„Ein pornographischer Roman kann Kunst sein“
Zur jüngeren Geschichte des Verhältnisses von Literatur und Recht
Von Bernhard Gajek
Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes bestimmt: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ Doch schon der nächste Absatz räumt einen Konflikt mit anderen Grundwerten ein: „Diese Recht finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Das Grundgesetz nennt auch Normen, die ihm zugrunde liegen: „Verantwortung vor Gott und den Menschen“, die „Würde des Menschen“ und die „Menschenrechte“.
Die in Art. 5 aufgeführten Grundrechte können sich also gegenseitig beschränken oder miteinander kollidieren. Dennoch wird – in Abs. 3 – die Freiheit von „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre“ hervorgehoben Wer die „Freiheit der Meinungs-äußerung […] zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt“ sie, – so Art. 18 des Grundgesetzes
Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes garantiert „das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit“. Um Kindern und Jugendlichen eine solch Entfaltung zu ermöglichen, erließ der Bundestag „gesetzliche Bestimmungen zum Schutze der Jugend“, die vor Medien, welche die sozialethische Reifung Jugendlicher beeinträchtigen können, schützen sollen. Das „Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften“ von 1953 wurde mehrfach, zuletzt 1997 neu gefasst; es schließt an das „Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften“ vom Dezember 1926 an und betrifft den Vertrieb und das Darbieten von Druckerzeugnissen und Medien (außer Kinofilmen, für die die Freiwillige Selbstkontrolle zuständig ist), „die geeignet sind, Kinder oder Jugendliche sittlich zu gefährden“, und zielt vor allem auf „unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizende sowie den Krieg verherrlichende Schriften.“ Hinzu kommen Vorschriften des Strafgesetzbuches. In § 131 wird jede Schrift, „die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen in einer Art schildert, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt“, generell mit Strafe bedroht. § 184 verbietet die „Verbreitung pornographischer Schriften“ an Personen unter achtzehn. Was „der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder Lehre dient“, ist nach § 18 des Jugendschutzgesetzes von der Indizierung ausgenommen. Auch die allgemeine Strafverfolgung muss um im Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3) genannter Grundwerte willen eine Ausnahme machen.
Die Frage ist, wann diese Ausnahmen gelten. Für eine erste Feststellung innerhalb des Jugendschutzes wurde – auf Grund des Gesetzes von 1953 – die „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften“ gegründet; sie kann „indizieren“, d. h. die Abgabe einer Schrift oder eines Mediums an Jugendliche – nicht aber an Erwachsene – sowie die offene Darbietung und Werbung verbieten. Die in Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes genannten Grundrechte werden also zum Schutz der heranwachsenden Jugend beschränkt. Damit ist eine Nachzensur erlaubt, gegen die Einsprüche bis zum Bundesgerichtshof und Bundesverwaltungsgericht sowie die Verfassungsbeschwerde möglich sind. So ist die Rechtsstaatlichkeit gesichert.
Aber ein anderes, schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik diskutiertes Problem besteht noch. Kann eine Behörde (wie die Bundesprüfstelle) oder ein Gericht bestimmen, ob ein Roman oder ein anderes Werk Kunst darstellt oder nicht? Eine Entscheidung ist in jedem Falle nötig, und sie ist zeitbedingt. Denn die Kriterien für Kunst und Pornographie haben sich seit 1949 erheblich gewandelt. 1950 wurde der Film „Die Sünderin“als unsittlich bekämpft, weil die Hauptdarstellerin für einige Sekunden nackt zu sehen war. 1959 wurde Günter Grass von der zuständigen Jury der Bremer Literaturpreis für den Roman „Die Blechtrommel“ zuerkannt. Doch der Senat der Hansestadt verweigerte die Zustimmung: der Roman enthalte pornographische Stellen. Mancher, der damals gegen das Verbot oder die Behinderung auftrat, hätte sich wohl für einen Eingriff der Justiz ausgesprochen, wenn ihm – 1950 bis 1959 – zugemutet worden wäre, was heutzutage über Fernsehen oder Internet ins Haus kommt. Die Maßstäbe für Sittlichkeit und deren Gefährdung haben sich erstaunlich verändert. Drei ausführlichere Beispiele aus der Rechtsgeschichte mögen das näher erläutern. Sie bilden Stationen auf dem Weg zu der Einsicht, dass Gerichte überfordert sind, wenn sie darüber urteilen sollen, was Kunst sei.
