrachte.[1]
Diese Lesart der Danziger Trilogie verband sich mit einer anderen Problematik, die einerseits universellen Charakter hatte, andererseits die polnische Nachkriegsgesellschaft selbst betraf. Es war die Frage nach dem Wesen des Totalitarismus. Wie sehr sie die Lektüre der Blechtrommel prägte, zeigt ein Gespräch, das Günter Grass im Frühjahr 1981, im Jahr der Solidarność, an der Universität Gdańsk führte. Der Schriftsteller wurde damals zum ersten Mal offiziell in seine Geburtsstadt eingeladen und wie ein lange erwarteter Freund begrüßt, er konnte eine Ausstellung mit seinen Grafiken eröffnen und an öffentlichen Diskussionen teilnehmen (was danach erst wieder im Jahr 1988 möglich wurde). Das Gespräch an der Humanistischen Fakultät der Universität Gdańsk fand im Rahmen eines Seminars statt, in dem Maria Janion den gerade im Untergrund publizierten Roman Die Blechtrommel besprochen hatte. Wie die Dokumentation dieser Begegnung zeigt, sahen die polnischen Gesprächspartner Günter Grass als eine Autorität an, in dessen Werk sie nach geschichtsphilosophischen Voraussetzungen für ein Widerstehen im Totalitarismus suchten.
Grass wurde nach seinem antihegelianischen Geschichtsverständnis, seiner Beziehung zu Arthur Schopenhauer und seiner Camus-Lektüre gefragt. Ihm wurde die Frage gestellt: „Wie kann man im Totalitarismus leben?“ Jahre später erinnerte sich einer der Teilnehmer dieses Gesprächs, der Schriftsteller Stefan Chwin, daß „die Menschen meiner Generation“ von Günter Grass unter anderem „die antitotalitäre Haltung, die Freiheit des Denkens“ lernten.[2] Das Interesse an seinem Werk richtete sich also nicht allein auf die deutsche Geschichte, es wurden vielmehr auch eigene Angelegenheiten verhandelt, denn die Frage „Wie kann man im Totalitarismus leben?“ lässt sich ebenfalls auf den Sozialismus beziehen. Dass polnische Leser im Werk eines deutschen Schriftstellers eine Antwort auf diese Frage suchten, erscheint auf den ersten Blick merkwürdig. Erinnert man sich aber daran, welch eine Position Schriftsteller im Sozialismus einnahmen, wird verständlicher, wodurch Grass für polnische Leser eine solche Autorität werden konnte. Angesichts einer fast vollständig gleichgeschalteten Presse waren es vor allem die bildende Kunst und die Literatur, von der die Bevölkerung erwartete, dass sie tabuisierte Themen und Probleme ansprach. Bekannte westeuropäische und amerikanische Schriftsteller wurden zudem von kritischen Intellektuellen und Oppositionellen nicht nur in Polen, sondern auch in anderen Ländern des Ostblocks, häufig (zum Beispiel in offenen Briefen) um Solidarität und Unterstützung im Kampf um demokratische Freiheiten gebeten und einige von ihnen wurden tatsächlich zu Fürsprechern der Opposition in diesen Ländern. Unter ihnen war Günter Grass einer der ersten. Er gehörte zu den wenigen deutschen Schriftstellern, die über viele Jahre hinweg die Demokratisierungsbestrebungen in Polen tatkräftig unterstützten. So hatte er – wie Max Frisch, Heinrich Böll und Saul Bellow – der ersten öffentlich agierenden Oppositionsgruppe, dem KOR (Komitet Obrony Robotników – Komitee zur Verteidigung der Arbeiter), nach dessen Gründung im Jahr 1976 seine polnischen Honorare überwiesen. Er protestierte wiederholt gegen Verhaftungen, etwa 1976, als die Arbeiter in mehreren Städten gegen die Erhöhung von Lebensmittelpreisen streikten und danach die sogenannten „Rädelsführer“ vor Gericht gestellt wurden. Während des Kriegszustandes in Polen (1981˗1983) setzte er sich für die Freilassung von Schriftstellern ein und half Kollegen materiell. Als der Verband Polnischer Schriftsteller im Jahr 1983 zwangsaufgelöst wurde, gehörte er zu denjenigen Mitgliedern des deutschen Schriftstellerverbandes, die Solidarität mit den polnischen Kollegen einforderten.
