Können Gesetze der realen Welt auf fiktionale Inhalte angewandt werden?
Zur rechtlichen Bewertung und Zensur von Videospielen
Von Changgun Kim
Videospiele sind eines der meistkonsumierten Medien weltweit. Die Zahl der Gamer betrug 2014 etwa 1,8 Milliarden, der Umsatz der Videospielindustrie überschritt die Marke von einer Billion Dollar – zehnmal so viel wie die von Hollywood im selben Jahr. Innerhalb von 60 Jahren hat sich das Videospiel mit großem kommerziellen Erfolg so als ein Teil der Popkultur etabliert. Lange wurde mit ihm von behördlicher Seite aus in praktisch allen Ländern wie mit Büchern und Filmen umgegangen. Weil Videospiele jedoch immer beliebter und komplizierter wurden und ihr Einfluss auf die Gesellschaft sich vergrößerte, wurde nach und nach ein Zensur-Verfahren ausschließlich für Videospiele aufgebaut.
Überall zeigt sich dasselbe Modell: Alle Videospiele müssen einem institutionalisierten Kontroll- und Zensurvorgang unterworfen werden, ehe sie offiziell im jeweiligen Land bzw. Kulturraum veröffentlicht werden können. Es gibt spezielle Gremien in den jeweiligen Ländern, die für die Videospielzensur zuständig sind. Sie bewerten die Videospielinhalte und bestimmen die Veröffentlichung des Videospiels und die Altersstufe, ab der er es freigegeben wird. Über die Ländergrenzen hinweg arbeiten diese Gremien oft eng zusammen, unterscheiden sich aber dann in der länderspezifischen Umsetzung prinzipiell gemeinsamer Grundsätze. Ihr Vorgehen wiederum beeinflusst die Entwicklung von Videospielen und deren Lokalisierung, d.h. die Art und Weise, in der Inhalte und Darstellungsformen der Spiele für den Verkauf in den unterschiedlichen Ländern variiert werden.
Jedes Gremium hat seine eigenen gesetzlichen Grundsätze, aufgrund derer das Recht der realen Welt auf die fiktionalen Welten der Videospiele angewandt wird. Die Details dieser Grundsätze sind je nach Land und Gremium unterschiedlich, aber allgemein lässt sich feststellen, dass das primäre Ziel immer „Jugendschutz“ ist. Überprüft werden die Videospiele auf Inhalte hin, die jugendgefährdende Faktoren wie Gewalt, Alkohol- und Drogenkonsum, Sex und Erotik, Nacktheit, Kriminalität, Diskriminierung etc. in schriftlicher, akustischer oder bildlicher Form enthalten. Experten mit Fachwissen im Bereich Entwicklungspsychologie und Medienwirkungsforschung und Erfahrung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen suchen dabei nach vermutlich negativen Wirkungen der Videospielinhalte.
Die Kriterien für die Videospielzensur sind generell strenger als die anderer Unterhaltungsmedien wie Bücher und Filme, weil das Videospiel ein interaktives Medium ist. Der Gamer ist ein aktiver Teilnehmer im Videospiel – anders als der Leser und Zuschauer, der ein passiver Beobachter beim Benutzen des Unterhaltungsmediums ist –, sodass die Gefahr als höher eingeschätzt wird, dass der Gamer sein Erlebnis in der virtuellen Welt mit der Realität verwechselt.
Angesichts der immer anspruchsvolleren Gamer und der wachsenden Konkurrenz auf dem Markt investieren umgekehrt die Videospielhersteller immer mehr Zeit und Geld in die Entwicklung. Das RTS-Spiel Starcraft II (Blizzard Entertainment 2010) und das Action-RPG Diablo III (Blizzard Entertainment 2012) wurden beispielsweise jeweils erst zwölf Jahre nach der Veröffentlichung der Vorläufer-Serie auf den Markt gebracht, die Entwicklungskosten des MMOFPS Destiny (Bungie 2014) betragen einschließlich der Marketingkosten ca. 500 Millionen US-Dollar. Videospielhersteller müssen ein möglichst breites Publikum erreichen, um die Entwicklungskosten zu decken und das Budget für die Entwicklung weiterer Videospiele sicherzustellen. Kinder und Jugendliche sind dabei wegen ihres hohen Anteils unter den Gamern wichtige Kunden. die Produzenten bemühen sich daher darum, die Grundsätze der jeweiligen Gremien einzuhalten. Sie hoffen dadurch eine Freigabe für eine möglichst niedrige Altersstufe zu erhalten und so um mehr Gamer werben zu können.
