Die Reclam-Welt (nicht nur) in Gelb

Zum 175. Geburtstag des Verlegers Hans Heinrich Reclam

Von Dieter KaltwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Kaltwasser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Mann bekannte im Jahre 1908 über die „gelb-roten Heftchen“, „daß es mein Traum war, ein Werk meines eigenen Geistes nach ihrer Art gedruckt vor mir zu sehen, und dieser Traum ist mir bis heute nicht fremd geworden. Wenn dreißig Jahre nach meinem Tode das eine oder andere meiner Bücher in der Reclam-Bibliothek erschiene – wäre das nicht eine kleine Unsterblichkeit?“ Bei Arno Schmidt heißt es: „Ähnlich hab‘ ich, als rund Fünfzehnjähriger, Monate über einem GesamtVerzeichnis der RECLAM Bibliothek verträumt.“

Am Anfang war es nur eine Leihbibliothek mit einem Lesesaal. Das war 1828, als Anton Philipp Reclam, von Beruf  Buchhändler und 22 Jahre zählend, sich von seinem Vater 3000 Taler lieh und die Lokalität kaufte. Sie lag inmitten von Leipzig, am Naschmarkt, bekannt als „Literarisches Museum“. Thomas Mann rühmte 100 Jahre später in seiner Festrede im Leipziger Alten Theater den Verlagsgründer als liberalen Geist und echten Idealisten. Über den Ort selbst sagte er: „Das so genannte Museum war eigentlich kein Museum, sondern ein gefährlich lebensvoller Ort: eine Stätte der Lektüre, der Diskussion, der Kritik! Wo alles verkehrte, was im guten Leipzig der falschen und frömmlerischen Ordnung aufsässig war.“

Das Geheimnis von Nr. 4

Nach der Revolution von 1848 verlegte sich Anton Philipp ganz aufs Unternehmerische, dabei kam ihm die deutsche Rechtsprechung gelegen, denn seit 1857 galt die Regelung, wonach allen deutschen Autoren eine Schutzfrist von 30 Jahren nach ihrem Tod gewährt wurde. Damit waren die deutschen Klassiker „gemeinfrei“. Reclam nutzte dies und gründete die „Univeral-Bibliothek“. Als erste Nummern erschienen die beiden Teile von Goethes „Faust“, Lessings „Nathan“ und noch vor Shakespeares „Romeo und Julia“ als Nr. 4 Theodor Körners „Leyer und Schwerdt“. Diese Nummer mit seinem lyrischen Bezug zur deutschen Nationalbewegung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Programm genommen; seitdem gibt es bis heute keinen Band mehr mit der Nummer 4.

„Eine Sammlung von Einzelausgaben allgemein beliebter Werke, die in regelmäßiger Folge erscheinen sollen , wobei aber nicht daran gedacht ist, Werke, denen das Prädikat ‚klassisch’ nicht zukommt, die aber nichtsdestoweniger sich einer allgemeinen Beliebtheit erfreuen, aus der Sammlung auszuschließen,“ heißt es in einer Verlagsannonce vom Februar 1868. Und die Leser sind begeistert. Der am 18. Mai 1840 geborene Hans Heinrich Reclam, einziger Sohn von Anton Philipp, ist bereits seit 1863 in der Firma tätig. Er hatte sich im väterlichen Geschäft als Buchdrucker ausgebildet und bei verschiedenen Buchhändlern in Zürich, Brüssel und Gent als Gehilfe gearbeitet.

Seit 1877 etabliert sich philosophisches Schrifttum in der Universal-Bibliothek: Neben drei Platon-Dialogen erscheint Kants Kritik der reinen Vernunft; die beiden anderen großen „Kritiken“ Kants, die „Kritik der Urteilskraft“ und die „Kritik der praktischen Vernunft“, folgen 1878.

Sammlungsort der Literatur und Massenauflage zum billigen Preis

Massenauflagen zum billigen Preis – dieses Konzept hat Anton Philipp Reclam berühmt gemacht. Schon in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ist die „Universal-Bibliothek“ ein Sammlungsort der Literatur. Das bezeugt kein geringerer als Ernst Rowohlt: „In dieser Zeit legte ich den Grundstein zu meiner heute mit Recht so berühmten literarischen Bildung. Altersgenossen von mir behaupten, dass ich häufig auf der Straße, im Gehen ein Reclam-Bändchen lesend, getroffen wurde. Und manchmal sogar Laternenpfähle angerannt hätte.“

Anton Philipp Reclam starb 1896, sein Sohn Hans Heinrich leitete nun den Verlag allein. Im Gegensatz zum „alten Reclam“ muss Hans Heinrich ein sehr geselliger Mensch gewesen sein, in seinem großen Haus in Leipzig verkehrten Schriftsteller und Künstler. Sein Enkelsohn Heinrich erzählt in einer Rückschau: „In großartiger Erinnerung ist mir natürlich noch die Festaufführung zum 100jährigen Jubiläum des Verlages. Mein Vetter Rolf und ich saßen in einer schmalen Bühnenloge und beneideten unsere Väter, die neben Thomas Mann sitzen durften, nachdem sie gerade vorher Gerhard Hauptmann begrüßt hatten.“ Mit den „Vätern“ sind Hans-Emil und Ernst Reclam gemeint: die beiden Enkel vom „alten Reclam“. Sie leiteten inzwischen den Verlag und haben Thomas Mann zum Festredner ausgewählt: 1928 feierte der Verlag im Leipziger Alten Theater seinen 100. Geburtstag.

Reclam in den beiden Weltkriegen

Von 1890 bis 1917 war Hans Heinrich Reclam Inhaber des Unternehmens. Ab 1867 wurde unter seiner Leitung und mit viel unternehmerischem Geschick die vom Vater begründete „Universal-Bibliothek“ stark erweitert und zu seinem eigentlichen Lebenswerk. 1920 starb der Verleger.

