Erst die Schwiegermutter, dann der Schwiegersohn

Hedwig Pringsheims Tagebücher der Jahre 1905 bis 1910 berichten von einschneidenden Ereignissen im Leben ihrer Verfasserin

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Edition der Tagebücher von Hedwig Pringsheim schreitet zügig voran. Binnen zweier Jahre ist nun bereits der vierte Band erschienen. Er umfasst die Jahre 1905 bis 1910. Für diejenigen, die mit den ersten drei Bänden vertraut sind, bieten sie formal wenig Überraschendes. Wie bisher hat die Herausgeberin Cristina Herbst insgesamt sehr gute und gründliche Arbeit geleistet. Einleitung und kommentierende Fußnoten sind kenntnisreich und lassen auf ein akribisches Studium aller möglichen Archivalien schließen. Höchst selten einmal sticht ein kleiner Fehler ins Auge. So etwa, wenn Franziska zu Reventlow in einer Fußnote zu „Franziska v. Reventlow“ wird.

Auch die Tagebucheintragungen selbst ähneln in der Form und – soweit es den Alltag betrifft – auch im Inhalt weitgehend denjenigen der früheren. Sie sind knapp und stichwortartig wie eh und je. Nur während einer mehrmonatigen Argentinienreise, Hedwig Pringsheim besuchte ihren Sohn Erik, fallen sie gelegentlich weit umfangreicher aus. Auch während einer wenig später erfolgten Italien-Reise oder den Reisen nach London 1908 und 1910 nach Konstantinopel sind die Aufzeichnungen nicht gar so kurz gehalten wie üblich. Zuhause, in München, werden noch immer die nahezu alltäglichen Korrespondenzen und Lektüren notiert, ebenso die sehr häufigen Theater- und Konzertbesuche. Und noch immer kommentiert Pringsheim all das nur höchst selten und allenfalls knapp.

Den wohl regelmäßigsten Briefwechsel führt Pringsheim nach wie vor mit ihrer Mutter, der in Berlin lebenden Frauenrechtlerin Hedwig Dohm. Unterbrochen wird er nur durch die zahlreichen Besuche, die beide einander regelmäßig abstatten. Dies ist angesichts der Strecke München – Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus keine Kleinigkeit. Zurecht weist Herbst darauf hin, dass Dohm für ihre Tochter „nach wie vor der emotionale Mittelpunkt der Berliner Welt“ ist. Die Beschränkung auf die deutsche Hauptstadt in der ein großer Teil ihrer Verwandtschaft mütterlicherseits lebt, lässt die Bedeutung Dohms für Pringsheim vielleicht nicht einmal angemessen hervortreten. Hedwig Dohm, in der vom vorliegenden Band abgedeckten Zeit 74 bis 79 Jahre alt, machen langsam die einsetzenden Gebrechen des Alters zu schaffen. So häufen sich ab 1908 die mal mehr, mal weniger besorgten Tagebucheinträge zu ihrem gesundheitlichen Befinden. An einem Augustabend 1908 notiert ihre Tochter etwa: „recht schwach, sehr früh ins Bett“. Auch wenn sie ihre Mutter bei einem Besuch „recht munter“ oder „ganz zufrieden“ antrifft, findet das Eingang in das Tagebuch. Im August 1910 vermerkt Hedwig Pringsheim, dass „Mimchen“, wie sie ihre Mutter liebevoll nennt, „immer recht hinfällig“ ist.

Mag Hedwig Dohm körperlich auch hinfälliger werden, geistig ist sie noch immer ganz auf der Höhe. Nach wie vor schickt oder überreicht sie ihrer Tochter ihre zahlreichen schriftstellerischen Erzeugnisse vor der Publikation zur kritischen Lektüre – Rezensionen, Essays, Polemiken, Theaterstücke, Erzählungen und Romane. Die Empfängerin lässt sie keine zwei Tage liegen, bevor sie sich an die offenbar ausgesprochen aufmerksame, jedenfalls nicht selten mehrmalige Lektüre macht und ihrer Mutter dann zügig Änderungsvorschläge schickt. Über die Inhalte ihrer Anmerkungen schweigt sie sich im Tagebuch bedauerlicherweise auch in diesen Jahren noch immer aus, und die Briefe selbst müssen als verloren gelten.

