Die Taube von Sloterdijk

Friedrich Achleitner hält in der Prosasammlung „wortgesindel“ das Erbe der Wiener Gruppe am Leben

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, der bekannte philosophische Schriftsteller ist nicht gemeint in dem „sloterdijk“ überschriebenen Prosatext aus Friedrich Achleitners neuester Sammlung, sondern ein Bahnhof in Amsterdam. Dort weckt eine Taube die Aufmerksamkeit der Reisenden: Sie spielt mit einer Art Gummiball, der schließlich auf die Gleise rollt. Das ist alles – erzählt als realistische, wie selbsterlebt daherkommende Episode: „sloterdijk, freitag, 30. juli, 19.07 uhr“. Die Irritation bleibt: Nimmt der Autor in Kauf, dass wohl jeder Leser sogleich an den Philosophen denkt, spielt er mit uns wie die Taube mit dem Ball? Oder ist ihm dies gar nicht bewusst, da die Hervorhebung im Titel dem authentischen Ort geschuldet ist?

Wie auch immer – dieses niedergeschriebene Reiseerlebnis wirkt umso fremder, als es aus der Menge der übrigen Texten herausfällt. Im Lichte des dem Buch vorangestellten sprachskeptischen Mottos von Fritz Mauthner, „Sprache ist ein Werkzeug, mit dem sich die Wirklichkeit nicht fassen läßt“, verliert der Text den Anschein einer naiven Schilderung. Der 1930 geborene Friedrich Achleitner, einer der neben den bekannteren Autoren Gerhard Rühm und Oswald Wiener letzten lebenden Repräsentanten der Wiener Gruppe, die sich vor nunmehr fünfzig Jahren auflöste, und darin deren poetologischer Programmatik treu, vertraut sich vielmehr der Sprache als eigener Wirklichkeit an. Bereits drei Bände mit Prosaminiaturen hat der im Alter, nach seiner Emeritierung als Professor für Geschichte und Theorie der Architektur 1998, wieder zur Prosadichtung zurückgekehrte Achleitner veröffentlicht: „einschlafgeschichten“ (2003), „und oder oder und“ (2006) sowie „der springende punkt“ (2009).

„wortgesindel“ – das sind zu einem guten Teil aus der Sprache herausgesponnene Fantastereien von einer halben Seite oder noch weniger, die mit an Karl Valentin gemahnendem Eigensinn Ausdrücke wörtlich nehmen und damit absurde Pirouetten drehen. Der Sinn des Wortes „schweißgebadet“ etwa wird empirisch ad absurdum geführt: „um ein vollbad in schweiß zu nehmen, benötigt also ein mensch mittleren alters, mittlerer größe und in einer mittleren klimazone etwa zweihundert jahre, um im eigenen schweiß ein vollbad nehmen zu können. zahlt sich das aus?“ Wortetüden voll funkelnden Witzes und abseitiger Logik sind das Ergebnis, wenn der Autor sich konsequent auf seine Assoziationen zu einem Wort verlässt und sie erschöpfend ausreizt, wobei Kalauer gern in Kauf genommen werden: „scheibchenweise / ich habe zwar nicht gewusst, dass scheibchen weise sein können. aber bitte. damit verwandt ist das wort salamitaktik. obwohl nicht geklärt ist, ob salamis wirklich eine taktik haben.“ Wie auch bei Karl Valentin ist es sehr oft ein Alltagsdialog zwischen Zweien, die sich treffen, der einen solch köstlichen Nonsens hervortreibt. Der kürzeste ist nur vier Zeilen lang und trägt den Titel „zwei alte“: „der eine: du, ich kenn den prillinger ferdl jetzt schon vierzig jahr. glaubst, mir fallert sein name noch ein? / der andere: da kann ich dir nicht helfen, ich hör den namen heute zum ersten mal.“

Ein unscheinbarer Ausdruck wie „auf dem Bildschirm“ erfährt einen neuen, unerwarteten Sinn, wenn „eine große und eine kleine fliege oder eine mücke und eine fleischfliege“ darauf herumspazieren und sich unterhalten oder – in einem ähnlichen Perspektivenwechsel – sich ein surreales Szenario entfaltet, wenn ein tonnenschwerer Granitklotz auf „stellungssuche“ geht. Achleitner ist ebenso erfinderisch, wenn es um verschrobene Charaktere und kauzige Persönlichkeiten geht. Von einem Wetterberichtesammler wird erzählt oder von einem fleißigen Menschen, der über das Wort „fleißaufgabe“ nachdenkt: er „wurde so verwirrt, dass er künftig seinen fleiß aufgab, und das so konsequent, dass ihn seine nicht minder fleißige umwelt fortan einen faulenzer nannte.“ In einem anderen Stück fordert ein oberlehrerhafter Bürgermeister, dass „die zebrastreifen nur von zebras benutzt werden durften, obwohl es in der stadt nur zwei zebras gab, die den zoo nie verlassen durften. die fußgängerübergänge mussten ab sofort ohne zebrastreifen ausgeführt werden“.

Eine Sonettparodie, fast schon eine Pflichtübung für sprachspielerische Dichter der Moderne von Gerhard Rühm bis Robert Gernhardt, darf freilich auch nicht fehlen. Achleitner absolviert sie als ein Sonett, das von seiner eigenen mühevollen Verfertigung erzählt und antwortet so auf das berühmte (selbstreferenzielle) „sonett“ von 1970 seines Kollegen Rühm: „so bleibt nur eilen eilen eilen / und ein verzweifelt auf das ende schaun / ist es nicht schade um die vierzehn zeilen?“. Wo der Autor einmal nicht seiner blühenden Sprachfantasie die Zügel schießen lässt, wird eine an sich banale „begebenheit“ (so der Titel eines Textes) in der Art erzählt, dass sie sich im Nachhinein als eine erzählerische Reflexion auf das Verhältnis von Beobachten, Schreiben und Wirklichkeit entpuppt. Im ganzen liest sich die Sammlung recht kurzweilig, da die Texte vielfältig sind und nicht einem Strickmuster folgen.

„wortglaubereien“ – so hätte die Sammlung von Prosaminiaturen ursprünglich heißen sollen, folgt man einer faksimilierten Manuskriptseite auf dem Buchumschlag, was durchaus auch einen sinnigen Titel abgegeben hätte. Der endgültige Buchtitel „wortgesindel“ hat zwar keinen besonderen sprachspielerischen Witz, dafür steht er auch über dem letzten Text der Sammlung – mit einer autopoetischen Pointe: „und was ist mit dem wortgesindel? zu wortgesindel fällt mir nichts ein.“

Es bleibt zu hoffen, dass dem nunmehr in seinem 86. Lebensjahr stehenden Wiener Architekturhistoriker und nimmermüden Fabulierer mit einem Ohr für die Hintersinnigkeit der Sprache die Einfälle für einen weiteren, fünften Band mit Prosaminiaturen nicht ausgehen werden. In seinem Schreiben bleibt er dem sprachexperimentellen Geist der längst historisch gewordenen Wiener Gruppe verbunden.

Titelbild

Friedrich Achleitner: wortgesindel.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015.
112 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783552057128

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch