Meister Richards Liebeszoo oder Das Lob der Vorsicht

Ralph Dutli übersetzt das altfranzösische „Bestiaire d’Amour“ des Richard de Fournival

Von Dorothea HeinigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothea Heinig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Minnelehren des Richard de Fournival gehen zurück auf eine Tradition, die im späten 2. Jahrhundert in Alexandria beginnt. Dort stellt ein anonymer griechischer Autor eine allegorisierende Naturlehre zusammen, in der er Tiere, Pflanzen und Mineralien theologisch-heilsgeschichtlich deutet und symbolische Verweise auf Christus und den Teufel, die Kirche und die Gläubigen herausliest. Dieser volkstümliche „Physiologus“ (also: „der Naturkundige“) vermittelt dem einfachen Menschen die Grundlagen des Christentums in leicht verständlicher Form. Das Werk erfreute sich von der Spätantike bis ins Mittelalter großer Beliebtheit vor allem im Schulbetrieb und der geistlichen Unterweisung und so liegen neben lateinischen Fassungen auch verschiedene volkssprachige Übertragungen vor. Ab dem 10. Jahrhundert werden in dieser Tradition umfangreiche lateinische Kompilationen von Tiergeschichten, sogenannte Bestiarien, mit geistlich-moralischen Auslegungen erstellt. Im frühen 12. Jahrhundert entstehen dann die ersten gereimten altfranzösischen Bestiarien, das „Bestiaire“ des Pierre de Beauvais (wohl vor 1206) ist bereits in Prosa verfasst.

Vor diesem gelehrten Hintergrund entfaltet der umfassend gebildete Autor des „Bestiaire d’Amour“ seine Reflexionen über das Wesen der Minne. Richard de Fournival (1201-1260) war Kanoniker in Amiens und Rouen, Arzt und Chirurg, Dichter und Sänger, Büchersammler und Kanzler der Kathedrale Notre-Dame d’Amiens. Sein zwischen 1230 und 1250 entstandenes höfisches Liebesbestiarium (für das es kein lateinisches Vorbild gibt) tritt als Heerbann oder letztes Aufgebot (li arrierebans) der Lieder auf, die er zuvor an seine Dame gerichtet hatte. So nimmt der Kleriker die Stelle des Troubadours ein, wechselt vom werbenden Gesang zur Prosa des pseudo-naturwissenschaftlich untermauerten Arguments und beginnt mit der rationalen Feststellung: Toutes gens desirrent par nature a savoir, einem Aristoteles-Zitat. Wissen kann nur mit Hilfe des Gedächtnisses weitergegeben werden und so findet er mit Gesichtssinn und Gehör, den vornehmsten Sinnen des Menschen, gleich zwei Wege in das maison Memoire oder Haus des Gedächtnisses, bzw. das Herz seiner Dame, der bele tres douche amee. Tatsächlich kommt seine Werbung in Wort und Bild daher, wie der Blick auf die Überlieferung zeigt: Es sind 22 Handschriften (die älteste entstand zwischen 1250 und 1260) und ein Fragment bekannt, alle sind illustriert bzw. es ist Platz gelassen für nicht ausgeführte Illustrationen und so kann jedes Tier daher auch bildlich vor den Leser bzw. vor die Dame treten. Wie im „Physiologus“ und den Bestiarien werden die Tiere mit ihren charakteristischen Eigenschaften gezeigt und ausgedeutet, diesmal allerdings nicht heilsgeschichtlich-erbaulich, vielmehr wird die Natur der Liebe im allgemeinen und des Autors zu seiner Dame im besonderen in allen Stadien und Facetten beleuchtet. Die Tiersymbolik wird in einem galanten Spiel aus dem geistlichen in den weltlichen Kontext gerückt, denn der Kleriker Richard gibt nicht nur das ‚zoologische‘ Wissen weiter, sondern vor allem das Wissen um die Liebe. Auch damit bewegt er sich ganz in der literarischen Tradition seiner Zeit, denn die Idealvorstellung vom höfischen Menschen und der höfischen Liebe wurden zunächst von Klerikern entwickelt und erst dann vom weltlichen Adel aufgenommen. Neben den Tieren, realen oder phantastischen wie der Sirene und dem Einhorn, beschäftigen den Autor auch die fünf Sinne und wie sie zusammenwirken, wenn die Liebe Besitz von einem Menschen ergreift: Wie der Rabe, wenn er einen Toten findet, zuerst die Augen herauspickt, um dann an das Gehirn zu gelangen, so dringt die Liebe über die Augen in das Gehirn ein und raubt den Verstand. Das Hören, das Sehen und das Riechen haben ihn also gefangengenommen, aber nicht ganz, denn der Geschmack (beim Küssen) und der Tastsinn (beim Umarmen) wurden nicht benutzt. Zuerst wird der Liebende seiner Fähigkeiten beraubt, durch den Gesang der Sirene verführt, durch das Einhorn gefangen. Dann folgt das Flehen um Wiederbelebung durch die Liebe der Dame, so, wie Löwe und Pelikan ihre Jungen zum Leben erwecken. Der Dame aber rät er zur Vorsicht (pourveanche), damit sie nicht getäuscht und vor der Welt bloßgestellt werde. Am Ende bleibt Richard, so bewegend seine Werbung durch die Stationen von Liebe, Zurückweisung, Todesgedanken und Rachegelüsten auch sein mag, doch nur die Bitte um Gnade.