Unter den namhaften deutschsprachigen Schriftstellern, die sich mit der Opposition in Polen solidarisierten, war Grass der einzige, der engere persönliche und sogar familiäre Beziehungen nach Polen unterhielt. Und gerade seine Geburtsstadt wurde zum Zentrum von Arbeiterprotesten und zur Wiege der Solidarność! Welcher Schriftsteller hätte sich davon nicht anregen lassen? Dass Grass sich in dem Roman Der Butt (1977) der Stadt Danzig erneut zuwandte, nun aber nicht mehr über die untergegangene deutsche Stadt, sondern über das gegenwärtige polnische Gdańsk schrieb, hatte einen Grund darin, dass ihn die Proteste der Danziger Werftarbeiter interessierten, ja inspirierten. Den ganzen Roman durchzieht die Erinnerung an den Streik vom Dezember 1970, doch vor allem das Kapitel „Bis zum Erbrechen“ bezieht sich direkt auf diese Ereignisse. Es erzählt von dem Werftarbeiter, Dichter und Liebhaber der kaschubischen Geschichte Jan Ludkowski, der vor dem Tor der Danziger Werft erschossen wird. Dieser Text stieß in Polen auf besonderes Interesse, weil dort die öffentliche Erinnerung an die im Dezember 1970 getöteten Werftarbeiter verboten war. So wurden die Ermordeten von den Behörden sogar des Nachts heimlich bestattet, um Manifestationen zu verhindern. Die ab 1977 organisierten illegalen Gedenkveranstaltungen vor der Danziger Werft wuchsen zu immer größeren politischen Demonstrationen an und zu den ersten Forderungen der Streikenden vom August 1980 gehörte der Bau des Denkmals für die ermordeten Werftarbeiter. Heute ist das im Dezember 1980 eingeweihte Denkmal, drei über 40 Meter hohe, durch Anker vertäute Kreuze, eines der Wahrzeichen von Gdańsk.
Ein Jahr nach der Veröffentlichung des Butt wurde Günter Grass die Publikation der Blechtrommel in der illegalen Unabhängigen Verlagsanstalt NOWA angeboten. 1979 erschien dann nicht nur der Roman, sondern in der unabhängigen Literaturzeitschrift Zapis auch der Abschnitt „Bis zum Erbrechen“ aus dem Butt. Im Solidarność-Jahr wurde der Text dann in mehreren Informationsbulletins und Zeitschriften nachgedruckt. Grass’ Entscheidung, Die Blechtrommel im Untergrund zu publizieren, war sicher von dem Wunsch getragen, diesen Roman endlich in Polen gedruckt zu sehen. Die Freigabe des Romans und eines Auszugs aus dem Butt für eine illegale Veröffentlichung war zugleich aber auch eine deutliche Parteinahme für die Opposition in Polen. Die Publikationen trugen dazu bei, dass Grass, wie sich der polnische Dichter Adam Zagajewski erinnert, „für unsere Dissidenten […] so etwas wie ein Ehrendissident“ wurde.[3]
Kritische und oppositionelle Intellektuelle konnten in Grass somit einen mächtigen Verbündeten im Kampf um demokratische Rechte und um das kollektive Gedächtnis in Polen sehen. In seinem Werk überlagerten sich gleich mehrere Tabus: Zu der Zensur, die das Erscheinen seiner Bücher be- und verhinderte, und der verbotenen Erinnerung an die 1970 ermordeten Werftarbeiter kamen weitere Aspekte hinzu. Die 1963 in Polen erschienene Novelle Katz und Maus und dann auch Die Blechtrommel führten polnische Danziger in die offiziell in der staatlichen Propaganda verschwiegene oder dämonisierte deutsche Vergangenheit ihrer Stadt. Durch seine eindeutige Haltung zur Oder-Neisse-Grenze nahm Grass den polnischen Machthabern auch die „deutsche Karte“ aus der Hand, die sie immer wieder gegen ihre Kritiker ausspielten. Zwar ging ihre Propaganda nicht jedes Mal so weit wie 1970, als sie die Information verbreiteten, die Streiks der Werftarbeiter würden von deutschen Revanchisten gesteuert, doch zog die volkspolnische Regierung einen beträchtlichen Teil ihrer politischen Legitimierung aus der Behauptung, der „deutschen Gefahr“ aus der Bundesrepublik entgegenzutreten. Von der subversiven Sprengkraft, die Grass‘ Werk durch diese Aufladung mit Verboten und Tabus erhielt, zeugt das 1980 entstandene Gedicht Wrzeszcz nad ranem [Langfuhr am Morgen] von Zbigniew Joachimiak, in dem es heißt: „Langfuhr von der Nacht berauscht / schlägt die Blechtrommel […] das Stadtviertel angeblich schlafend / verlacht in der Nacht den Tag / der Tag schläft berauscht von der Nacht Langfuhr / erstarrt am Tag // Hier wohne ich / Und hüte den nächtlichen Staat.“ In diesem Text wird eine Stadt heraufbeschworen, die sich auf der Nacht- und Rückseite der realen Stadt befindet. Es ist eine Stadt dionysischen Aufruhrs und nicht zufällig begleitet gerade die Blechtrommel die Rebellion.