Falls ein Videospielhersteller wegen jugendgefährdender Inhalte ein nicht erwünschtes Bewertungsergebnis bekommt, ändert und beseitigt er die dafür verantwortlichen Momente oft und beantragt die Wiederaufnahme des institutionellen Verfahrens. Die rote Blutfarbe menschenähnlicher Figuren im Kampf und Krieg wird dann beispielsweise durch Grün oder eine andere Farbe ersetzt. Auch das Explizitheitsniveau erotischer und sexueller Darstellungen wird in den landesspezifischen Lokalisationen dem jeweiligen Kulturkreis angepasst. Dafür werden bestimmte Szenen komplett bzw. teilweise geändert. Anstößige und vulgäre Sprache bzw. Schimpfwörter werden angemessen adaptiert. Die bildliche und textliche Darstellung von Tabak-, Alkohol- und Drogenkonsum oder sozialer, geschlechtlicher, religiöser und ethnischer Diskriminierung wird dem regionalen Usus entsprechend korrigiert.„Realitätsähnlichkeit“ und „Kontext“ sind für die Bewertung der Spiele in den Gremien wichtige Argumente. Falls der Gamer in der Spielwelt eine Waffe benutzt, sind folgende Kriterien auf diese Situation anzuwenden: Existiert die Waffe in der realen Welt oder ist sie fiktiv? Benutzt der Gamer diese Waffe gegen bewaffnete Gegner in einer Kriegssituation oder willkürlich gegen Zivilisten in einer Nichtkriegssituation? Sind die Gegner Menschen oder Monster bzw. Aliens? Wie menschenähnlich sind diese Monster und Aliens? Das Bewertungsergebnis ist je nach der Antwort zu variieren. Dass Videospiele immer häufiger keinen Konflikt zwischen Menschen, sondern zwischen Mensch und Monster oder gleich nur zwischen Monstern darstellen, liegt auch daran und zeigt, dass die Bewertungskriterien die Inhalte des Videospiels bereits in dessen Entwicklungsphase beeinflussen.
Das Zensurniveau bezüglich des Jugendschutzes ist je nach Land unterschiedlich. Es gibt oft Videospiele, die den jugendlichen Gamern in den USA zur Verfügung stehen, in anderen Ländern aber ohne Anpassung keine jugendfreie Einstufung erhalten. In diesem Fall kann man sich fragen, ob das Gremium in den USA im Vergleich zu dem der anderen Länder den Jugendschutz vernachlässigt oder ob die Immunität der US-amerikanischen Jugendlichen gegenüber jugendgefährdenden Videospielinhalten stärker ist als die der Jugendlichen in anderen Ländern.
Darüber hinaus werden Inhalte zensiert, die Verstöße gegen das Strafrecht darstellen. Der japanische Videospielhersteller Illusion z.B. ist auf erotische Videospiele spezialisiert. Er entwickelt und veröffentlicht Spiele ausschließlich für Erwachsene, die sexuell explizite Inhalte darstellen. Der Rape-Simulator Rapelay (Illusion 2006) ist ein brisantes Beispiel. Die vom Gamer gesteuerte männliche Hauptfigur belästigt und vergewaltigt Frauenfiguren. Es gab auch früher schon Videospiele, die sexuelle Kriminalakte darstellen, aber die Hauptfigur in diesen war nie der Täter. Der Gamer von Rapelay jedoch kann als Täter im Spiel extreme Kriminalakte wie Vergewaltigung einer Grundschülerin, sexuelle Versklavung, erzwungene Schwängerung und mentale Zerstörung von Frauenfiguren durch wiederholte Vergewaltigung simulieren. Kurz nach dessen Veröffentlichung gab es deshalb heftigen Widerstand vieler Menschenrechts- und Frauenverbände in vielen Ländern gegen die Distribution dieses Rape-Simulators. Rasch wurde seine Distribution im In- und Ausland verboten. Rapelay war zwar nicht als jugendfrei eingestuft, zunächst aber durchaus in einem institutionellen Verfahren zugelassen worden, obwohl es hinsichtlich seines Spielkonzeptes und seiner Inhalte eindeutig eine Simulation sexueller Kriminalakte ist.
Manche Nichtgamer erachten auch Kriegssimulationsspiele als „Mordsimulation“. Videospielentwickler und Gamer sind mit einer solchen Perspektive in der Regel nicht einverstanden. Aber auch die Gamer, die das Konzept und die Inhalte von Rapelay interessant finden, können die Tatsache nicht leugnen, dass dieses Spiel eine Verbrechenssimulation ist.
