Die Wahrheit ist zumutbar

Ruth Schweikert, Jahrgang 1964, legt in ihrem Roman „Wie wir älter werden“ für eine Generation Rechenschaft ab

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Fragen nicht beantwortet werden, bleibt nichts anderes übrig, „als sich die Geschichte selber auszudenken“. Das kennt Kathrin aus Erfahrung. Die Mutter wollte ihr nie Genaues über Vaters Abwesenheit mitteilen – damals, als sie vier war. Gerade deshalb ist sie ihr als Rätsel in Erinnerung geblieben. Doch das ist nicht das einzige Geheimnis, worüber in ihrer Familie seit jeher geschwiegen worden ist. Kathrin ist die Tochter von Jacques und Friederike Brunold. Mit zur Familie gehören zwei Brüder – und zwei Halbschwestern. Sabine und Iris sind als Töchter von Emil und Helena Seitz aufgewachsen. Jahrelang hatten sie keine Ahnung davon, dass Jacques ihr richtiger Vater ist. Das ist der skandalöse Knoten in diesem familiären Verhängnis. Jacques und Helena haben auch nach ihrer anderweitigen ehelichen Verpflichtung die alte Liaison aufrechterhalten: jeweils montags zu Monatsbeginn, pünktlich um 18 Uhr. Als sich diese nicht länger verheimlichen ließ, schlossen die beiden Ehepaare einen „Pakt des lebenslangen Schweigens zum Schutz ihrer Kinder“, damit sie in intakten Familien aufwachsen würden. Wissend und unwissend strickten fortan alle an einem dicht verwobenen Geflecht von Lügen und Schummeleien.

Zehn Jahre nach ihrem letzten Roman Ohio unterzieht Ruth Schweikert in ihrem neuen Buch zwei Familien einer Selbstbefragung. Die Autorin lichtet das Lügengewebe Zug um Zug, indem sie aus den Blickwinkeln von Kathrin und Iris erzählt, wie sie als Kinder irritiert und trotzig etwas von dem belastenden Geheimnis erahnten, das ihre Eltern zu verheimlichen suchten. Früh schon hatte sich Iris entschieden, dass sie selbst nie so leben wolle wie die Eltern, zumindest „nicht auf diese verlogene Weise“. „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ lautete damals, in Anlehnung an Ingeborg Bachmann, das Bekenntnis ihrer Liebe zu Fränkie, als sie gemeinsam Schultheater spielten: Georg Büchners Dantons Tod. „Einander kennen?“, fragt darin der Revolutionär: „Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“ Was aber wusste Iris über ihre Schwester Miriam, die damals einfach aus dem Haus ging, um draußen in der Nacht mit einer Überdosis zu erfrieren?

Miriam hinterließ eine traurige Erinnerung und ein Tagebuch, dessen Eintragungen von ihrer vielfältigen Begabung zeugten. Erst viel später entdeckt Irisʼ Sohn Brennan, dass es sich dabei nicht um kongeniale Ideen, sondern bloß um kluge Zitate, zum Beispiel von Max Frisch, handelte. Miriams Tod ist dennoch eine Leerstelle geblieben, über die innerhalb der Familie genauso wenig gesprochen wurde wie auf Kathrins Seite über Vaters einstige Abwesenheit. Dieser Gefängnisaufenthalt wegen diffus bleibender Delikte wurde der kleinen Kathrin mit einem Sprachaufenthalt erklärt.

Die Wahrheit ist zumutbar, doch wäre „totale Transparenz“ nicht eine Schreckensvision? Und besitzen Lügengeschichten nicht auch einen erzählerischen Reiz? „Ihr könntet einen noch in die Lüge verliebt machen“, heißt es in Dantons Tod.