Angesichts dieser brisanten Lektüre verwundert es nicht, dass die erste Begegnung zwischen Grass und Vertretern der polnischen Intelligenz im Solidarność-Jahr sehr emotional ausfiel und der deutsche Schriftsteller geradezu enthusiastisch begrüßt wurde. Im Laufe der 1980er-Jahre traten dann die Unterschiede in den politischen Haltungen auf beiden Seiten stärker zu Tage und kam es zu einer Verifizierung gegenseitiger Projektionen. Was Grass in Solidarność sah, lässt sich unter anderem aus einem Gespräch vom Juni 1981 schließen, in dem er über seine Beziehung zu Gdańsk sagte:
Ich fühle mit dieser Stadt und mit allem, was hier geschieht. Ich war stolz auf den Kampf der polnischen Arbeiter in Gdańsk 1970. Und darauf, dass im August 1980 alles ohne Kampf und Waffen geschah. Die Spontaneität dieser Widerstandsbewegung, ihre Nichtkongruenz zum zentralistischen Denken, dass sie eine Basisbewegung war, das alles hat meine tiefe Sympathie gewonnen. Und auch das, dass die Arbeiter endlich selber über sich entscheiden wollten.[4]
Für Grass verwirklichte Solidarność Rosa Luxemburgs Idee von der Spontaneität revolutionärer Massenbewegungen; er sah die Entstehung und das Wirken der Freien Gewerkschaft in der Nachfolge des Matrosenaufstandes von Kronstadt 1921, des Ungarischen Aufstands 1956 und des Prager Frühlings 1968. Diese Vorstellung einer Basisbewegung oder auch Volksbewegung, wie er sie nannte, verband er mit dem Ideal einer sozialen Demokratie. Aus diesem Grund stieß die Neugründung der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) im Jahr 1988 durch den Bürgerrechtler und Publizisten Jan Józef Lipski auf seine tiefe Sympathie. Als er sich 1989 mit Lipski, damals erster Vorsitzender der wiedergegründeten Partei, in Gdańsk zum Gespräch traf, soll Grass sogar darum gebeten haben, ihn nicht als Schriftsteller, sondern als Mitglied der SPD vorzustellen.
Günter Grass wünschte sich, dass die basisdemokratische Bewegung, die Solidarność für ihn verkörperte, auch der westdeutschen Gesellschaft ein Beispiel geben möge. So schrieb er, dass die „zur Zeit unterdrückte polnische Volksbewegung auch hier [hätte] deutlich machen können, wie notwendig unserem mittlerweile verkrusteten Gesellschaftsgefüge […] eine vergleichbare, heilsam Unruhe stiftende Basisbewegung wäre.“[5] In Solidarność erkannte er eine Alternative auch zu Demokratiedefiziten und sozialer Ungerechtigkeit im Westen. Seine Sicht auf die Opposition in Polen bewegte sich daher im Spannungsfeld zwischen einer Kritik am realen Sozialismus und dem Ideal eines demokratischen Sozialismus, in dem er eine Alternative zum Kapitalismus sah. Seine politischen Äußerungen waren demzufolge nicht selten Ausdruck einer Projektion und recht schematischen Verallgemeinerung aus linker Perspektive. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sie in Polen zuweilen auf Befremden stießen. Obwohl er wusste, dass sich die Opposition und die Demokratiebewegung in Polen aus verschiedenen politischen und sozialen Strömungen zusammensetzte, dass sie auch eine nationale Unabhängigkeitsbewegung war und es in ihr eine einflussreiche liberale Strömung gab, blieb Günter Grass bei der Feststellung, dass sie im Grunde genommen sozialistische Ideale realisiere.