In vier Handschriften folgt auf das „Bestiaire“ die Antwort der namenlosen umworbenen Dame, die den Kleriker zuvor abgewiesen hatte („La Response de la Dame“). Über die Autorschaft dieser Erwiderung gibt es keine Klarheit – ist es Richard de Fournival selber, der auf sein eigenes Werk reagiert oder doch eine unbekannt gebliebene Autorin? Die Dame geht sehr ernsthaft das ihr offerierte Werk Schritt für Schritt, Tier für Tier, wertend (sie will nur das Gute behalten) und vor allem widerlegend durch, dabei Richard ausgesucht höflich und zugleich ironisch mit biaus sires, chiers maistres anredend. Hierzu dienen ihr unter anderem der Pfau, dessen Schwanzfedern mit Augen bedeckt sind, der Kranich und die Taube als Sinnbild der Vor- und Umsicht, um sich zu schützen und zu behüten, denn sie legt größten Wert auf ihre Ehre. Ihre größte Befürchtung ist es, ihre Unabhängigkeit zu verlieren, wenn sie den Werbenden erhört, denn der Mann will doch nur Herrschaft über sie erlangen und sie besitzen. Einseitige Anpassung und Unterwerfung lehnt sie ganz und gar ab, denn Gott schuf die Frau aus dem Mann, weil er wollte, dass sie vom Mann geliebt wird und ihm dient. Besonders warnt sie vor gutaussehenden Klerikern, den Meistern der Höflichkeit, die die Frauen mit schönen Worten umgarnen, um sie dann ins Verderben zu stürzen. Sie befolgt am Ende im Interesse der Selbsterhaltung den Rat Richards, sich vor allen in Acht zu nehmen, da man nicht wissen kann, wer gut und wer schlecht ist. Bis auf weiteres will sie der Liebe ausweichen, was aber nicht ausschließt, dass sie doch noch Gnade walten lassen könnte.

Richard de Fournival brilliert hier in der Rolle des gelehrten Liebesexperten. Er kennt die umfangreiche antike Tradition, neben dem „Physiologus“ natürlich besonders Ovids Liebeslehren der „Ars amatoria“ und der „Remedia amoris“. Dort versucht der Herr zuerst, die Liebe der Dame zu gewinnen – um sie dann wieder loszuwerden. Dieser zweite Schritt wird bei Richard de Fournival konsequenterweise und sehr selbstbewusst gleich von der Dame selbst übernommen, die gleichwohl keine grundsätzliche Absage erteilt.

Doch auch die Troubadours des 12. und 13. Jahrhunderts kannten die Tradition der Tiervergleiche – als Beweis ergänzt Ralph Dutli das Liebesbestiarium um ein „Kleines Bestiarium der Troubadours“ mit Liedern von Rigaut de Berbezilh (~1140-1190), Guiraut de Bornelh (1138-1200), Peire Vidal (1160-1206) und Thibaut de Champagne (1201-1253). Die Dichter treten wahlweise als hilfloser Elefant, Bär, Phönix oder Hirsch auf, als schwaches Lamm oder Nachtigall, immer der Gnade der Dame ausgeliefert.

