Die Geschichte eines nihilistischen Liebenden

Die literarische Momentaufnahme „Dann wird aus Zwein: Wir beide“ von Fritz J Raddatz widmet sich der Beziehung zwischen Kurt Tucholsky und Mary Gerold

Von Stefan TuczekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Tuczek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man sich in jemanden verliebt, dann steht für einen die Welt Kopf. Man möchte nur noch bei dieser Person sein und mit ihr alles teilen – alle intimen Dinge und jedes Geheimnis. Das Umkreisen der Verliebten umeinander, das Flirten, die verliebten Blicke … Heute schreibt man sich eine E-Mail oder SMS, die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Liebe war vor dem digitalen Zeitalter doch etwas anderes. Wie war es eigentlich, bevor es Internet und Handys gab? Wie haben sich da die Leute kennen und lieben gelernt? Fritz J. Raddatz erzählt in seiner kleinen literarischen Momentaufnahme von einer solchen Liebe, in einer Zeit, als das Flirten und Kennenlernen noch anders verliefen und das Herz einer Frau noch im Sturm erobert werden musste: Raddatz erzählt von der Beziehung und Liebe von Kurt Tucholsky und Mary Gerold.

Tucholsky und die Frauen – das ist eigentlich ein Thema für sich. Er liebte einfach jede Frau, Treue war für ihn ein relativer Begriff und dass er bei den Frauen beliebt war, daraus macht er nie ein Geheimnis. Aber eine Frau in seinem Leben sollte einen besonderen Platz einnehmen: Mary Gerold. Beide lernten sich 1917 in der Kassenverwaltung des Stabes Alt-Autz kennen. Für Tucholsky war es Liebe auf den ersten Blick, für Mary eher Liebe auf den zweiten. Das Drama, welches sich in Alt-Autz zwischen den beiden abspielte, kann im Tagebuch von Mary Gerold nachgelesen werden, das uns Raddatz dankbarerweise hier wiedergibt: Tucholskys Werbung um die blutjunge Mary verlief erstmal ins Leere, sie hatte kein wirkliches Interesse an ihm. Aber durch seine Hartnäckigkeit, seine Geschenke und Einladungen lernte sie ihn zuerst als schlauen und witzigen Gastgeber kennen und später als Liebenden. Doch bevor es dazu kam, verschreckte er sie durch seine stürmischen und emphatischen Liebesbekundungen, mit denen die junge Frau nichts anfangen konnte, vor denen sie sogar Angst hatte, denn für war eine Liebesbeziehung eine Aufgabe der eigenen Person. Doch die Liebe zu Tucholsky wuchs mehr und mehr und wurde am Ende so stark, dass Gerold alle Ängste und Vorurteile aufgab, um ganz ihm zu gehören. Eine Beziehung entstand, die trotz aller Höhen und Tiefen bis zu Tucholskys Tod und darüber hinaus andauern sollte.

Neben den besagten Tagebuchauszügen von Mary Gerold versammelt Raddatz auch Briefe und Gedichte der beiden, um ein Bild von Tucholsky als Liebenden zu zeichnen. Denn Tucholsky war kein einfacher Liebender, er war ein zutiefst zerrissener Mensch. Wie Raddatz aufzeigt, war er ein nihilistischer Liebender, der die Frauen nur aus der Ferne lieben konnte. Sobald sie in seiner Nähe waren, konnte er nichts mit ihnen anfangen und wendete sich sogleich einer neuen Frau zu: Die nicht anwesende Frau, die am Tag ein Kamerad und in der Nacht eine Hure war, schwebte ihm als Idealbild vor. Obwohl Mary Gerold dieses Ideal nicht erfüllen konnte – sie war viel zu vornehm, um nachts die leidenschaftliche Verführerin zu sein –, war sie dennoch der Kamerad, dem Tucholsky alles anvertraute und sich mit ihm beriet. Selbst nach der Trennung und Scheidung von ihr blieb sie die einzige Konstante in seinem Leben, der er sogar all seinen Besitz vermachte. Die anderen Frauen in seinem Leben gingen leer aus.

Tatsächlich gab es einige Frauen in Tucholskys Leben, diese werden in Raddatz’ Buch jedoch nur beiläufig erwähnt – und dies ist die große Schwäche: Raddatz erweist sich als großer Tucholsky-Kenner, der mit vielen Anekdoten, Briefen und anderen Quellen aufwarten kann. Aus dieser Sicht ist auch das Buch geschrieben. Er setzt vieles voraus, die dort genannten Personen erklärt er jedoch nicht, der Leser muss sich diese selber erschließen. Es ist ein Expertenbuch: Der Laie muss, um es vollständig zu begreifen, vorher eine Tucholsky-Biographie gelesen haben, um die genannten Personen und Kontexte einordnen und kennen zu können, denn Raddatz widmet sich ausschließlich den beiden Liebenden, Kenntnisse um Tucholsky setzt er voraus.

An einer Stelle verzettelt sich Raddatz jedoch gewaltig: Dem Streit zwischen Karl Kraus und Tucholsky widmet er sich recht ausführlich, vorher verspricht er dem Leser aufzuzeigen, welche wichtige Rolle Mary für Tucholsky bei dem Streit gespielt hat. Raddatz rekonstruiert den ominösen Streit, bei dem man bis heute nicht wirklich weiß, warum er geführt wurde, zwar kenntnisreich und fundiert, aber die Rolle, die Mary spielte, bleibt schleierhaft. Die versprochene Erklärung bleibt leider aus.

Generell wirkt das Büchlein eher wir eine Auskopplung aus einer größeren Studie über das Liebesleben Tucholskys. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Raddatz die kleine Studie in seine große Tucholsky-Biographie „Tucholsky – Ein Pseudonym“ mit eingebunden hätte: So hätte man als Leser weitere Informationen erhalten, die zum vollständigen oder zu einem besseren Verständnis geführt hätten. Zum anderen würde das Bild des Liebenden zur These von Raddatz passen, dass Tucholsky ein Mann mit vielen Persönlichkeiten war, was das vorliegende Bändchen anhand des Liebenden auch ganz eindeutig belegt. Raddatz beweist und festigt seinen Expertenstatus mit diesem Buch, dies jedoch auf Kosten der Leser. Mit zusätzlichen biographischen Informationen würde auch der Laie diesem exzellent geschriebenen Buch besser folgen können. Denn das ist das Buch tatsächlich: klug geschrieben, mit vielen persönlichen Materialien angereichert und reich bebildert.

Titelbild

Fritz J. Raddatz: "Dann wird aus Zwein: Wir beide". Kurt Tucholsky und Mary Gerold.
Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2015.
138 Seiten, 8,99 EUR.
ISBN-13: 9783451067600

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