1933 wurden die Werke von Thomas Mann auf Befehl der Nazis aus dem Reclam-Programm gestrichen. Neben Thomas Mann wurden auch Heinrich Heine, Stefan Zweig, Arthur Schnitzler und Franz Werfel auf den Index gesetzt. Für die Soldaten des 1. Weltkrieges hatte Reclam bereits eine „Feldbücherei“ im Angebot; ab 1939 folgt dann die für den 2. Weltkrieg. „Ein absurdes Szenario“, so Ernst Bloch: „der deutsche Soldat ist mit seinem „Kant“ im Tornister tatsächlich in die Schlacht gezogen!“

Viel mehr als eine Reihe deutscher Klassiker

Reclam überstand die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die deutsche Teilung mit zwei Verlagshäusern in Leipzig und Stuttgart. Seit 2005 wird die Universal-Bibliothek allein in Ditzingen bei Stuttgart hergestellt und die Herstellungsabteilung in Leipzig geschlossen. Die Universal-Bibliothek ist mittlerweile mit ihren sechs Farben viel mehr als Reihe deutscher Klassiker in Gelb geworden. Doch immer noch gewährt die Reihe einen idealen und preiswerten Eintritt in andere Nationalliteraturen, zu Homer und Cicero, Dante und Calderon, Shakespeare und Molière, Ibsen und Dostojewski.

Neues aus der Universal-Bibliothek

In diesen Tagen wird der 750. Geburtstag des berühmtesten italienischen Dichters, Dante, begangen, der – gemäß der konventionellen biographischen Erzählung – zwischen dem 14. Mai und dem 13. Juni 1265 in Florenz geboren wurde. Wie bereits in ihrem Buch „Shakespeare auf 100 Seiten“ stellt uns die Publizistin Stefana Sabin nun Dante, sein Leben, seine Zeit, sein Werk auf 100 Seiten vor, von den politischen Wirren in seiner Heimatstadt Florenz, die dazu führten, dass er lange Jahre im Exil verbrachte, bis hin zu seiner ungebrochenen Wirkung noch im 21. Jahrhundert. Schon der Blick auf die sieben Kapitelüberschriften macht Lust auf mehr: „Unruhige Zeiten oder: Machtkampf in Florenz“ – „Dante Alighieri oder: Der politische Flüchtling als verbannter Dichter“ – „Das Werk oder: Die Pilgerreise des Lebens“ – „Beatrice oder: Die Liebe und die Lyrik“ – „Die neue Weltordnung oder: Die Trennung zwischen Staat und Kirche“ – „Die Volkssprache oder: Die Erfindung des Italienischen“ – „Die Zweieuromünze oder: Dante Superstar“. Dante wird zur Identifikationsfigur europäischer Integration.

Ziel des neu erschienenen Bands Lexikon Pädagogik“ ist es, die wichtigsten „Hundert Grundbegriffe“ zur Erziehung und ihrer wissenschaftlichen Lehre für eine breite Leserschaft zu vereinen. Wir finden Kernbegriffe wie „Bildung“, „Lernen“ oder „Wachstum“, Beiträge zu Institutionen der Erziehung von der „Familie“ und „Schule“ bis hin zur „Universität“, bestimmte erziehungswissenschaftliche Epochen wie die „Aufklärungspädagogik“ oder „Reformpädagogik“ und Artikel über Bildung und Ausbildung in unterschiedlichen Lebensphasen, zum Beispiel “Vorschulpädagogik”, “Weiterbildung” und “Geragogik”. Den jeweiligen Artikel eröffnet eine Kurzdefinition, an die ein begriffsgeschichtlich oder systematisch strukturierter Darstellungsteil anschließt, den Abschluss bildet Überblicksliteratur. Herausgegeben ist das Lexikon von Marnie Schlüter und Stefan Jordan.

Von der Geschichte der westlichen Nationen seit ihrer Expansion in der Frühen Neuzeit über die Entwicklung des Welthandels und der Industrialisierung im 19. Jahrhundert bis hin zum Aufstieg Asiens und den sogenannten „Entwicklungsländern“ schreibt der Wirtschaftshistoriker Robert C. Allen seine „Geschichte der Weltwirtschaft“ in den letzten 500 Jahren. Warum sind einige Nationen dabei so viel erfolgreicher und wohlhabender als andere? Allen stellt die Entwicklung zur heutigen globalen Wirtschaft präzise und verständlich dar. Dabei kommt er zum Beispiel für China zu dem Ergebnis, dass sich für das Land in den nächsten dreißig Jahren ein Kreis schließt: Es wird den Westen einholen und zur größten Industrienation der Welt werden, genauso wie es einst vor den Reisen von Christoph Kolumbus und Vasco da Gama war: Die Welt kehrt zurück zu ihrem Ausgangspunkt.

Titelbild

Stefana Sabin: Dante auf 100 Seiten.
Reclam Verlag, Stuttgart 2015.
104 Seiten, 5,00 EUR.
ISBN-13: 9783150193181

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Titelbild

Robert C. Allen: Geschichte der Weltwirtschaft.
Übersetzt aus dem Englischen von Reiner Buchegger.
Reclam Verlag, Stuttgart 2015.
216 Seiten, 7,80 EUR.
ISBN-13: 9783150191712

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Titelbild

Stefan Jordan / Marnie Schlüter (Hg.): Lexikon Pädagogik. Hundert Grundbegriffe.
Herausgegeben von Stefan Jordan und Marnie Schlüter.
Reclam Verlag, Stuttgart 2015.
320 Seiten, 9,80 EUR.
ISBN-13: 9783150192962

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