Entdeckungen lassen sich in den Tagebüchern auch in dieser Hinsicht dennoch machen. So wird in einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1909 ein bislang unbekanntes Manuskript Dohms mit dem Titel „Dienstmädchen“ erwähnt. Im Falle eines anderen Textes, der im Tagebuch als „sehr langes Heringsdorfer Manuskript“ apostrophiert ist, vermutet Herbst, dass sich dahinter „eine der Novellen, die dann 1909 unter dem Titel Sommerlieben erschienen sind“, verbirgt. Tatsächlich dürfte sogar das Manuskript der titelstiftenden Novelle des Erzählbandes gemeint sein. Denn sie handelt in dem fiktiven Ort Salentin, der auf die damaligen Dörfer Alt und Neu Sallenthin verweist, die heute in das auf Usedom gelegene Seebad Heringsdorf eingemeindet sind.

Über Dohms Manuskripte hinaus umfassen Pringsheims tägliche Lektüren die Werke zahlloser anderer AutorInnen, unter ihnen allein im Jahr 1905 Georg Christoph Lichtenberg, Fjodor Dostojewski, Friedrich Nietzsche, wiederholt Johann Wolfgang von Goethe und Theodor Fontane, Denis Diderot und Oscar Wilde, dessen vom Autor als „triviale Komödie für ernsthafte Leute“ ausgewiesenes Werk „Ein idealer Gatte“ sie im Theater sah und als „plumpes, mit groben Mitteln arbeitendes Stück“ kritisiert, das jedoch „voll geistreicher Paradoxe u. glänzender Einfälle“ sei. Margarete Böhmes Skandalroman „Tagebuch einer Verlorenen“ ließ sie hingegen unkommentiert.

Nicht immer kann die Herausgeberin der Tagebücher die von Hedwig Pringsheim gelesenen Werke eindeutig identifizieren, da die knappen Angaben in den Tagebucheintragungen „zuviele [sic] Möglichkeiten“ offen lassen, wie sie in solchen Fällen kurz vermerkt. Für Pringsheims in ihrem typischen Stakkato-Stil verfassten Eintrag „Gelesen: ‚Der Skarabäus‘ begonnen“, kommen allerdings tatsächlich nur zwei Bücher in Betracht: Einmal der phantastische Roman um einen unheimlichen Hypnotiseur und Gestaltwandler „The Beetle“ aus dem Jahr 1897 von Richard Marsh. Richard Otto Mahlo übersetzte ihn 1900 unter dem Titel „Der Skarabäus: ein Mysterium in vier Büchern“ ins Deutsche. Wahrscheinlicher aber ist – trotz des bei Pringsheim verkürzten Titels – wohl doch der im Jahr der Tagebuchnotiz erschienene Bordell-Roman „Der heilige Skarabäus“ (1909) von Else Jerusalem. Eine Mutmaßung, die die Herausgeberin allerdings nicht anstellt. Dass sich die Tagebuchschreiberin für das Sujet interessierte, belegt jedenfalls ihre vorangegangene Lektüre des „Tagebuchs einer Verlorenen“.

In erster Linie gilt Hedwig Pringsheims literarisches Interesse in diesen Jahren aber natürlich den Erzählungen und Romanen ihres Schwiegersohnes Thomas Mann und dessen Bruder Heinrich. Pringsheims Tochter Katja und Thomas Mann haben am 11. Februar 1905 geheiratet. Hedwig Pringsheim ist mit den Urteilen über ihre Lektüren keineswegs immer schnell bei der Hand. Nachdem Thomas Mann ihr das erste Kapitel des „Felix Krull“ vorgelesen hat, notiert sie am 7. Juli 1910, dass es sich ihrer „Beurteilung zunächst noch entzieht“. Nicht immer fallen die Urteile über die literarischen Erzeugnisse der neuen Verwandtschaft wohlwollend aus, so sie denn überhaupt einmal Eingang in das Tagebuch finden. Heinrich Manns satirischer Berlin-Roman „Aus dem Schlaraffenland“ etwa hat ihr „sehr mißfallen“. Der Autor selbst macht auf sie einen „stillen, ganz feinen Eindruck“.

