Bestellung eines weiten Feldes

Katharina Grätz‘ „Alles kommt auf die Beleuchtung“ über Theodor Fontanes Leben und Werk ist gelungen, spart jedoch die aktuelle Forschung größtenteils aus

Von Sebastian SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fünfzehn Jahre ist es her, dass Christian Grawe und Helmuth Nürnberger das erste Fontane-Handbuch herausgegeben haben. Ein fruchtbares Jahrzehnt ging seitdem ins Land und die (germanistische) Literaturwissenschaft hat sich neue Werkzeuge zur Interpretation schmieden können. Vornehmlich, indem sie über den rechtsrheinisch-hermeneutischen Tellerrand gespäht und Ideen aus Frankreich und dem angloamerikanischen Raum adaptiert hat. Doch Theodor Fontane ist bis heute noch immer der kanonische deutsche Dichter der „armen Effi“ geblieben; der geniale Realist mit seinen sozialen Milieustudien, die sich konsequent der naturalistischen Moderne durch eine gehörige Portion Idealismus widersetzen. Derart markiert trifft man bei der Forschung zu Fontanes Werk häufig auf ein Generationenproblem, wenn durch autorintentionale oder sozialhistorische Fragestellungen die ästhetische Textanalyse in eine Schieflage gerät. Ein Buch zu Leben und Werk eines Schriftstellers unterliegt der schwierigen Aufgabe, biographische und poetische Informationen in einem knappen Überblick zu bündeln: Zwei Arten von Information, deren Zusammenspiel in der Germanistik alter Schule gerne überbewertet wurde. (Man nehme nur das Beispiel von Jenny Treibels Erhebung zum Alter Ego von Fontanes Schwester und die Textlektüre als Spiegel der Bourgeoisie-Abscheu des Autors.)

In hermetisch strukturierten Kapiteln gibt Grätz holzschnittartig die Entwicklung Fontanes wieder: Der gelernte Apotheker, der als Kriegsberichterstatter, Journalist, Theaterkritiker und Reiseschriftsteller Geld verdiente, um im reifen Alter ausschließlich als Literat leben zu können. Dabei werden – ein wenig zu teleologisch – die Jahrzehnte vor seinem Erstling Vor dem Sturm als Prozess zur Findung seines genuinen Literatentums geschildert, als Prüfsteine auf dem Weg zur Herausbildung seiner spezifischen Poetik. Dem schließt sich der umfassendere Teil des Buches an, in dem nach einem allgemeinen Überblick des Werks einzelne Romane und zum Abschluss die Lyrik Fontanes thematisiert werden.

Die einzelnen Kapitel geben – dem „Leben und Werk“-Genre entsprechend – unerfahrenen Fontanelesern wie Hilfesuchenden nach einer ersten Lektüre einen brauchbaren Interpretationsimpuls sowie einen knappen Grundriss der bisherigen Forschung. Leider bleibt dieser Überblick zuweilen in einer fraglichen Schwebe, beispielswies wenn verallgemeinert von „die Forschung“, „die jüngere Germanistik“ oder „man“ die Rede ist. Sowieso dominieren in den wenigen direkten Zitaten auf die Forschung die Namen der älteren Germanistengeneration (Heide Eilert, Fritz Martini, Peter Demetz, Lieselotte Voss etc.), während neuere semiotisch, (post-)feministisch oder postkolonial ausgerichtete Studien hingegen nur begrenzt bis gar keine Erwähnung finden. Fontane als Sozialkritiker und als deutscher Kontrahent zu Gustave Flaubert und Lew Nikolajewitsch Tolstoi steht weit mehr im Mittelpunkt als die jüngsten Lektüremöglichkeiten der überzeitlich aktuellen Texte.

Von einer solchen klassifizierenden Literaturwissenschaft, die Widersprüche und Dissonanzen zu harmonisieren trachtet, zeugt auch die fundamentale Tendenz zur Gattungstypologie, nach der die Kapitel strukturiert worden sind. Gehört Effi Briest zu den „Zeit- und Gesellschaftsromanen“ oder ist er einfach „der deutschsprachige Eheroman“ schlechthin? Was sucht die „unerhörte Begebenheit“ im „Historischen Roman“ Schach in Wuthenow? Viel Energie und textueller Raum wird auf Fragen nach der „Gattungszuordnung“ verwendet: nach „Standesroman“, „Kriminalerzählung“, „Mordgeschichte“, „Gesellschaftsroman“, „Thesenroman“, „Liebesroman“, „Standesroman“, „Berlinroman“ oder „Zeitroman“. Der Umgang mit solchen formalisierenden Genres zwängt nicht nur die heterogenen, individuellen Texte in ein zu enges Korsett, sondern vereinfacht die Lektüre eines Romans als Reflex auf eine soziologische Ausrichtung. Auch wenn sich Grätz‘ Interpretationen teilweise sehr eng an einer autorintentionalen Perspektive orientieren (beispielsweise durch das Hinzuziehen von Briefen und Tagebucheinträgen oder journalistischen Artikeln als Zeugen), umgehen sie oftmals die Gefahr einer gattungsspezifischen Sackgasse. So summieren sie einen weitestgehend abgeschlossenen Forschungskorpus zu Fontanes Gesamtwerk und geben fachlichen Lesern einen ersten Angriffspunkt zur individuellen Lektüreerfahrung, während sie für Gelegenheitsleser und Interessierte vielleicht einen etwas zu apodiktischen Anspruch an das hermeneutische Verständnis von Kunst setzen.

Ein schier unendliches Feld wie das „Leben und Werk“ Fontanes auf 260 Seiten mit einer guten Bibliographie und zu einem erfreulichen Preis zu bestellen, ist eine halsbrecherische Aufgabe, die Grätz elegant gemeistert hat. Dennoch ist der Mehrwert für ein Fachpublikum nur begrenzt und wird selten über das auffrischende Nachblättern poetologischer Grundüberlegungen einzelner Romane hinausreichen. Für Schüler, Erstsemester, Enthusiasten und Gelegenheitsleser, die sich nicht dem Kampf einer mehr als fünfzigjährigen, zum Teil schwulstigen, zum Teil hanebüchenen Forschung stellen möchten oder können, sei dieses Handbuch en miniatur jedoch zur Anschaffung empfohlen.

Titelbild

Katharina Grätz: Alles kommt auf die Beleuchtung an. Theodor Fontane – Leben und Werk.
Reclam Verlag, Stuttgart 2015.
264 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783150203873

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