Als erstes sei der 1962 geführte Prozess um den Roman Notre-Dame-des-fleurs genannt, den Jean Genet 1942 im Gefängnis geschrieben hatte. Thema, Motive und Sprache sind schockierend. Der Erzähler schildert detailliert und roh den Aufstieg und Fall eines Pariser Strichjungen, den er „Divine“ nennt, und feiert ihn, den Raubmörder und Drogenhändler, als Märtyrer, ja „Auserwählten Gottes“. Divine wird vor Gericht gestellt; der Autor macht aus dem Verfahren eine Apotheose. Die Dignität des Verbrechers und Sünders steigert sich mit seinem Verfall. Hier ist die Unterscheidungsgabe des Lesers aufs äußerste gefordert. Knut Sievers hat nachgewiesen: Sakrales soll sich im Sakrileg, Religiöses in seiner Travestie und Eigentliches in seiner Verkleidung zeigen. Genet, der immer am Rande der Gesellschaft lebte und ständig mit ihren Normen zusammenstieß, erlebte diese als dämonische Bedrohung und bekämpfte sie, ohne ihre Geltung zu bestreiten.
Das zweite Beispiel: In John Clelands 1749 zum ersten Mal erschienener Geschichte der Fanny Hill erregte der laszive Inhalt Anstoß. Der Verfasser, ein Diplomat und Lebemann, nahm es sich heraus, die Sittenlosigkeit im England des 18. Jahrhunderts genüsslich, einfallsreich, ja elegant zu schildern und die Gleichsetzung von wahlloser physischer mit psychischer Liebe als neues Glück anzupreisen. Aber hatte Clelands Heldin nicht einfach das in Briefe gefasst, was William Hogarth in seiner Gemälde- und Kupferstichfolge A Harlot’s Progress abgebildet hatte? Und war die ganze Geschichte nicht auf den frivol geführten Nachweis angelegt, dass geistige Freuden höher als körperliche einzustufen seien und die Liebe zu dem einen Mann die Krönung eines Frauenlebens sei? Auch hier waren die Richter auf Gutachten angewiesen, denen sie freilich nur zögernd folgten. Was den Antragstellern und Staatsanwälten 1964 bis 1969 als pornographisch galt, verteidigten die Literaturwissenschaftler als Zeit- und Milieuschilderung, als Experiment und Kunst.
Der Streit um Guillaume Apollinaires Die elftausend Ruten bildet das dritte Beispiel. Das Amtsgericht München erklärte das Buch 1974 für Pornographie und zog es ein. Der eine Gutachter hatte sich in diesem Sinne ausgesprochen; der andere hatte gewisse künstlerische Qualitäten geltend gemacht. Das Original war 1907 erschienen und in Frankreich bis 1977 sechzehn Mal aufgelegt worden. Die deutschen Ankläger sprachen von Nekrophilie, Skatomanie und Gewaltpornographie, d. h. von Versessenheit auf Leichen, krankhafter Freude am Umgang mit Exkrementen und Darstellung geschlechtlicher Grausamkeit. Französische und deutsche Experten legten das Buch als Nachfolge des Marquis de Sade sowie als Vordeutung auf die Explosion von Gewalt im Ersten Weltkrieg aus und verwiesen auf den Zusammenhang mit Apollinaires poetischem und theoretischem Gesamtwerk, das den Surrealismus mitbegründet habe und zur Klassischen Moderne gehöre. 1987 brachte der Verlag eine durch literaturhistorische Abhandlungen umrahmte neue Übersetzung heraus, die ebenfalls beschlagnahmt werden sollte. Ferner beantragte der Staatsanwalt, gegen den Verleger wegen Verbreitung von Pornographie zu ermitteln. Auf die beiden Gutachten hin, die Wolfgang Frühwald und ich zugunsten des Buchs erstellten, wurde 1988 die Beschlagnahme abgelehnt und die Ermittlung eingestellt.
