Ein Glühwurm

Thomas Kielinger präsentiert mit Winston Churchill einen rastlosen Abenteurer, der zur Identifikationsfigur seiner Nation wurde

Von Detlev MaresRSS-Newsfeed neuer Artikel von Detlev Mares

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich war Winston Churchill bereits frühzeitig ein Held. Als der frisch gewählte Parlamentsabgeordnete der nordenglischen Stadt Oldham im März 1901 im Alter von 26 Jahren erstmals seinen Sitz im Londoner Unterhaus einnahm, hatte er sich bereits als Offizier und Kriegsberichterstatter an mehreren Schauplätzen des britischen Empire einen Namen gemacht. Einen triumphalen Empfang in der Heimat sicherte ihm seine spektakuläre Flucht aus einem Gefangenenlager im Burenkrieg (1899), die er – wie seine vorangegangenen Aventüren auch – rasch in einem Bestseller vermarktete.

Wenn Thomas Kielinger seine Biographie aber mit „Der späte Held“ untertitelt, ist damit selbstverständlich der Premierminister gemeint, der im Zweiten Weltkrieg den Selbstbehauptungswillen Großbritanniens gegenüber der Nazi-Diktatur verkörperte. Dies tat er in der Mitte seines siebten Jahrzehnts nach einem Leben, in dem er sich schon immer vom Schicksal für größere, ja größte Taten vorausbestimmt empfunden hatte. Dieser Anspruch wirkte in manchen Phasen seiner Karriere überzogen – fast schon als persönliche Exzentrik eines Adelssprösslings, dessen Familienerbe nicht in Reichtum, sondern in einem Hang zu Melancholie und Depression bestand. Diesen „schwarzen Hund“ – wie er selbst es nannte – bekämpfte er durch rastlose Aktivität auf vielen Gebieten. Er war mitnichten nur Politiker, sondern Offizier, Schriftsteller und Maler von einigem Talent. In Zeiten politischer Isolierung, von denen sein Leben einige kannte, verschafften die künstlerischen Beschäftigungen seiner schier zügellosen Energie ein Ventil, aber auch das nötige Einkommen für einen großzügigen Lebensstil: Wohlhabend wurde Churchill als Schriftsteller eines umfangreichen historischen Werks, das ihm zudem den Literaturnobelpreis einbrachte.

Kielinger gelingt es, diese vielfältigen Facetten einer Ausnahmepersönlichkeit stimmig als Ausdrucksformen ihrer Aspirationen und Getriebenheiten zu interpretieren. Churchill selbst brachte dies in jungen Jahren gegenüber einer Freundin auf die scherzhaft-tiefgründige Formel: „Wir sind doch alle Würmer. Aber ich glaube, ich bin ein Glühwurm.“

Politik, Malerei und Schriftstellerei dienten dem Selbstdarsteller Churchill alle gleichermaßen als Mittel der „self-expression“ seiner Persönlichkeit, die er einer mal staunenden, mal kopfschüttelnden Gesellschaft aufdrängte. Ob er mehrbändige Biographien seiner Vorfahren oder umfangreiche Darstellungen der Weltkriege schrieb – stets drängt sich zwischen den Zeilen der Verfasser selbst in den Mittelpunkt des Werks. Am Malen schätzte er die „Kühnheit“ des Pinselstrichs auf der Leinwand. Und politisch galt er lange Zeit als Draufgänger – noch kurz vor Antritt seiner ersten Amtszeit als Premierminister charakterisierte ihn sein späterer Privatsekretär John Colville im März 1940 als jemanden, „who is always for ‚action‘ in any form and at all costs“.

Dieses Vorwärtsdrängen weckte Misstrauen beim gediegenen politischen Establishment, das geschult war in langwierigen und vorsichtigen diplomatischen Eiertänzen. Die Vorbehalte wurden nicht geringer durch den außergewöhnlichen doppelten Parteiwechsel, den Churchill vollzog – 1904 von den Konservativen zu den Liberalen, 1924 wieder zurück zu den Konservativen. Kielinger unterschlägt nicht die dabei mitschwingenden opportunistischen Motive, vor allem aber verdeutlicht er die Mehrdimensionalität von Churchills politischer Persönlichkeit, die ihn als Wandler zwischen den Welten politischer Programmatik verstehbar werden lässt. Auch wenn Churchill als Verfechter von Monarchie und Empire in Erinnerung geblieben ist, so verband sich dies bei ihm mit einer paternalistischen Sorge um das Wohl der Arbeiterschaft, die ihn in seiner liberalen Zeit in mehreren Kabinettsposten zu einem Vorreiter sozialstaatlicher Maßnahmen machte. Auch wenn Churchill die persönliche Bewährung im Schlachtengetümmel suchte, so verkannte er nicht die Gräuel der modernen Kriegführung, die er seiner Generation zu ersparen suchte. Er selbst war daher in seiner Zeit als Finanzminister (1924-1929) mitverantwortlich für die Einsparungen bei den Rüstungsausgaben, die Großbritannien so unvorbereitet wirken ließen, als Adolf Hitler die Nachkriegsordnung aus den Angeln zu heben begann.

