Gleiches Stimmrecht, Gleichstellung der Frauen, Abstimmung über wichtige Handlungen

Daniel Defoe berichtet in „Libertalia“ über eine basisdemokratische Gesellschaft der Piraten

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was wissen wir von Piraten? Nicht viel. Dass sie aussahen wie Burt Lancaster oder Johnny Depp und mit dem Degen in der Hand über die Reling sprangen, vielleicht. Dass sie der Schrecken aller Seefahrer waren und manchmal die englische Königin ihnen Kaperbriefe ausstellte und damit die Erlaubnis zu rauben verlieh. Das wäre dann der dritte Film, aus dem wir unser „Wissen“ schöpfen.

Aber dann ist da noch „Die Schatzinsel“ von Robert Louis Stevenson. Und da geht es nicht nur um Jim Hawkins und den Schatz, sondern auch um den „Schwarzen Fleck“: Mit diesem wollten die  Piraten auf der Insel ihrem Kapitän, dem schlauen und verräterischen Koch Long John Silver, klarmachen, dass er abgewählt ist. Eigentlich eine hocherstaunliche Szene, die zu einer Zeit spielte, als nur sehr wenige irgendjemanden abwählen konnten. Könige und Kaiser beherrschten die Länder, und Kapitäne beherrschten ihre Schiffe. Zum Teil mit so großer Brutalität, dass es immer wieder zu Meutereien kam. Von der englischen Marine zum Dienst gezwungen zu werden, war nichts, was man sich wünschte.

Das Erstaunliche ist, dass es diese Demokratie unter Piraten wirklich gab. Ein zum ersten Mal ins Deutsche übersetzte Buch von (wahrscheinlich) Daniel Defoe, dem Erfinder von „Robinson Crusoe“ und Autor aufklärerischer Essays, erzählt diese vergessene Geschichte anhand der Kapitäne Misson und Thomas Tews und dem Land „Libertalia“, eine Republik auf Madagaskar. Die Geschichte beginnt mit dem provenzalischen Edelmann Misson, der auf den ehemaligen Dominikanerpriester Caraccioli trifft, sie werden Seeleute und geraten mit der „Victoire“ in ein Gefecht mit zwei maurischen Schiffen. Und als drei Offiziere und der Kapitän getötet werden, übernimmt Misson das Kommando, ernennt Caraccioli zum Ersten Offizier und gewinnt den Kampf der Schiffe.

Und Misson will frei bleiben. Sie rufen die Männer zusammen, bitten sie, Unteroffiziere zu wählen und erklären ihnen ihre Einstellung: „Sie seien keine Piraten, sondern Männer, entschlossen, die Freiheit zu behaupten, die Gott und die Natur ihnen geschenkt hätten; sie würden sich keinen anderen Regeln unterwerfen als denen, die für das Wohlergehen aller nötig seien. Gehorsam gegenüber Vorgesetzten sei nötig, wenn diese die Pflichten ihres Amtes kennten und danach handelten; wenn sie beflissene Wächter der Rechte und Freiheiten der Menschen sei; wenn sie dafür sorgten, dass Gerechtigkeit walte.“

Das war revolutionär: Freie Wahlen für alle, auch für ehemalige Sklaven und sogar Frauen? Eine Gesellschaft, die auf dem freien Willen und Gleichheit beruhte? Brüderliche Liebe, „Übereinstimmung und Harmonie“? Die über 200 Männer stimmten sofort zu, und gemeinsam ging es zunächst zu den Westindischen Inseln. Nach einigen Scharmützeln war man sich uneinig über den nächsten Kurs und Kapitän Misson ließ die Männer darüber diskutieren und abstimmen, ob es nach Nordamerika oder Guinea gehen sollte. Sie befreiten Sklaven, weil der Kapitän sagte, er „habe seinen Hals nicht dem scheuernden Joch der Sklaverei entzogen und seine eigene Freiheit behauptet, um nun andere zu versklaven“. Schließlich ließen sie sich auf Libertalia nieder.

1728 erschien die Erzählung zum ersten Mal, und die Grundsätze, die Defoe durch die Piraten verkündete, waren revolutionär. Selbst in der amerikanischen oder französischen Revolution kam es nicht so weit: Sklaven blieben Sklaven, Frauen hatten kaum Rechte. Selbst heute bleibt das Buch ein Stachel in unserer Demokratie, in der wir alle paar Jahre das Recht haben, unsere Stimme abzugeben – von einer direkten Demokratie sind wir immer noch weit entfernt, zu schweigen von einer libertären Gemeinschaft.

Dass es damals wirklich so zuging unter den Piraten, belegen weitere Texte, die der Herausgeber Helge Meves im Anhang abdruckt, von Kapitän George Lowther, John Phillips und Bartholomew Roberts. Dieser schreibt: „Jeder Mann hat eine Stimme bei anliegenden Entscheidungen, den gleichen Anspruch auf frische Lebensmittel oder starke Spirituosen, unabhängig davon, wann sie erbeutet wurden, und darf sie genießen, wann es ihm gefällt, es sei denn, ein Mangel macht es im Interesse aller notwendig, eine Rationierung zu beschließen.“ Diese und weitere Quellen, auf die das ausführliche Nachwort hinweist, zeigen übereinstimmend die gleichen Grundsätze: gleiches Stimmrecht, Gleichstellung der Frauen, Abstimmung über wichtige Handlungen. Vor allem die „nähere Beschreibung der Regierung, Gewohnheiten und Lebensart der Seeräuber“ des Niederländers Jacob de Bucquoy sind aufschlussreich, da er auf Madagaskar in Gefangenschaft lebte und einen unabhängigen Bericht liefert, der all das bestätigt. Außerdem beschreibt er die vernunftorientierte Gesetzgebung und das Verbot, über Religion zu streiten. Das war wohl wichtig, weil sich nicht nur Christen, sondern auch Muslime und vielleicht auch Naturreligionen auf der Insel trafen – man musste also tolerant bleiben, wenn man zusammenleben wollte.

Mit „Libertalia“ ist ein schön gestaltetes (mit Goldprägung), informatives, interessantes und für unsere politischen Utopien auch wichtiges Buch erschienen. Und für Piratenliebhaber eine grundlegende Ergänzung – zwischen die „Schatzinsel“ und Eric F. Russels „Planet des Ungehorsams“ zu stellen.

Titelbild

Daniel Defoe: Libertalia. Die utopische Piratenrepublik.
Herausgegeben und eingeleitet von Helge Meves.
Übersetzt aus dem Englischen von David Meienreis und Arne Braun.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2014.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783957570000

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