Groß ist die innerfamiliäre Aufregung um die Erzählung „Wälsungenblut“ ihres Schwiegersohns, da die Pringsheims in dem inzestuösen Zwillingspaar Hedwig Pringsheims Zwillinge Katja und Klaus porträtiert sehen. Nach dem Skandal um Hedwig Dohms Roman „Sibilla Dalmar“ keine zehn Jahre zuvor, droht nun – noch im Jahr der Hochzeit – also ein weiterer. So liest Hedwig Pringsheim das Manuskript „mit sehr geteilten Gefülen“. Eindeutiger fällt das Urteil Hedwig Dohms aus, die einem Tagebucheintrag zufolge mit der Erzählung „sehr unzufrieden“ ist. Es ist aber offenbar vor allem Alfred Pringsheim, der sich über „Wälsungenblut“ empört. „Erst die Schwiegermutter, jetzt der Schwiegersohn, das war [Alfred Pringsheim] zuviel“, zitiert Cristina Herbst Klaus Pringsheim und vermutet, Mann habe sich seinerseits wiederum insbesondere über den von seinem Schwiegervater angestellten Vergleich seiner Erzählung mit „Sibilla Dalmar“ geärgert, mit dem dieser, wie Herbst weiter annimmt, „seine Forderung auf Nichtveröffentlichung begründete“. Schließlich sei es „Katja gelungen, ihren Mann zum Einlenken zu bewegen“. So wird die Novelle erst anderthalb Jahrzehnte nach ihrer Entstehung veröffentlicht.

Neben diversen Lektüren gehören nach wie vor Theater- und Opernbesuche zu Hedwig Pringsheims regelmäßigen kulturellen Genüssen. Allerdings widmet sich die Tagebuchschreiberin nicht nur der Lektüre und dem Besuch hochkultureller Aufführungen, sondern verbringt auch schon mal einen Abend beim Skat-Spiel mit, wie es im Tagebuch heißt, „Alfred Ganghofer“ und Ludwig Thoma. Sollte mit ersterem Ludwig Albert Ganghofer gemeint sein? Vermutlich. Zwar findet sich keine entsprechende Fußnote, aber im Personenverzeichnis wird zwar Ludwig Albert Ganghofer angeführt (auch unter dem Datum des Tagebucheintrags), jedoch kein Alfred Ganghofer.

Eher gelegentlich besucht Hedwig Pringsheim Vortragsveranstaltungen. Ein Referat der von ihrer Mutter als Antifeministin gescholtenen Schwedin Ellen Key über „Kunst u. Ethik“ kritisiert sie als „oberflächliches Gewäsch“, das von der Rednerin allerdings „nicht unsympathisch vorgetragen“ worden sei. Einen Vortrag der Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Adele Schreiber zur damaligen Sexualreform lobt sie Anfang 1909 hingegen als „in Form u. Inhalt über Erwarten gut“. Fünf Jahre später wird Schreiber Hedwig Dohm in einem kleinen Büchlein als „Vorkämpferin und Vordenkerin neuer Frauenideale“ rühmen.

Zwei bedeutende Ereignisse im Leben der Tagebuchschreiberin fallen in die vom vierten Band erfasste Zeit. Zunächst einmal die bereits erwähnte Heirat am 11. Februar 1905 – und die künftige Ehe – ihrer Tochter Katja mit Thomas Mann gleich zu Beginn. Obwohl ihre Tochter „im Brautkleid u. Myrtenkranz süß-poetisch aus[sieht]“, ist es für Hedwig Pringsheim ein „schrecklicher Tag“. An die immerhin schon ganz erwachsene Braut denkt sie als „mein armes, liebes kleines Kind“; von sich und ihrem Mann schreibt sie als „uns traurigen alten Leuten“. Die Herausgeberin merkt verwundert an, dass „Katja’s [sic] Schwangerschaften im Tagebuch nicht erwähnt [werden], auch nicht an dem Tag, als Hedwig davon erfährt“. Dass sie keine große Rolle in dem Tagebuch spielen, ist tatsächlich schon erstaunlich genug. So ganz trifft aber nicht zu, dass „die Schwangerschaften im Tagebuch völlig ignoriert“ werden. So notiert die Tagebuchschreiberin am 8. November 1905, dass Katja Manns „Wehen sehr langsam u. gut vorwärtsgehen“, und am nächsten Tag über die Geburt des ersten Kindes: „Die Nacht auf dem Sofa bei Katja verbracht, von 7 früh bis ¾ 5 ununterbrochen ihren Kopf gehalten, der grausamen Marter einer sehr schweren Entbindung beiwonend. … Katja vor Schmerz fast irrsinnig“.