Der Kunstbegriff von 1949 und das Verständnis von „Unzucht“, „Pornographie“ und „Gewaltverherrlichung“ entsprachen Ende der achtziger Jahre offensichtlich weder der wirklich geübten noch der weithin anerkannten Kunstpraxis. Dass in der Bildenden Kunst die Anschauungen noch gründlicher sich verändert hatten, fiel weniger ins Gewicht; denn Bilder wurden kaum wegen einer Abweichung von Moral oder Anstand vor Gericht gebracht. Tatsächlich wichen Malerei und Bildhauerkunst ungleich mehr von den geschmacklichen Konventionen der Schicht ab, die an der Rechtsprechung beteiligt oder interessiert war. Der Kunsthandel tat das seine dazu, soviel wie möglich als Kunst zu bezeichnen. Kritiker, Käufer und Rezipienten reagierten entsprechend.
Die Gerichte trugen dem Rechnung; sie sprachen von einem erweiterten Kunstbegriff und einer größeren Akzeptanz bei erotischen Darstellungen. Die Strafrechtsreform von 1973 ersetzte die unscharf gewordenen Begriffe „Unzucht“ oder „unzüchtig“, „um den damit verbundenen Wertgehalt zu vermeiden“, durch Fremdwörter: „Die ‚unzüchtige‘ Handlung‘ wurde zur ‚sexuellen, die ‚unzüchtigen Schriften‘ zu ‚pornographischen‘“ (Friedrich-Christian Schroeder). Was aber war „Pornographie“?
Dass das Strafrecht vor und nach der Jahrhundertwende um 1900 „unzüchtig“ statt „pornograpisch“ gebrauchte, hatte einen sprachgeschichtlichen Grund. „Pornographie“ für „aufreizende, schamlose Darstellung sexueller Vorgänge in Wort und Bild“ wurde erst um 1900 dem gleichbedeutenden französischen „pornographie“ entlehnt. Dieses wiederum wurde von „pornograph“ abgeleitet, das Restif de La Bretonne 1769 im Sinne von „einer, der über Huren schreibt“, als Buchtitel verwendete; das Grundwort ist das gleichbedeutende griechische „pornographos“, „einer, der über Huren schreibt“. Ebenfalls aus dem Französischen wurde „sexuell“ für „geschlechtsbezogen“ übernommen – allerdings schon im 18. Jahrhundert. Der Vollständigkeit halber sei ein Wort erklärt, das nicht im Gesetz, wohl aber in der Diskussion häufig gebraucht wird, nämlich „obszön“, „das Schamgefühl verletzend, schlüpfrig, zotig“. Es wurde Anfang des 18. Jahrhunderts aus dem Lateinischen übernommen; dort steht „obscenus“ für „anstößig, unanständig, abscheulich, unsittlich“.
Sich dieser Begriffe zu vergewissern, ist deshalb nötig, weil es eine gesetzliche Bestimmung von „Pornographie“ nicht gibt. Jene Begriffe liegen der Rechtsprechung zugrunde, und sie muss sie jedes Mal bestimmen.
Nach dem Vorschlag des Strafrecht-Sonderausschusses des Deutschen Bundestages sind Darstellungen pornographisch, die
1. zum Ausdruck bringen, dass sie ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes beim Betrachter abzielen und dabei
2. die im Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstandes eindeutig überschreiten.
Die Rechtsprechung schloss sich dem an: Pornographisch ist eine Darstellung,
wenn sie unter Hintansetzen sonstiger menschlicher Bezüge sexuelle Vorgänge in grob aufdringlicher, anreißerischer Weise in den Vordergrund rückt und wenn ihre objektive Gesamttendenz ausschließlich oder überwiegend auf Aufreizung des Sexualtriebes abzielt und wenn dabei die im Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstandes eindeutig überschritten werden.
Erfüllt ein literarisches Werk die oben genannten Kriterien, so handelt es sich im juristischen Sinn um Pornographie. Sie wird, wie gesagt, im Gesetz nicht definiert – ebenso wenig wie der Begriff Kunst. Das ist deshalb sinnvoll, weil der Inhalt, die Funktion und die Verwirklichung beider Begriffe sich ändern.
Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings seit 1971 einen Rahmen gezogen, der beachtet werden muss, wenn über „Pornographie oder Kunst“ zu urteilen ist.
Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung (ist) die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zur unmittelbaren Anschauung gebracht werden.