Neben dem Jugendschutz und strafrechtlichen Aspekten beachten die Gremien auch politische Aspekte wie Gefährdung des Ansehens des Staates oder der religiösen Autorität oder unliebsame Auswirkungen auf Staat, Politik und Gesellschaft. Das deutsche Gremium z.B. geht unabhängig vom Kontext und Darstellungsniveau mit den Videospielinhalten bezüglich des Nationalsozialismus sehr streng um. Der Ego-Shooter Wolfenstein 3D (Apogee Software 1992) stellt die Zeit des Nationalsozialismus dar. Daher tauchen Nazi-Symbole wie Hakenkreuzflaggen im Spiel auf, das nationalsozialistische Horst-Wessel-Lied ertönt. Aufgrund des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen wurde dieses Videospiel gemäß des Strafgesetzbuches zwei Jahre nach der Veröffentlichung bundesweit beschlagnahmt.
Das koreanische Gremium zensiert vermutlich das Staatsansehen und die aktuelle politische Lage negativ beeinflussende Videospielinhalte, die historische, geopolitische und diplomatische Konflikte insbesondere mit Japan und Nordkorea darstellen. Die juristischen Details finden sich im Gesetz über Musik, Filme und Videospiele. Es reguliert die Einfuhr ausländischer Videospiele und unterbindet diese, falls die jeweiligen Spiele den Wert der Verfassung und der Demokratie in Frage stellen und das Staatsansehen verletzen können, falls sie aufgrund der Darstellung gewaltvoller und tabuisierter Inhalte die gesellschaftliche Moralität und Ordnung stören oder falls sie diplomatische Beziehungen, die nationale Identität oder das Wohlergehen des Staats beschädigen können. Der Taktik-Shooter Tom Clancy’s Ghost Recon 2 (Ubisoft 2004) z.B. behandelt einen fiktiven Kriegsausbruch unter Einsatz einer nordkoreanischen Atomwaffe. Da dieser Inhalt die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel vertiefen könnte, wurde die Distribution von Ghost Recon 2 in Südkorea verboten. Es ist aber zweifelhaft, ob solche Zensur ihr Ziel erreichen kann, wenn ihre Distribution nur in manchen Ländern verboten ist, denn die verbotenen Videospiele und deren Inhalte stehen den Gamern in anderen Ländern immer noch zur Verfügung. Unliebsame historische Fakten sind ohnehin nicht zu ändern. Außerdem vertritt das Gremium zwar angeblich die Gesellschaft, seine Entscheidungen entsprechen aber oft nicht dem aktuellen Meinungsbild, weil die Institutionen ihre Grundsätze langsamer revidieren, als dies in der Gesellschaft geschieht.
Es gibt eine ständige Diskussion, ob das Videospiel als eine Art Kunst zu behandeln ist. Allein diese Diskussion beweist bereits, dass das Videospiel zumindest künstlerische Aspekte haben muss. Zudem ist es nicht zu leugnen, dass an der Videospielentwicklung teilnehmende Schriftsteller, Musiker, Grafiker etc. Künstler sind. Jedoch zeigt die derzeitige Videospielzensur, dass das Videospiel z.Z. noch eher als eines industrielles Produkt betrachtet wird, denn die aktuelle institutionelle Bewertung von Videospielen berücksichtigt die künstlerischen und ästhetischen Aspekte des Videospiels in keiner Weise. Die Gremien überprüfen nur die Sicherheit der Konsumenten bei der Bewertung der Videospielinhalte, fast so, als ob die Sicherheitsprüfung eines Autos durchgeführt würde. Während es bei der Sicherheitsprüfung eines Autos jedoch um die körperliche Sicherheit der Fahrer geht, geht es beim Videospiels um die geistige Sicherheit der Gamer.
Diese spielen Videospiele, um eine fiktive Realität zu erfahren. Historische, religiöse und politische Inhalte werden auf Basis der Realität nachgeahnt, stellen aber nicht die echte Realität dar, sondern variieren diese. Um Realität und Fiktion zu unterscheiden, braucht man einen gesunden Geist – und dessen Bildung gilt überall auf der Welt als eine wichtige Staatsaufgabe. Dieses Ziel ist aber nicht durch gesetzliche Regulierung der Inhalte zu erreichen, als ob Gesetze der realen Welt einfach so auf fiktionale Inhalte anwendet werden könnten, sondern allein durch angemessene Bildung in Familie, Schule und Gesellschaft.