Einer assoziativen Spur folgend spielt Ruth Schweikert in ihrem Text souverän mit der zeitlichen und räumlichen Ordnung. Sie schildert die turbulenten Verhältnisse im Familienleben von Iris und erzählt von Kathrins beruflicher Arbeit als Journalistin, sie erinnert an den unerklärlichen Tod der Schwester Miriam und beobachtet, wie der älter gewordene Jacques zu Helena zieht und dann doch wieder zu Friederike zurückkehrt. Die beiden Patchworkfamilien verzweigen sich über die halbe Hemisphäre von Saanau im Schweizer Mittelland bis Albuquerque/New Mexico.

Die vertrackte Familienstruktur fordert der Lektüre anfänglich etwas Geduld ab, bis sich die komplex versponnenen Lebensfäden klären und entwirren. Als cleveres Hilfsmittel setzt Schweikert dabei Zeitangaben, Daten und Jahreszahlen ein. Sie sind die Armierungsanker, mit denen sie die losen Geschichten gegenseitig und aneinander befestigt. Die Autorin erweist sich geradezu als Zahlenmystikerin, darin ist sie mit Kathrin verwandt. Diese mag Sudoku, weil das Zahlenspiel „nur eine einzige Lösung“ kennt. Mit der einen Zahl ließe sich das Zufällige bändigen, glaubt sie: „Sie hatte eine Weile gebraucht, bis sie dem Unbehagen auf die Spur kam, das sie beim Schreiben am meisten umtrieb; der Zufall, das Zufällige, das jedem Text innewohnte“. Das Chaotische und Ungeregelte findet im Netz der Zahlen einen Halt und setzt die zahlreichen Figuren miteinander ins untrügliche Verhältnis.

So gewinnt die komplexe Erzählstruktur mit zunehmender Lektüre spürbar an Kraft und Intensität. Indem wir eintauchen ins Labyrinth der Heimlichkeiten und Lebenslügen, offenbart das Buch seine größten Qualitäten. Trotz der verschachtelten Konstruktion erzählt es zupackend, schlicht und mit starker Empathie. Damit gelingen der Autorin immer wieder berührend schöne Momente. Die Figuren erwachen zu Lebendigkeit mit all ihren Schwächen und Stärken, Hoffnungen und Enttäuschungen. Keine kommt dabei ungeschoren davon, doch die Autorin hält unverbrüchlich zu ihnen.

Ruth Schweikert will nichts beschwichtigend abrunden, sondern das Gefüge einer modernen Patchworkfamilie zwischen Anpassung und Rebellion offenhalten. Das ist stilistisch konsequent und gekonnt durchgeführt. Kathrin – mit Jahrgang 1964 so etwas wie Schweikerts Alter Ego – hat vor Jahren an einem Theaterstück mitgearbeitet, das dem Regisseur wegen seiner Stofffülle zu entgleiten drohte. Sie bündelte die Fülle, indem sie sich auf drei Personen konzentrierte. Mit ihnen wollte sie den Versuch wagen, „Bilanz zu ziehen oder gar Rechenschaft abzulegen, vor sich selbst, und in gewisser Weise auch vor dem Publikum“. Eine solche Bilanz zieht auch dieser Generationenroman.

Es lässt sich einwenden, dass etliche Erzählfäden und biographische Anekdoten allzu locker ins Textgewebe eingeflochten sind oder lose an den Seiten heraushängen. Im Fall des tschetschenischen Arztes Timur Bezgiav, dessen Asylgeschichte zu Beginn resümiert wird und nachher keine Erwähnung mehr findet, mag dieser Einwurf mit Recht geschehen. Andererseits geht es Ruth Schweikert nie darum, ihre Familiengeschichten über drei Generationen hinweg zu einem kunstvollen Ganzen abzuschließen. Ihr Roman bildet – die Form folgt dem Inhalt – ein lockeres, im Endeffekt dennoch schlüssiges Gebilde, worin sich ein Ganzes gebrochen spiegelt. Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, doch die eine und einzige Liebes- und Lebenswahrheit findet sich in diesem Buch gerade nicht.

Titelbild

Ruth Schweikert: Wie wir älter werden. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
271 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783100022639

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