In der Folge wurde dieser „offene“ Kunstbegriff erweitert: Es genüge, wenn „die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt“ seien. Entscheidend sei die formgebende Äußerung, nicht die Übermittlung von Inhalten. Wer Kunst für etwas so Abgeschlossenes ansehe, dass sie und Pornographie z.B. sich ausschlössen, entziehe der Überschneidung und Abwägung mit anderen Grundwerten die theoretische Grundlage. Das so gefasste weite Kunstverständnis erfordere eine weite Fassung der Grundrechte.
Das sind keine Definitionen, sondern formale Umschreibungen. Sie treffen auf nahezu alle Werke der Belletristik zu und schreiben keine expliziten Maßstäbe für eine Wertung vor. Die Umschreibungen von Kunst berücksichtigen die Entwicklung der Rechtsprechung ebenso wie bei der Pornographie. Seither muss der Kunstwert in jedem Falle bestimmt werden, und dies läuft in der Regel auf die Anforderung von Gutachten hinaus.
Im Hinblick auf die rechtliche Beurteilung von Pornographie brachten höchstrichterliche Entscheidungen eine Wende. Der Bundesgerichtshof entschied am 21. Juni 1990 anlässlich von Henry Millers Opus Pistorum: „Kunst und Pornographie schließen einander begrifflich nicht aus“, obwohl „nach Form und Inhalt des Buches vieles“ dafür spreche, dass es als „pornographische Schrift“ zu bewerten sei. Damit folgte der Bundesgerichtshof Peter Gorsens und meiner Stellungnahme vor dem Landgericht Stuttgart und betonte, „in Grenzbereichen“ könne es
zu Überschneidungen kommen, denen eine starre begriffliche Scheidung nicht gerecht wird. Überdies versperrt man sich im Falle eines Konfliktes zwischen Kunstfreiheit und anderen verfassungsmäßig anerkannten Werten eine Abwägung, die […] notwendig und auch sachgerecht ist, weil nur sie differenzierende Lösungen ermöglicht.
Bei der Entscheidung, ob die Kunstfreiheit oder der Jugendschutz Vorrang habe, gehe es „um eine Kollision gleichrangiger Verfassungswerte, die nur mit Hilfe einer Abwägung aufgelöst werden kann.“
Und das Bundesverfassungsgericht stellte seiner Entscheidung vom 21. November 1990 als 1. Leitsatz voraus: „Ein pornographischer Roman kann Kunst im Sinne von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG sein“. Der Anlass war die Verfassungsbeschwerde eines Verlages, der das Buch Josefine Mutzenbacher, Geschichte einer wienerischen Dirne mit seinen der Kinderpornographie zuzurechnenden Darstellungen von der Indizierung durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften befreien wollte. Beide Gerichte betonten, dass dem Jugendschutz Verfassungsrang zukomme.
Seit diesen Entscheidungen gilt: Wenn einem als pornographisch angesehenen Werk ein hoher Kunstwert zuzuschreiben ist, kann es nicht mehr ohne weiteres eingezogen und damit Erwachsenen vorenthalten werden. Dies kam der Mutzenbacher zugute. Sie war 1982 als schwer jugendgefährdend indiziert worden, und das Bundesverwaltungsgericht hatte die Indizierung bestätigt. Auf Grund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts musste die Indizierung aufgehoben werden, weil die Bundesprüfstelle den Kunstvorbehalt nicht ausführlich mit dem Jugendschutz abgewogen hatte. Die Bundesprüfstelle war nach wie vor der Meinung, sie könne selbst dann, wenn diese Abwägung sachgerecht vorgenommen worden ist, ein pornographisches Kunstwerk indizieren, falls sie den Jugendschutz für geboten hält. Daher setzte sie die Mutzenbacher 1992 erneut auf den Index. Der Verlag klagte dagegen; das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen entschied, dass es sich um ein Werk der Kinderpornographie handle,
dass der Roman den sexuellen Kindesmissbrauch ausführlich und in einer für pornographische Erzeugnisse gebräuchlichen aufreizenden Weise schildere und ihn einschränkungs- und kritiklos verharmlose und verherrliche. […] Der Roman erschöpft sich nahezu – nur wenige Seiten sind hiervon ausgenommen – in einer Aneinanderreihung pornographischer Episoden, an denen Kinder und Jugendliche stets maßgeblich beteiligt sind. Die Hauptfigur der Josefine Mutzenbacher agiert dabei im Alter zwischen 7 und 13 Jahren. Detailreich werden inzestuöse Szenen zwischen Geschwistern sowie zwischen Kindern und ihren Eltern geschildert. Verführung in allen Varianten, gelegentlich aber auch Gewalt, Erpressung und Demütigung durch überlegene Geschlechtspartner (Eltern, Hausbewohner, Soldaten, den Beichtvater, den Katecheten, den Lehrer usw.) gehören zum Alltäglichen des auf das Sexuelle konzentrierten Kinderdaseins. All diese dargestellten Widerfahrnisse und ihr Ergebnis – der Status des Dirnenlebens der Titelfigur – werden stilistisch und inhaltlich in einer Weise gutgeheißen, die Kindern und Jugendlichen kaum ermöglicht, kritische Distanz zu gewinnen.
