Die Provokation des Lesens

Über Philipp Felschs grandiose Geschichte der Theorie

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bibliotheksmitarbeitern waren Bücher aus dem Merve Verlag ein Grauen: Schlechte Bindung und qualitativ fragwürdiges Papier sowie hohe Reibungsverluste bei häufiger Ausleihe machten aus Merve-Büchern in allzu schneller Zeit Altpapier. Die kleinen Bücher waren nichts für bibliophile Archivräte. Studierenden der Philologien waren Bücher aus dem Merve Verlag hingegen eine Offenbarung: Erschwinglich wurde die Arbeit am Text, die Qualität des Papiers war eine zu vernachlässigende Größe und auf Anschaffungsvorschläge reagierte die Universitätsbibliothek mit eisernem Schweigen.

Mit Philipp Felschs Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990 liegt nun eine plausible Erklärung für die Widerständigkeit der Gralshüter bibliophilen Wissens vor. Affinität zur Theorie war (und ist) eine implizite Widerstandserklärung. Widerstand gegen das akademische Establishment, gegen die Kathederkultur der Philosophie, gegen die bürgerliche Differenz von Arbeit und Leben.

Lesen, auch das theoretischer Schriften, ist Felsch zufolge weitaus mehr als der Konsum eines unter medialem Konkurrenzdruck stehenden Mediums. Lesen ist eine Haltung. Wer  Michel Foucaults Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 liest und danach der Geliebten/dem Geliebten sein oder ihr Begehren offenbaren will, muss sich als Mitwirkende/r am neuzeitlichen „Wahrheitsregime“ betrachten, das Wahrheiten über Personen qua Begehrensausforschung produzieren will. Kein Ausweg, nirgends. Niklas Luhmanns „Liebe als Passion“ kann dann auch nicht wirklich weiterhelfen. Aber das erschien ja auch erst in den 1980er-Jahren.

Woher diese Begeisterung für die „theoretische Praxis“ (Louis Althusser) des Denkens, ja die lebensweltliche Bedeutsamkeit von Theorie gekommen ist, erzählt Philipp Felsch auf packende Art und Weise. Die Geschichte beginnt, wie fast alle großen Geschichten, mit einem Zufall. Eine ideengeschichtlich orientierte Zeitschrift fragt den Berliner Juniorprofessor für einen Beitrag zur Geschichte des Merve Verlags an. Eine Anfrage, die unmöglich negativ beantwortet werden konnte; zumal dem Historiker Felsch das Glück des Vorlasses hold war: Peter Gente, Gründer des Merve Verlags, hatte jüngst sein Archiv dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe verkauft. Ein Blick in die unsortierten Bestände offenbart das Archiv des Merve Verlags als „Archiv eines epischen Leseabenteuers“.

Und doch ist das Buch von Felsch weitaus mehr als die Geschichte des Merve Verlags. Im Buchuniversum der Theorie ist dieser zwar ein Fixstern, doch das schwarze Loch, aus dem dieses Universum entstand, ist die Erfindung des Taschenbuchs. Felsch veranschaulicht diese ungeheure kulturelle Energie, die die Möglichkeit bot, jederzeit ein Buch in der Tasche mit sich zu tragen, am Beispiel des „Verhältnisses“ von Peter Gente zu Theodor W. Adornos Minima Moralia. „Verhältnis“ ist fast zu abstrakt formuliert, vielmehr scheint es sich um eine Art „Beziehung“ zu einem Buchgegenstand gehandelt zu haben. Denn Adornos finstere, dabei aber doch so klare Einsichten in die Aussichtslosigkeit waren für den Leser Peter Gente ein ständiger Begleiter – treu, immer offen für neue Einsichten, gleichzeitig aber auch herausfordernd für das eigene Leben.