Das gängige Churchill-Bild betont meist den weitsichtigen Mahner, der in den 1930er-Jahren die Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler als Kardinalfehler der britischen Politik geißelte. Doch selbst in dieser Zeit finden sich abwägende Äußerungen, die den Eindruck erwecken, Churchill suche sich geradezu selbst zu überzeugen, dass Hitlers Politik nicht auf die Katastrophe eines Krieges zusteuere. Doch einmal im Amt des Kriegspremiers angekommen, hatte er endlich die Chance, seinem Drang nach historischer Größe gerecht zu werden. Unermüdlich trieb er die britischen Verteidigungsanstrengungen unter größtmöglichem persönlichem Einsatz an: „Action this day“ lautete die vielfach gebrauchte Devise auf den Anweisungszetteln, mit denen er seine Mitarbeiter auf Trab hielt. Seine historische Bedeutung, die ihm einen heldenartigen Status sicherte, liegt für Kielinger in der erfolgreichen „Schlacht um die Seele Englands“ – der Einschwörung seiner Landsleute auf die unermüdliche Kriegsanstrengung. Dies gelang ihm nicht zuletzt durch eine grandiose Rhetorik. Seine Kriegsreden aus dem Jahr 1940 gelten bis heute als oratorische Meisterleistungen, die das Motiv des aufrechten, unbeugsamen Inselvolks im Kern britischer Identität verankerten. Kielinger weist aber darauf hin, dass viele Zeitgenossen Churchills politische Sprache bis in seine Amtszeit hinein als „rhetorischen Overkill“ bespöttelten; erst die Grenzsituation des Krieges ließ seine übersteigerte „Alarmrhetorik“ mit einem Mal zeitgemäß wirken.

Auch Fehlurteile und Fehlschläge verschweigt Kielinger nicht. Das Dardanellen-Desaster im Ersten Weltkrieg, das zu seinem Rücktritt als Marineminister führte, traumatisierte Churchill bis in die Entscheidungen des Zweiten Weltkriegs hinein, auch wenn er für die 1915 getroffenen Fehlentscheidungen keineswegs allein verantwortlich war. Doch während des Zweiten Weltkriegs zeigten sich Schwankungen im politischen Urteil sowie Grenzen der Durchsetzungsfähigkeit beim Premier eines Landes, dessen weltpolitische Bedeutung zu schrumpfen begann. Getrieben vom unbedingten Siegeswillen stellte Churchill ernsthafte Überlegungen zum Einsatz von Giftgas an und ließ deutsche Städte bombardieren, obwohl der militärische Nutzen oft fraglich war. Seine Südstrategie, über Italien und Slowenien in den Norden vorzustoßen, konnte er weder bei seinen Verbündeten noch bei seinen Generälen durchsetzen. Die Maßnahme war bereits zur Eindämmung der Sowjetunion gedacht, die ihm gegen Kriegsende als neue Gefahr für Europa erschien. Sogar einen Kriegszug gegen das Reich Stalins unmittelbar nach der deutschen Kapitulation fasste Churchill ins Auge – erneut mussten ihn seine Stäbe davon überzeugen, dass die erschöpften Ressourcen dies nicht mehr erlaubten. Mit tiefem Missbehagen erfüllte ihn der Umstand, dass Polen – dessen Befreiung von der Nazi-Tyrannei den Beginn des Weltkriegs markiert hatte – nun hinter einem „Eisernen Vorhang“ verschwand. Gleichzeitig hegte Churchill in seiner zweiten Amtszeit als Premierminister (1951-1955) die illusorische Hoffnung, durch sein weltweites Ansehen eine Ära des Friedens zwischen den Blöcken einleiten zu können. Während er sich solchen weltpolitischen Visionen hingab, wartete seine Partei bereits ungeduldig auf den politischen Abschied des siechen Relikts einer vergangenen Epoche. Zum Rücktritt musste er regelrecht gedrängt werden.

Kielinger gelingt das überzeugende Porträt eines „Manns der Kontraste“, der den Luxus liebte, gleichzeitig aber Härten und Entbehrungen suchte, der die Schrecken des Krieges verabscheute, aber als oberster Kriegsherr einer Nation aufblühte, der die Tyrannei bekämpfte, selbst aber durchaus herrische Züge trug. Nur angedeutet wird die verstörende Tatsache, dass Churchill in seinem Drang nach „self-expression“ in manchem seinem Todfeind Hitler ähnelte. Sebastian Haffner meinte dazu 1967 in seiner Churchill-Biographie, „beide gingen, jeder in seiner grundanderen Art, in gewissen Richtungen an äußerste Grenzen, verkümmerten in den gemäßigten Zonen, wo andere gedeihen, und lebten erst auf, wo anderen die Luft ausgeht.“ Der grundlegende Unterschied zwischen beiden wird in Kielingers glänzender Studie aber deutlich: Trotz aller Machtfülle, die sich der Feldherr Churchill anzueignen suchte, rüttelte er nie an den Grundpfeilern der britischen Demokratie. Selbst während des Krieges nahm er es hin, sich im Parlament einem Misstrauensvotum stellen zu müssen. Churchill sah die ihm vom Schicksal zugewiesene Aufgabe darin, die Welt vor der Götterdämmerung zu bewahren, in die sein diktatorisches Gegenüber sie trieb. In diesem Moment fanden seine „self-expression“ und die Sehnsüchte seiner Nation nach einer Heldenfigur an der Regierungsspitze zusammen. Nur diese Konstellation ermöglichte es dem Glühwurm, so spät noch so hell zu leuchten.

Titelbild

Thomas Kielinger: Winston Churchill. Der späte Held. Eine Biographie.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
400 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783406668890

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