Das Bundesverfassungsgericht nahm den Fall nicht mehr zur Revision an.
Zuvor − 1991 − hatte die Bundesprüfstelle mich um ein Gutachten gebeten – entsprechend der Auflage des Bundesverfassungsgerichts. Das Gutachten führte aus, dass die „Lebensgeschichte“ der Mutzenbacher schlechtweg schamlos ist und nichts auslässt, was den bürgerlichen und religiösen Moralgesetzen widerspricht. Aber deren Verletzung wird in einer Welt geschildert, die historisch, sozial und psychologisch so gewesen ist. Dies ging aus dem Vergleich des Romanmilieus mit den soziologischen und soziographischen Tatsachen hervor. Die in diesem Milieu angesiedelte, fiktionale Autobiographie ist ein Beispiel dafür, dass unter jenen Bedingungen eine negative Lebenskarriere zwangsläufig wird. Insofern weist das Buch Merkmale des literarischen Naturalismus auf; es unterstellt die Determiniertheit menschlicher Entwicklung. Daher können die grob anstößigen Aspekte auch als Kritik an der Gesellschaft in Wien von 1857 bis 1867 gelesen werden.
Darüber hinaus veranschaulicht der Roman die erst durch die Psychoanalyse erforschten Wechselwirkungen zwischen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen und Sexualverhalten. Er belegt ferner, dass Sigmund Freuds Lehre von der polymorph perversen Veranlagung des Kindes, d.h. dem richtungslosen, vielgestaltigen sowie normen- und wertfreien kindlichen Sexualtrieb, Grundlage einer Romanhandlung sein kann. Auch kann das Buch – wieder im Sinne Freuds – als Auflösung einer infantilen Amnesie gelesen werden, d.h. als das Unternehmen, die Verdrängung aufzuheben, durch die die frühkindliche Sexualität üblicherweise verhüllt wird. Vermutlich ist das Buch im weiteren Kreis um Freud entstanden. Dass es diese Zusammenhänge in einer Lebensgeschichte exemplifiziert, aber die Ursachen und Einzelheiten lediglich bis zum prägenden ersten Tag eines Dirnenlebens vorführt, beweist die Fähigkeit des Autors zu kunstgemäßer Darstellung.
Die Handlung ist folgerichtig aufgebaut, und die Szenen werden milieugerecht entwickelt. Der Verfasser ist bis heute nicht mit völliger Sicherheit bestimmbar. Wahrscheinlich war es der Wiener Literat Felix Salten, der mit der Tiergeschichte Bambi berühmt wurde; dies ist hier unerheblich. Allerdings fällt auf, dass die Dirnen- wie die Tiergeschichte in sozialdarwinistischer Weise einen Kampf ums Dasein und das Überleben des Tauglichsten vor Augen führt.
Zu den literarisch positiven Merkmalen gehören ferner das Vor- und Nachwort der Ich-Erzählerin, das die Darstellung überdenkt – ebenso wie die Reflexionen in der Erzählung, die entscheidende Phasen des Berichts von einer höheren Ebene her betrachten und in denen die Erzählerin sich nicht schont. Sie schildert das heruntergekommene, amoralische Milieu der Arbeiter-Vororte Wiens und die Doppelmoral der „feinen Herren“ aus den gehobenen Wohnvierteln und macht immer wieder die moralische Fragwürdigkeit der Situationen durch Wortwahl oder Diktion deutlich; auch dies trägt zur Relativierung der Drastik bei.
