Ein aus der Zeit Gefallener

Der Flaneur Franz Hessel schrieb einige der schönsten und treffendsten Texte über das Berlin der 1920er-Jahre – und die Berlinerinnen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob es zu Franz Hessel etwas Neues zu entdecken gibt, ist fraglich. Seine Werke sind bis in den Nachlass hinein publiziert, es gibt Gesammelte Werke, die beim kleinen Osnabrücker Igel-Verlag erschienen sind (der dafür zu loben ist). Was jetzt noch folgen mag, sind Marginalien, zumindest ist dies anzunehmen. Überhaupt keinen Zweifel gibt es hingegen daran, ob es sich lohnt, Texte dieses Meisters der Kleinen Form zu lesen. Neben Walter Benjamin ist Hessel der mittlerweile bekannteste und erschlossenste Autor jener kurzen, vor allem in Zeitungen und Zeitschriften erschienenen Texte, die mit gutem Recht dem Feuilleton zugerechnet werden. Jener bedenklichen und nebensächlichen Gattung also, die wahrscheinlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Innovativste war, was man sich in den damaligen Neuen Medien vorstellen konnte. Und zwar aus dem Grund, dass diese Gattung sämtliche Wahrnehmungs-, Schreib- und Lesekonventionen durchbrach und die Modernisierungsprozesse auf eine Art und Weise beobachtete, die bis dahin nicht bekannt war.

Die Mikroebene des privaten und persönlichen Alltagslebens, das ebenso Typisierungen ermöglicht wie Überraschungen bereithält, scheint in diesen Texten auf. Sie zeigen das Nebeneinander und die Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Zeiten und Kulturformen, die durch die Modernisierungsprozesse überformt wurden. Und das auf der Ebene ihrer kleinsten Akteure. Franz Hessel ist der frühe Meister dieser Form. Der 1880 in Stettin geborene Hessel war zu Beginn der Weimarer Republik bereits ein erfahrener Autor, wenngleich sein Bekanntheitsgrad beschränkt gewesen sein wird. In Ernst Rowohlt hatte Hessel einen steten Begleiter: Hessel arbeitete als Lektor für Rowohlt. Sogar bis 1938, bis zur Emigration nach Frankreich, konnte Rowohlt Hessel halten, obwohl der Verlag über Ullstein an den Parteiverlag der NSDAP gefallen war.

Seine bekanntesten Sammlungen „Teigwaren leicht gefärbt“ (1926), „Spazieren in Berlin“ (1929), „Nachfeier“ (1929) und „Ermunterungen zum Genuß“ (1933) weisen ihn als einen  Großen der Kleinen Form aus, auch wenn er daneben noch Romane geschrieben und Übersetzungen, unter anderem von Marcel Prousts „Recherche“, angefertigt hat. Die ersten Jahre des  nationalsozialistischen Regimes konnte Hessel noch in Deutschland überstehen, erst 1938 verließ er Berlin und ging nach Frankreich ins Exil. Im Januar 1941 starb er in jenem französischen Küstenort, der für so viele deutsche Exilanten die letzte Zuflucht geworden war: Sanary-sur-Mer.

Manfred Flügge, der die vorliegenden, aus dem bekannten Werk zusammengestellten Texte Hessels mit einem Nachwort versehen hat, charakterisiert den Autor sicherlich zurecht als einen aus der Zeit Gefallenen, jemanden aus einer anderen Zeit, der staunend vor dem stand, was ihm diese 1920er- und frühen 1930er-Jahre boten. Und das bezog zweifelsohne die Neuen Frauen mit ein. Sie waren ihm ein Wunder und ein Rätsel zugleich, allerdings waren sie ihm weder je verhasst noch hat er sich von ihnen abgestoßen oder gar gelangweilt gefühlt.

Gerade die Alltagsfrauen, jene Berlinerinnen, die namenlos bleiben konnten, waren ihm jeder Aufmerksamkeit wert. Gerade weil sie nicht à la mode waren, gerade weil sie nicht jedem Chic hinterherliefen, sondern mit sich und dem Geld bedächtig, wenngleich auch selbstbewusst umzugehen verstanden.

Flügge stellt Hessels Text „An die Berlinerin“ zwar jenem Text Erika Manns gegenüber, der „An den Berliner“ in derselben Ausgabe der „Vogue“ erschien, und betont ihre Gegensätzlichkeit. Aber zugleich wird in dieser Gegensätzlichkeit erkennbar, was die Wahrnehmung der Neuen Frau und ihr Selbstbild verbindet: dass sie unerhört neu war. Liest man den Hessels Text (den von Erika Mann findet man in der Sammlung ihrer kleinen Texte, die unter dem Titel „Blitze überm Ozean“ bei Rowohlt gesammelt erschienen sind), dann wird dies offensichtlich. Der Sprecher dieses Textes (eine präzise inszenierte Rolle, die Hessel dort vorführt) ist überwältigt von der Geschwindigkeit und Gewalt, mit der die Neue Frau, deren Prototyp wohl in Berlin zu suchen ist, sich jederzeit neu erfindet und dabei enorme Entwicklungssprünge macht. Sie ist dem Beobachter, der ihr Rat zu geben versucht, längst entwachsen – womit die Positionen also getauscht sind. Das aber ist der bestimmende Eindruck aller Texte dieses Bandes: Der Mann ist längst nicht mehr der Überlegene, als der er sich noch lange gesehen hat (wer das nicht glauben will, der lese die Romane Hans Falladas).

Naheliegend ist das Porträt Marlene Dietrichs das Kernstück des Bandes. Allerdings ist es die frühe Dietrich, jene des „Blauen Engel“ vor allem, und schon nicht mehr so sehr die ihrer ersten beiden amerikanischen Filme, „Marokko“ (1930) und „Dishonoured“ (1931). Das hängt mit der noch andauernden Verwunderung über den gerade erst etablierten Tonfilm und dessen Möglichkeiten zusammen. „Der blaue Engel“ kam bereits 1930 – ein Jahr nach der Etablierung des Tonfilms – heraus und wurde zu einem Triumph, vor allem einer jungen Frau, vor der sich Hessel verneigt – weil sie eben auch Berlinerin ist.

Aber selbst wenn das Porträt Dietrichs neben anderen Künstlerporträts steht, es sind nicht die bedeutenden Frauen, die berühmten, die großen, die Hessel fasziniert haben (wenn man seinen Texten folgen darf), es sind die „kleinen Ladenfräuleins“, die eben auch ins Kino gingen und die Stars machten. Und an denen erkennbar wurde, wie sich jenes wilhelminische und nationalistische Deutschland unter der Hand in eine moderne Massengesellschaft verwandelte. Hessels Texte, denen jede Klage über die Vergangenheit und jede Verurteilung fremd sind, zeigen das gerade dort, wo es am wichtigsten ist: im Alltag. Und sie zeigen das, was dabei herauskommt, in aller Schönheit und Faszination.

Titelbild

Franz Hessel: Schöne Berlinerinnen. Frauenporträts.
Herausgegeben von Manfred Flügge.
ebersbach & simon, Berlin 2015.
137 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783869151014

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