Heinrich Bölls jüngerer Bruder

Zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Dieter Forte am 14. Juni

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

„Manchmal denke ich, ich bin ein Fremder auf dieser Welt“, bekannte der Schriftsteller Dieter Forte 1998 in einem Interview. Sein großes literarisches Sujet stellt sich tatsächlich quer zum Zeitgeist: Die seelischen Verwundungen der Nachkriegszeit, die unsichtbaren Narben und Traumata, die durch Hunger und totale Zerstörung des Lebensraumes ausgelöst wurden, hat Forte zum Thema seiner vier großen Romane gemacht, die seit 1992 erschienen sind.

Zuvor hatte er reichlich Bühnen- und Fernseherfahrung gesammelt, in den frühen 1960er- Jahren am Düsseldorfer Schauspielhaus bei Karl-Heinz Stroux und danach als Regieassistent beim NDR-Fernsehen unter der Ägide von Egon Monk. Sein großer künstlerischer Durchbruch gelang ihm 1970 mit dem in Basel uraufgeführten Theaterstück „Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung“, das in der Folge auf mehr als 40 Bühnen inszeniert wurde.

Dieter Forte, der vor 80 Jahren in Düsseldorf geboren wurde und nun schon seit mehr als 40 Jahren in Basel lebt, hat in den 1970er- und 1980er-Jahren vor allem Theaterstücke (er war fünf Jahre Hausautor des Basler Theaters) und anspruchsvolle Fernsehspiele verfasst. Der brillante Romanautor Forte ist eine Entdeckung der 1990er-Jahre, als er mit seiner opulenten semi-autobiografischen Romantrilogie – bestehend aus „Das Muster“ (1992), „Der Junge mit den blutigen Schuhen“ (1995) und „In der Erinnerung (1998)“ – bei Kritik und Publikum auf eine äußerst positive Resonanz stieß.

„Dem Jungen fiel das Atmen schwer. Ein Zustand, der Tag und Nacht anhielt. Er lag in einer Ecke des Kellers und las, lag in einer engen Bücherhöhle, las alle die Bücher, die die Familie für ihn gesammelt hatte, aus zerstörten Häusern und Kellern und von der Straße“, heißt es im Roman „Der Junge mit den blutigen Schuhen“. Hinter diesem Heranwachsenden darf man den seit frühester Jugend asthmakranken Dieter Forte vermuten. Der totalen Zerstörung, dem unendlichen individuellen Leid setzt er immer wieder gekonnt Naturbilder entgegen, die eine Art Licht am Ende eines dunklen Lebenstunnels symbolisieren. Diese scheinbaren Antagonismen gehören in Fortes Oeuvre zu einem prägenden Stilmittel. So heißt es im 1998  erschienenen Roman „In der Erinnerung“: „Wieder ein Sonnenaufgang, wieder ein Hoffnungsschimmer.“ Doch danach wird die Hauptfigur mit Brachialgewalt abrupt auf den Boden der bedrückenden Realität zurückgeholt: „verglühte Kirchenschiffe, die Silhouette einer untergegangenen Stadt mit ihren schroffen Konturen“.

Sein erzählerisches Meisterwerk legte Forte 2004 mit seinem Roman „Auf der anderen Seite der Welt“ vor, dessen Handlung in den frühen 1950er-Jahren angesiedelt ist, in einer Zeit, als die Waffen längst schwiegen, als emsig der Wiederaufbau betrieben wurde, aber im gesellschaftlichen Abseits noch immer der Tod unbarmherzig zuschlug. Ein asthmakranker Jugendlicher, der sich in einem Lungensanatorium auf einer Nordseeinsel befindet, steht im Mittelpunkt des Romans. Anders als in Thomas Manns „Zauberberg“ wird bei Forte keine philosophische Konversation betrieben, hier werden die letzten Sätze geröchelt, Lebensbeichten herausgestöhnt, hier gehen durch den Krieg gekrümmte Lebenslinien zu Ende – nicht im mondänen Schicki-Micki-Ambiente, sondern in der von kräftigen Stürmen zerzausten Inseleinöde. Die von Forte im Roman geschilderte Klinik kommt wie eine Wartehalle des Todes daher, nicht zufällig befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Friedhof.

Sein bisher letztes Erzählwerk („Das Labyrinth der Welt“, 2013) präsentiert eine Mischung aus Essay, Erzählung, Autobiografie, philosophischen Sequenzen und unaufgeregter Liebeserklärung an seine Wahlheimat Basel. Dieter Forte gehört noch immer zu den unterschätzten deutschsprachigen Gegenwartsautoren. Den einen oder anderen Preis hat er zwar erhalten, aber die bedeutenden literarischen Auszeichnungen gab es für ihn noch nicht. Er ist fraglos Büchner-Preis-würdig, und auch die Stadt Köln dürfte für den Heinrich-Böll-Preis kaum einen adäquateren Preisträger finden können. Die gemeinsame rheinische Herkunft, die thematischen Analogien und die Affinität zur Erzählperspektive aus dem Blickwinkel der ‚Verlierer‘ lassen uns Dieter Forte heute wie einen jüngeren Bruder Heinrich Bölls erscheinen.

Lesetipp:

Dieter Forte: Das Labyrinth der Welt. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2013, 264 Seiten.