Weit gravierender aber noch als die Hochzeit, Ehe und Schwangerschaften ihrer Tochter Katja war für Hedwig Pringsheim der Tod ihres Sohnes Erik, ein wahres Sorgenkind. So widmet sich die Herausgeberin in ihrer Einleitung denn auch ausführlich dem zentralen Thema der Tagebucheintragungen dieser Jahre: der „Katastrophe um Erik, dem ältesten Pringsheim-Sohn“, wie Herbst im ersten Satz ihrer Einleitung zum vierten Tagebuch-Band formuliert. Die Herausgeberin findet deutliche Worte für den, man muss es so sagen, missratenen Sohn: „Er war ein pathologischer Spieler, der mit Lügen und Betrug diese Sucht vor sich und anderen verschleierte.“ Tatsächlich springt die Verzweiflung seiner Mutter in die Augen. Sie schreibt von „schrecklich aufregende[n] Scene[n]“ mit ihrem Sohn, der „unerhörte Geldschweinereien“ begehe und „Lügengewebe“ stricke. Ein andermal trifft sie ihn „in seinem Zimmer Papiere verbrennend u. den Revolver neben sich“ an. Sie lässt sich von ihm versprechen, „nicht zur Waffe zu greifen“.

Im Sommer 1905 sucht sie den Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in München Professor Emil Kraeplin auf, „der nach meiner Darstellung in Erik die leider häufig vorkommende Form ‚psychopathischer Minderwertigkeit‘ erkannte, die er mir als unheilbar hinstellte“. Bei einer Konsultation findet der Arzt „den Eindruck Eriks als ‚pathologischer Persönlichkeit‘ durchaus bestätigt“. Der Patient droht seinen Eltern, in die Fremdenlegion einzutreten oder Suizid zu begehen. Ihm wiederum drohen von Seiten der Justiz mehrjährige Haftstrafen wegen Wechselbetrugs und Unterschriftenfälschung. So entscheiden sich die Eltern noch im selben Jahr, ihn nach Argentinien zu schicken, wo er sich allerdings auch nicht bessert, so dass ihm seine besorgte Mutter zwei Jahre später für einige Monate folgt. Sie findet ihn sehr verändert vor, jedoch nicht eben zum Besseren. Sein ehemals gewinnendes Jungenlächeln hat sich etwa zu einem „verschlagenen Grinsen“ verzerrt. Liiert ist er nun mit „Mary Barska, geb. Erlich, gesch. Con“, wie Herbst nicht vergisst festzuhalten. 1908 werden sie heiraten. Da ist seine Mutter allerdings bereits wieder nach München zurückgekehrt. Zu Beginn des darauffolgenden Jahres erfährt Pringsheim, dass ihr Sohn „sanft entschlafen“ sei – so heißt es im Telegramm mit der Todesnachricht. Seine Frau behauptet, er habe sich mit Strychnin getötet. Im März 1909 erreicht sie München und wird von ihrer Schwiegermutter an der Bahn abgeholt. Schon tags darauf notiert Hedwig Pringsheim, dass ihre Schwiegertochter „vieles aus ihrem früheren Leben, dann wieder von Erik erzält. Widersprüche, fatale Widersprüche! ich, auch Alfred, immer misstrauischer.“ Das Misstrauen verdichtet sich zum Verdacht, die Schwiegertochter habe sich des Gattenmordes schuldig gemacht. „Sie ist Eriks Mörderin“, schreit sie am 25. Mai 1909 geradezu in ihr Tagebuch. Dieser Verdacht wird sie ihr Leben lang nicht verlassen. Bewiesen wurde allerdings nie etwas.

Titelbild

Hedwig Pringsheim: Tagebücher. 1905-1910.
Herausgegeben von Cristina Herbst.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
856 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783835316263

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