Der Eindruck des Drastischen wird weitgehend von der Sprache für Geschlechtliches verursacht. Sie ist mitunter launig oder burlesk, meist jedoch abstoßend und obszön und stellt die menschliche Intimsphäre überwiegend schlüpfrig, zotig und unter ständiger bewusster Verletzung jedes Schamgefühls dar. Dies entspricht freilich dem Milieu und wird – nach Hochsprache, Soziolekt, d.h. gruppen- und schichtenpezifischer Sprache, und Dialekt unterschieden – vom Autor gekonnt zur indirekten Charakterisierung der Personen eingesetzt. Die Sprache der Erzählerin geht weit über das beschränkte Ausdrucksvermögen hinaus, das sonst die Sprache der Unterschicht kennzeichnet. Wenn man sie durch die Ausdrucksweise der Oberschicht ersetzte, wäre die Schilderung nicht nur entschärft, sondern häufig komisch. Man würde erkennen, dass der gesellschaftlich geduldete Wortschatz ungleich weniger Varianten und Synonyme kennt und auf Tabus, aber auch auf Defizienz, sogar Sprachlosigkeit verweist. Allerdings werden immer mehr Wörter, die bis vor kurzem als anstößig empfunden wurden, mündlich wie schriftlich verwendet, selbst in Urteilsbegründungen. Auch dies gehört zu der gerichtlich festgestellten zunehmenden Akzeptanz.
Die Erfindungskraft der Vulgärsprache ist gerade hier erstaunlich. Das der indizierten Mutzenbacher-Ausgabe beigegebene, von Oswald Wiener zusammengestellte Verzeichnis von Wörtern für Geschlechtliches bringt über tausend Belege der Gossen- und Volkssprache –auch aus dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm. Selbst diese mussten daran erinnern, dass das „wörterbuch kein sittenbuch, sondern ein wissenschaftliches, allen zwecken gerechtes unternehmen“ sei. Georg Queri, der Münchner Schriftsteller, den Ludwig Thoma einen „liebevollen Beobachter und Schilderer seiner Landsleute und ihrer Lebensfreude“ genannt hatte, bedurfte – 1912 – für seine Sammlung „Kraftbayrisch“ der juristischen Verteidiger.
Zurück zur Mutzenbacher: Das Gutachten analysierte den Text wie irgendein literarisches Werk – nach den Regeln des Faches. Es wies nach, dass das Buch, trotz des eindeutig pornographischen Charakters, „der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre dient“; dies ist die Bedingung, dass das Jugendschutzgesetz – in §1 (2) 2. – eine Ausnahme machen muss. Die Bundesprüfstelle indizierte es, wie gesagt, dennoch zum zweiten Male. Das lässt sich mit seinem kinderpornographischen Inhalt rechtfertigen – es gehört nicht in die Hände von Kindern und Jugendlichen. Erwachsenen ist es nach wie vor zugänglich.
Im rechtlichen oder moralischen Sinne zu urteilen, ist nicht Sache des Kunst-Gutachters. Er hat nur über Kunst oder Nichtkunst zu befinden und dies so darzulegen, dass die ästhetischen Kriterien justitiabel werden, d.h. einer rechtlichen Klärung und gerichtlichen Entscheidung dienen. Über den Kunstwert entscheidet nicht der Inhalt, sondern die Erzählweise, die strukturierte Vielschichtigkeit, die Ergiebigkeit und die literarische Innovation. Gegebenenfalls wird man den Grundsatz „in dubio pro reo“ anwenden, d.h. im Zweifelsfall für die Kunst plädieren. Die grundsätzliche Überlegung, was schön und Schönheit sind und bedeuten, steht immer im Hintergrund. Zu ihr gehört freilich die Ästhetik des Hässlichen, die die Moderne kennzeichnet und die eine Möglichkeit der Selbsterkenntnis ist.
Diese Grundsätze sind auf jedes Werk anzuwenden; das erfordern die Sache, die Ehrfurcht vor der wie immer verkleideten Kunst und die Anerkennung, die dem hohen Wert Kunstfreiheit gebührt. Ohne ihn würde ein Staat zur Diktatur. Zugegeben: Wenn eine Gewaltherrschaft fällt, breitet sich auch die Pornographie aus. Aber Freiheit schließt immer Konflikte zwischen unterschiedlichen Werten mit ein. Im Rechtsstaat können sie ausgetragen und fruchtbar gemacht werden.