Der lange Gang der Ewigkeit

Eine Erzählung Christine Lavants offenbart die Seele eines Kindes

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Kinder sind Philosophen“, versichert der Titel eines vor einem Vierteljahrhundert erschienenen Sachbuches von Hans-Ludwig Freese. Sein Autor könnte sich bei der Lektüre von Christine Lavants fast weitere 50 Jahre zuvor erstmals erschienener Erzählung „Das Kind“ literarisch bestätigt fühlen. Denn die Reflexionen der Titelheldin sind in ihrer gar nicht so naiven Kindlichkeit bisweilen durchaus von philosophischer Qualität. So etwa, wenn sie darüber sinniert, dass es ihr „nie ohne seltsame bittere Furcht möglich“ ist, manche Dinge „bis ganz zu Ende zu denken“, oder wenn sie räsoniert, es lasse sich eigentlich nicht sagen, „dass der Teufel ein böser Mensch wäre“.

Damit ist zugegebenermaßen zwar nur der von ihr und den anderen kleinen PatientInnen insgeheim bei diesem wenig schmeichelhaften Namen genannte Hausmeister des Krankenhauses gemeint, in dem die Protagonistin über die gesamte Erzählung hinweg untergebracht ist. Aber auch für das Seelenheil des ‚wirklichen‘ Teufels, den in der Hölle, würde sie beten. Überhaupt spricht das Mädchen oft Gebete, von denen es eines ganz besonders liebt, denn es scheint ihr „schön wie ein Samtkleid“. Doch droht sie dem lieben Gott in ihrer Enttäuschung auch schon mal, „ins Wasser“ zu gehen, vorher aber noch „alle Todsünden“ zu begehen. Und da selbst der schier gottgleiche „Primariusdoktor“ der Heilanstalt – und damit, so lässt sich bei der Lektüre denken, Gott selbst – ungerecht ist, nun aber doch „nur Gerechte in das Himmelreich eingehen, dann – dann muss Er ja in die Hölle kommen“, stellt das Mädchen erschrocken fest.

„Das Kind“ ist neben dem „Wechselbälgchen“ Lavants zweite Erzählung, in dessen Zentrum ein Mädchen steht. Anders als jene ist sie diesmal jedoch ganz aus der Perspektive des vermutlich kleineren, jedenfalls aber „stark kurzsichtigen“ Kindes  erzählt, das noch in einer halben Märchenwelt voller Feen und Engel lebt, in der etwa die Gefahr besteht, beim Durchschreiten einer Glastür, „zu lauter Eichkatzen oder Wildschweine verwandelt“ zu werden. So leidet es „stets“ an einer „irgend gearteten Furcht“.

Weder spricht die Autorin mit einer ihr eigentlich fremden, dem Kindlichen entliehenen Stimme noch zwingt sie ihrer Protagonistin eine Sprache Erwachsener auf, die nur kindlich erscheinen soll. Vielmehr schenkt sie ihrer Figur eine innere Stimme, die das glaubwürdige Bild eines kleinen, von seinem Dasein ziemlich geschundenen Kindes voller eigener Gedanken evoziert. Nur selten einmal greift eine allwissende Erzählinstanz erläuternd und bewertend in den inneren Monolog des namenlosen Kindes ein. Dass etwa eine Frau, die vergeblich versucht, das Mädchen in seinem Leid zu trösten, selbst an einer Krankheit leidet, von der sie nicht weiß, dass sie unheilbar ist, kann der Getrösteten nicht bekannt sein. Seinerseits ist das Kind voller Empathie für Menschen und Dinge. Freut es sich darüber, dass „eine ganz ganz große, wunderbare Sonne gekommen“ ist, denkt es doch sogleich mitfühlend an den Regen, der jetzt bestimmt „sehr traurig“ sei, „weil er fort hat müssen“.

So lebt das an offenen, nicht verheilenden Wunden im Gesicht leidende Kind einerseits in einem Krankenhaus, andererseits aber auch in einer Gedanken- und Wahrnehmungswelt, in der Türen womöglich bis zum Rand des Himmels reichen und der lange Krankenhausflur zu einem „Gang“ wird, „der wie die Ewigkeit ist“. Lavant öffnet den Lesenden diese Welt und lässt sie eintreten. Auch Wunder sind dort keineswegs ausgeschlossen. Jedenfalls, „wenn man bloß brav genug ist und richtig warten kann.“

Ein besonderes Verhältnis hat das Mädchen zu dem „Wasserkopf-Bub“, der ihm manchmal „der Einzige“ ist, „mit dem man was reden möchte“. Vielleicht ist er sogar noch ärmer als sie selbst „und verspotten tut er einen auch nicht“. Allerdings argwöhnt sie, dass er, wenn er nicht „schwer reden“ würde, vielleicht „auch bloß Spottgedichte sagen“ würde, gerade so wie die „Schulbuben“ es tun. Auch hätte er nicht auf den eh schon derangierten Ball treten müssen, „aber die Buben sind alle so, auch wenn sie einen Wasserkopf haben“. Hier wie dort, bei den spottenden Schulbuben wie bei dem zertretenen Ball, wird das Missverhalten mit dem in beiden Fällen männlichen Geschlecht der Übeltäter in Verbindung gebracht. 

So traurig sein Dasein in der Heilanstalt auch ist, am Ende der Erzählung wird das Kind von Mutter und Schwester nach Hause geholt. Alles scheint ihm nun gut, und der Liebe Gott doch gerecht.

In einem Nachwort spürt der Editor der Neuausgabe Klaus Amann Fährten nach, die von der Erzählung zur Biographie ihrer Autorin führen, und erläutert stichhaltig, warum die vorliegende Edition nicht auf die Erstausgabe von 1946 sondern auf Lavants Manuskript zurückgreift.

Titelbild

Christine Lavant: Das Kind.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Klaus Amann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
86 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783835316720

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