Die Beliebtheit und Autorität des Textes von Richard de Fournival war seinerzeit so groß, dass ihm ein weiteres Werk, das Ralph Dutli in Auszügen vorstellt, zugeschrieben wurde: “La Panthère d’Amours“ des Klerikers Nicole de Margival aus Soissons, dessen wahrer Autor sich hinter dem Anagramm digne amour li cela verbirgt. In dieser zwischen 1290 und 1328 entstandenen allegorischen Traumdichtung wird der Dichter von Vögeln in einen von vielen Tieren bevölkerten Wald fortgetragen. Ein Tier fällt ihm auf durch das vielfarbig gemusterte Fell und die Zuneigung, die ihm die anderen Tiere entgegenbringen. Dieses Tier, die Pantherin, ist eine Allegorie der geliebten Dame, der sich der Dichter sehr schüchtern werbend nähert. Durch die Ermutigung des Liebesgottes und der Frau Venus sowie der Fürsprache weiterer allegorischer Figuren wie Grâce, Bonne Volonté, Merci und Pitié gewinnt der Liebende die Zuneigung der Pantherin – doch ein Wächter weckt ihn mit seinem Horn aus diesem sehnsüchtigen Traum. Die Pantherin Nicoles de Margival verdankt ihre Existenz natürlich dem Vorbild bei Richard de Fournival, der ihr wegen des süßen und heilsamen Duftes folgt, den sie mit ihrem Atem verbreitet. Und ohne die Pantherin des frühchristlichen „Physiologus“, die hier das Symboltier Christi ist und mit ihrem wohlriechenden Atem den Drachen (also den Teufel) vertreibt, der sich in seine unterirdische Höhle zurückzieht, ist wiederum diejenige Richards nicht zu denken.

Ralph Dutli möchte ausdrücklich keine wissenschaftliche Ausgabe des mittelalterlichen französischen Textes vorlegen – diese haben bereits Cesare Segre (1957) und Gabriel Bianciotto (2009) erstellt – sondern einer literarisch interessierten Leserschaft die Möglichkeit bieten, bisher Unbekanntes zu entdecken. Dazu folgt er nach eigenem Bekunden mit seiner Übersetzung einem Text, in dem er die Fassungen mehrerer (welcher?) Handschriften kombiniert und dabei Schreiberfehler stillschweigend korrigiert. Es werden also ohne entsprechende Belege Methoden der Textkritik angewandt; ein Verfahren, das man skeptisch sehen kann und nicht ganz zu dem Anspruch passt, eben keine wissenschaftliche Ausgabe anstreben zu wollen. Gleichwohl ist seine lebendige Übertragung des „Bestiaire“ und der „Response“ ins Deutsche – die erste überhaupt – besonders verdienstvoll, zudem sie sich auch parallel mit dem französischen Text benutzen lässt. Die Benutzung der zweisprachigen und reich kommentierten Ausgabe von Gabriel Bianciotto auf der Grundlage der Handschrift Ms. fr. 25566 der Bibliothèque Nationale in Paris sei dazu besonders empfohlen, denn ihr Textbestand entspricht dem der Übersetzung (für die sie wohl auch die Basis bildet, ohne dass der Übersetzer dies gesondert angemerkt hätte). Die klug zusammengestellte Auswahl verwandter Texte, offensichtlich angeregt durch die Beispiele in der umfassenden Einführung von Gabriel Bianciotto, präsentiert Ralph Dutli ebenfalls in eigener, äußerst lesbarer Übertragung und schafft es dabei leichthändig, die Reimstruktur der Lieder und der in Reimpaarversen verfassten „Panthère d’Amours“ beizubehalten.

Ein kenntnisreiches und gut verständliches Nachwort liefert das nötige Hintergrundwissen, um die in spätantiker und hochmittelalterlicher literarischer und gelehrter Tradition stehenden Texte noch besser verstehen und einordnen zu können. Vor allem wird die Wirkung des „Physiologus“ und des allegorischen „Roman de la Rose“ (1230/1275-1280), ohne den das Gedicht Nicoles de Margival nicht zu denken ist, herausgehoben. Die Neuartigkeit von Richards Minnebestiarium, das zugleich aber auch in einen literarischen Kontext mit langer Geschichte eingebettet ist und seinerseits auch wieder stilbildend wirkte, wird so ganz deutlich. Dem geneigten Leser liefert ein Literaturverzeichnis das nötige Material für weiterführende Beschäftigung mit dem Text selber und der Gattung der mittelalterlichen Bestiarien überhaupt. Der Band, dem noch einige Abbildungen aus verschiedenen illustrierten Handschriften des „Bestiaire“ (leider ohne genauen Nachweis) beigegeben sind, präsentiert sich insgesamt sehr ansprechend und fügt der Gattung der Minnereden oder Minneallegorien ein weiteres unterhaltsames und geistreiches Exemplar hinzu, dessen Lektüre sehr empfohlen wird.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Richard de Fournival: Le Bestiaire d’Amour et la Response du Bestiaire. Édition bilingue. Publication, traduction, présentation et notes par Gabriel Bianciotto.
EDITIONS HONORE CHAMPION, Paris 2009.
414 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9782745318329

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Titelbild

Richard de Fournival: Das Liebesbestiarium. Aus dem Französischen des 13. Jahrhunderts übertragen und mit einem Essay von Ralph Dutli.
7 Abb.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
188 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835315532

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