Diese Umgehensweise Peter Gentes mit Büchern entspricht der Methode Felschs. Für ihn geht es nicht primär um Inhalte, sondern um „Lesarten und Gebrauchsweisen“. Erst nach der Lektüre des Buches erkennt der Leser, dass dies überaus wörtlich gemeint ist. Denn ‚Lesarten‘ heißt bei Felsch nicht, den Streit der Interpretationen zu entfachen. Es geht, sehr immanent und materiell, darum, wie, wann und wo gelesen wurde, und nicht darum, wer was warum gelesen hat.

Das Buch ist eine einzige Blütenlese. Es setzt aber auf eine aufregende Art und Weise andere Akzente als die in der letzten Zeit erschienenen Bücher zum Abenteuer des Lesens und der Theorie – wie beispielsweise Helmut Lethens Auf der Suche nach dem Handorakel  oder Ulrich Raulffs Wiedersehen mit den Siebzigern. Wohingegen Lethen und Raulff Zeitgenossenschaft im Medium ihrer Lektüren und anhand der Materialität ihrer Bücherregale inszenieren, geht es Felsch um mehr: um eine intellektuelle Geschichte der siebziger Jahre in praxeologischer Absicht.

Der Merve Verlag, seine institutionelle Geschichte und die Geschichte seiner Protagonisten gibt jene Folie, vor deren Hintergrund die Konturen und Konjunkturen der 1970er-Jahre scharf hervortreten: Die Ablösung des 68er-Kanons mit seinen Lichtgestalten Marx, Marcuse und Benjamin durch den französischen Poststrukturalismus, die Erstarrung der marxistischen Ideologie, die Etablierung einer Theorieszene, die keine Klasse sein wollte und noch kein Milieu, die unglaubliche Relevanz von theoretischen Begriffen nicht für das akademische Leben und schließlich die schlichte Tatsache, dass es wohl nie wieder ein Jahrzehnt geben wird, das Bücher so sehr ins Gespräch gebracht hat. Über den Umweg der  Lektüren geraten so jene Verhaltensweisen, Wissensbestände und kulturellen Politiken in den Blick, die ein Jahrzehnt erst lesbar machen.

Felschs Buch ist daher in einem Kontext mit der Konstanzer Habilitation von Sven Reichardt zu sehen, die 2014 unter dem Titel Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren bei Suhrkamp erschienen ist. Der  Merve Verlag ist sicherlich – zumindest in seinen Anfängen – ein Paradebeispiel für die „Alternativökonomie des Projekts“ (Reichardt). Felsch sucht aus diesem Grund die Orte auf, an denen die Bücher (und manchmal auch ihre Autoren) lesbar gemacht wurden: Kreuzberger Hinterhöfe, Schöneberger Kneipen, akademische Institutionen wie Universitäten und Kunsthochschulen, S-Bahnen. Protagonisten des theoretischen Jahrzehnts wie Michel Foucault und Roland Barthes treten als Berlin-Besucher auf, Jacob Taubes in seiner Lesewut und Schreibhemmung wird als Alter Ego von Peter Gente erkennbar, Adorno tritt in neuer Gestalt als Lese- und Lebensberater der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit auf.

Besonders unterhaltsam ist die Schilderung eines Seminargesprächs an der Freien Universität in Berlin, in der Norbert Bolz als spöttischer Allzeitironiker auftritt, der die Routinen des Seminargesprächs durch fortlaufende Boshaftigkeit unterläuft. In wunderbaren Geschichten erschließt sich dem Leser so ein Jahrzehnt, das Felsch konsequenterweise mit der Wiedervereinigung enden lässt. Felschs Stil ist von einer schwebenden Leichtigkeit, der der Komplexität der Materie nichts nimmt und den Leser auf eine Reise durch die 1970er- und 80er-Jahre mitnimmt.

„Die Zukunft der Theorie ist ungewiss“. So lautet der letzte Satz des Buches. Als Stil, als Haltung ist die Zukunft der Theorie sicherlich ungewiss. Aber sicher ist, dass Bücher wie das von Felsch durch ihre Erinnerungsarbeit an dem, was Theorie einmal war, gleichzeitig zeigen, was Theorie sein könnte. Das Buch ist eine Erinnerung an die Zukunft der Theorie.

Titelbild

Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
326 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783406668531

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