Der Roman Die Rättin von 1986 verdeutlicht einen weiteren Aspekt seines Solidarność-Bildes. Grass hebt hier die Idee der solidarischen Gesellschaft auf eine menschheitsgeschichtliche Ebene und formuliert zugleich seine tiefe Skepsis an der Möglichkeit ihrer Realisierung. Er lässt die Menschheit in einem Dritten Weltkrieg zugrundegehen und das Ethos der Solidarność nicht durch die Menschen, sondern durch die vom Erzähler erträumten Ratten verwirklichen, die Danzig nach dem „großen Knall“ neu besiedeln. Diese Einbettung der Solidarność in die Geschichte eines durch die Atombombe herbeigeführten Endes der menschlichen Zivilisation korreliert mit Grass’ Engagement in der Friedensbewegung der 1980er-Jahre. Seine damit verbundene Ablehnung der US-amerikanischen Politik stieß unter polnischen Oppositionellen auf großes Unverständnis, denn diese sahen in den USA mit ihrer kompromisslosen Haltung gegenüber den Staaten des Warschauer Vertrages und insbesondere der Sowjetunion ihren stärksten internationalen Verbündeten. Günter Grass wurde im Laufe der 1980er-Jahre in Polen somit zu einem streitbaren Gesprächspartner und blieb dies auch nach 1989, weil er sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs weiterhin zur Einmischung in polnische Angelegenheiten berechtigt und verpflichtet fühlte. Dass seine Statements manchmal etwas belehrend ausfielen und von recht grobem Zuschnitt waren, sah man ihm angesichts seiner Verdienste um die deutsch-polnische Verständigung und mit Blick auf sein wachsendes Alter nach.
Seine Bücher können seit 1990 endlich ungehindert in Polen erscheinen. Er selbst wurde hoch geehrt, etwa 1993 mit der Verleihung der Danziger Ehrenbürgerschaft und mit einer dreitägigen Feier zu seinem 80. Geburtstag. Die Information über seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS wurde zwar mit Irritation aufgenommen, führte aber nicht zu einer Abwendung von ihm. Im heutigen Gdańsk, als dessen „Taufpate“ er gern gesehen wird,[6] ist er auf vielfältige Weise präsent. Die im Jahr 2009 eingerichtete Günter-Grass-Galerie stellt nicht nur sein künstlerisches Werk aus, sie organisiert auch jährlich das Kunstfest Grassomania zu Motiven, die durch sein Schaffen inspiriert sind. Theateradaptionen und Performances zu einzelnen Werken, Stadtspaziergänge auf den Spuren der Biographie von Günter Grass und der Figuren der Danziger Trilogie erfreuen sich recht großer Beliebtheit, auch wenn es der jungen Generation meist schwer fällt, einen Zugang zum literarischen Werk zu finden. So manches von dem, was ältere Leser in den Bann der Danziger Trilogie zog, etwa die barock überbordende Erzählweise, das Pikareske, auch die Mischung von Groteske und Sarkasmus, wirkt auf sie eher befremdlich.
Durch die Literatur polnischer Schriftsteller ziehen sich spätestens seit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre Rezeptionsspuren des Werkes von Günter Grass. Autoren wie Paweł Huelle und Stefan Chwin, die auch ins Deutsche übersetzt wurden, schreiben nicht nur – wie ihnen oft nachgesagt wird – das Grass‘sche Werk und den mit ihm geschaffenen Mythos von Danzig als einer Stadt mehrerer Kulturen weiter. Sie führen auch einen Dialog mit dem deutschen Schriftsteller, indem sie immer neu die Fragen aufwerfen, die sie vor mehr als drei Jahrzehnten an dessen Werk richteten: Was bewegt den Menschen dazu, eine verbrecherische Politik zu unterstützen? Wie kann man im Totalitarismus leben? Wie lässt sich von Schuld und Verstrickung, von der Teilhabe an einem solchen System erzählen? Dieses Gespräch zu verfolgen, lohnt sich.
Anmerkungen
[1] Rozplątywanie Grassa [Grass entwirren], in: Polskie pytania o Grassa [Polnische Fragen um Grass]. Pod red. Marii Janion. Warszawa 1988, S. 18-82. (Protokoll einer Diskussion, die im Dezember 1984 im Warschauer Studentenklub „Hybrydy“ stattfand. Die Zitate wurden den Äußerungen von Maria Żmigrodzka und Kwiryna Ziemba entnommen.)
[2] Stefan Chwin: Grass und das Geheimnis. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.08.2006.
[3] Adam Zagajewski: Lobrede auf einen strengen Deutschlehrer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.1999.
[4] Ryszard Ciemiński: Kaszubski werblista. Rzecz o Günterze Grassie. Gdańsk 1999, S. 107f. (Übersetzung M.B.)
[5] Günter Grass: Der Dreck am eigenen Stecken. Der „freie Westen“ und das Kriegsrecht in Polen. In: L ’80. Demokratie und Sozialismus. Politische und Literarische Beiträge, H. 21, Februar 1982, S. 154-157, hier S. 155.
[6] Jacek Friedrich: Mity gdańskie. In: Polityka, Nr. 35, 2014, S. 55-57.