Dante Superstar
Zur Aktualität eines mittelalterlichen Dichters anlässlich seines 750. Geburtstags
Von Stefana Sabin
Aus dem All, von der europäischen Weltraumstation, meldete sich Ende April die italienische Astronautin Samantha Cristoforetti, gewissermaßen eine Nationalheldin, mit einem Gruß zum 750. Geburtstag des italienischen Nationaldichters Dante Alighieri. Sie blätterte in einer Ausgabe der Göttlichen Komödie und las schließlich den ersten Gesang aus dem Paradies vor, während durch die Luken der Raumstation hinter ihr die Erde zu erkennen war: „Die Herrlichkeit dessen, der alles bewegt, durchdringt das Weltall und erstrahlt in einem Teil mehr, anderswo weniger.“
Nur wenige Tage später übernahm der Papst. Dante hätte uns immer noch viel zu sagen über den Weg zur Selbsterkenntnis und zur Erkenntnis der Welt, erklärte Papa Francesco in einer offiziellen Stellungnahme des Vatikans. Dante sei, so schrieb er, „ein Prophet der Hoffnung, der Erneuerung, der inneren Befreiung.“
Mit einem Gruß an den Papst begann denn auch der Volksschauspieler Roberto Benigni seine Dante-Rezitation im voll besetzten Saal des Senats im Palazzo Madama in Rom. Benigni, der mit seinen Dante-Vorträgen ganze Fußballstadien füllt, erinnerte in seiner satirischen Vorbemerkung an Dantes Bedeutung als Politiker und rezitierte den letzten Gesang aus dem Paradies. Am Ende gab es begeisterten Applaus – für Benigni und für Dante.
Auch in Florenz, seiner Geburtsstadt, aus der er aus politischen Gründen verbannt wurde, ist Dante allgegenwärtig. Auf Werbeflächen und auf Bussen sind Dante-Porträts oder Verse aus der Komödie zu sehen; Tausende, Persönlichkeiten aus Politik und Kultur und Dante-Begeisterte aller Altersgruppen, beteiligten sich an der Großveranstaltung „All’improvviso Dante“, einer öffentlichen Lesung der Komödie. Die Dante-Shirts verkaufen sich schneller, als sie genäht werden können; die Zwei-Euro-Münzen mit dem Dante-Porträt werden gesammelt; und die Videos von Benignis Dante-Lesung im Senat und von Cristoforettis Gruß aus dem All wurden viele Millionen mal angeklickt.
Das landesweite, ja regelrecht universale Fest macht auch deutlich, dass Dante längst nicht mehr ein Dichter der Dantisten ist, jener Gelehrten, die ihr Berufsleben mit der Dekodierung des komplexen philosophischen und literarischen Gewebes verbringen, sondern ein Volksdichter, dessen Beliebtheit alle gymnasialen Strapazen überstanden hat.
Das hat mehrere Gründe. Dante ist ein eminent antiautoritärer Dichter, der die Verlogenheit und die Korruptheit kirchlicher und staatlicher Würdenträger anprangerte und sie mit souveräner poetischer Eigenmächtigkeit in die Hölle beförderte oder bestenfalls auf dem Läuterungsberg büßen ließ. Denn Dante orientierte sich weder an der katholischen Lehre noch an der politischen Opportunität, sondern richtete nach moralischen Maßstäben. Wie die Verteilung der historischen, literarischen oder mythologischen Gestalten auf die verschiedenen Himmelkreise in der Komödie zeigt, war er ein eigenständiger Denker, für den Gerechtigkeit das hohe Ziel war. Auch darin liegt eine immerwährende Aktualität der Komödie.
Aktuell ist auch Dantes Vorstellung der Trennung von Kirche und Staat – eine geradezu revolutionäre Vorstellung für das anbrechende vierzehnte Jahrhundert! Aktuell ist weiterhin seine Verzweiflung an der Schlechtigkeit der Welt – aber auch seine Hoffnung auf eine bessere, jedenfalls weniger schlechte Welt. Mag diese Hoffnung christlich verankert sein – in der poetischer Brechung transzendiert sie jeden Glauben und erhält eine zeitlose Dimension. Gerade in dieser Mischung aus realer Verzweiflung und idealer Hoffnung liegt eine emotionale Aktualität, die Dante noch heute zu unserem Zeitgenossen macht.
Nicht zuletzt sein Dasein als politischer Exilant, als Verbannter ohne festen Wohnsitz, verleiht Dantes Lebenslauf eine aktuelle Note – er scheint Adornos Sentenz „Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen“ auf dramatische Weise gelebt zu haben. Denn die Komödie ist auch ein Werk des Exils, genährt von der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, durchdrungen von einem exilischen Bewusstsein.
Aber die Komödie ist zugleich ein Gewebe von fantasievollen Geschichten: gruseligen, komischen, romantischen, sentimentalen, tragischen, ritterlichen Geschichten. Sie werden so suggestiv erzählt, dass sie – wie die biblischen Geschichten oder wie Märchen – ins kollektive Kulturgedächtnis eingegangen sind. Diese Vielfalt ist einzigartig: Mit der Komödie beginnt die italienische Literatur – oder gar überhaupt die Literatur, so Erich Auerbach. Dass die dantesken Geschichten derart nachwirken, hat mit einer ungeheuerlichen stilistischen Innovationskraft zu tun und vor allem einer Sprachmacht, die das Italienische geformt und geprägt hat. Tatsächlich gilt Dante als padre della lingua, als Vater der italienischen Sprache. Auch deshalb ist seine dichterische Stellung mit derjenigen anderer Literaturgrößen kaum vergleichbar.
Und auch deshalb ist er im italienischen Volksbewusstsein immer präsent. Die effektvollen Inszenierungen, mit denen Italien seines „Sommo poeta“ gedenkt, greifen diese allgemeine Verehrung auf und nutzen sie, um die Prellungen der italienischen Seele ein bisschen zu lindern. Denn jenseits der notorischen Politikverdrossenheit, jenseits der Wirtschaftskrise und der Flüchtlingskatastrophe findet Italien in der Verehrung seines großen Dichters zu einem neuen nationalen Selbstbewusstsein, zu einem kulturellen Stolz und zu einer neuen Hoffnung.
Anmerkung der Redaktion: Unsere Mitarbeiterin Stefana Sabin hat aus Anlass von Dantes 750. Geburtstag bei Reclam das Bändchen „Dante auf 100 Seiten“ veröffentlicht: eine Darstellung seines Lebens, seiner Zeit, seines Werk und seiner ungeheuren Wirkung noch im 21. Jahrhundert.